Protocol of the Session on November 16, 2006

Vielen Dank.

(Beifall der SPD)

Das Wort hat Frau Abgeordnete Thelen.

Sehr geehrter Herr Präsident, meine Damen und Herren! Wir haben eine sehr engagierte Wertedebatte wahrgenommen. Wir können im Prinzip bei dieser Wertedebatte weitermachen.

Es geht um den Schutz der Menschenwürde für kleine Kinder, junge Menschen. Diese Würde des Menschen steht unter dem besonderen Schutz des Staates.

Allein die Tatsache, dass sie in Privathäusern, in Familien stattfindet, kann nicht dazu führen, dass wir uns diesem Schutz dieser hilflosen und auf den Schutz des Staates angewiesenen Kinder verweigern. Wir müssen tätig werden.

(Beifall der CDU)

Wir haben gehört, in welch großem Einvernehmen man begrüßt, dass es Modellprojekte gibt und man versucht, diejenigen, die mit Kindern zu tun haben, zu vernetzen, um ihnen zu helfen, um – ich sage einmal – die dramatischen Situationen, die es in den Familien gibt, früher zu erkennen.

(Zuruf der Abg. Frau Kohnle-Gros, CDU)

Das ist alles gut und richtig. Aber ich sage Ihnen, ich bin ein Stück enttäuscht über diese Art der Zögerlichkeit, mit der man diese Probleme angeht.

(Beifall der CDU – Frau Kohnle-Gros, CDU: Sehr richtig!)

Die Fakten, die zunehmend aufgedeckt werden, besagen, dass tagtäglich in Deutschland Kinder misshandelt werden, es Todesfälle gibt, die zum Teil deshalb gar nicht als Folgen von Kindesmisshandlungen festgestellt werden, weil die Zahlen der Obduktionen in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern recht dürftig ausgeprägt sind.

Dann lese ich vom Bundesrat – mir ist sehr wohl bewusst, dass dort sehr viele CDU-Ministerpräsidenten sitzen –, dass man erkennt, wie wichtig beispielsweise Früherkennungsuntersuchungen sind, um Indizien und Anhaltspunkte für Vernachlässigungen von Kindern zu erhalten.

Man ist aber nicht bereit, wirklich Konsequenzen zu ziehen und entschlossen zu handeln. Man schiebt es ein Stück auf die Krankenkassen, die ein Einladungssystem etablieren sollen, um dann festzustellen, wenn jemand dieser Einladung nicht nachkommt, ob man dann nicht doch einen Anhaltspunkt hat, dass die besondere Gesundheitsfürsorge der Kinder nicht im nötigen Maß in Anspruch genommen wird.

(Frau Kohnle-Gros, CDU: Die kommen auch nicht auf Einladung! – Zuruf des Abg. Dr. Rosenbauer, CDU)

Man ist dann auch bereit – auch wenn Sie sagen, Sie wollten keine gesetzliche Verpflichtung für die Früherkennung –, Rechtsgrundlagen zu schaffen, damit ein solches Einladungssystem funktioniert. Man ist auch bereit, den Datenschutz so zu ändern, dass dann die Kassen in der Lage sind, den Jugendämtern Mitteilung zu machen, wenn Eltern einer solchen Einladung zur Früherkennungsuntersuchung nicht nachkommen.

Frau Ministerin Dreyer, mir fehlt die Konsequenz, das Problem ernst zu nehmen und es schnell und zügig anzugehen. Das gilt auch für meine übrigen Kollegen im Bundesrat.

(Beifall der CDU)

Ich appelliere sehr herzlich an alle, noch schneller Hilfe zu organisieren. Wir wissen, an erster Front arbeiten unsere Jugendämter in unseren Kommunen. Viele von uns sitzen im Moment in Haushaltsberatungen in diesen Kommunen. Wir alle würden gern vor Ort Politik auch zugunsten des Wohls des Kindes besser organisieren, als uns dies häufig auch aufgrund der finanziellen Zwänge möglich ist. Wir debattieren über die Personaletats, und wir debattieren darüber, ob wir es uns leisten können, im Jugendamt zusätzliche Mitarbeiter einzustellen, damit wir mehr Menschen zur Verfügung haben, die den entsprechenden Hinweisen nachgehen können, die präventiv beraten können, die beispielsweise Ansprechpartner für Hebammen sind, denen etwas auffällt. Die Hebamme selbst kann bestenfalls erkennen, dass etwas

im Argen liegen könnte. Aber sie muss dann beim Jugendamt doch einen Ansprechpartner haben, der auch die Zeit hat, sich um diesen Fall zu kümmern. Wenn Sie sich anschauen, wie unsere Jugendämter besetzt sind, dann muss ich Ihnen allen nichts Neues erzählen. Dann ist dort zu wenig Zeit.

(Zuruf des Abg. Pörksen, SPD)

Lassen Sie uns daher schnell und wirksam helfen. Dies bedeutet auch mehr Hilfe für die Kommunen, damit sie in der Lage sind, ihre Jugendämter so auszustatten, dass den betroffenen Familien schnell geholfen werden kann. Ein Modellprojekt für die Ludwigshafener Familien ist dabei sicherlich schön und gut, aber dieses Projekt hilft nicht den Familien in Koblenz, in Trier, in der Eifel oder im Westerwald. Auch dort haben die Kinder einen Anspruch auf unseren Schutz und auf unsere Hilfe. Ich bitte Sie sehr dringend, diese Hilfe zu organisieren.

(Beifall der CDU)

Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Schmitz.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir hatten dieses Thema schon einmal auf die Tagesordnung des Sozialpolitischen Ausschusses gesetzt. Ich bin froh, dass wir nun Gelegenheit haben, uns darüber auszutauschen.

Meine Damen und Herren, das Grundgesetz regelt in Artikel 6 Abs. 2 die Rechte, aber auch die Pflichten der Eltern zur Erziehung ihrer Kinder. An und für sich sprechen wir über etwas, das gottlob in der großen Mehrzahl der Fälle in den Familien auch noch selbstverständlich ist. Nichtsdestotrotz lässt sich die Schwierigkeit, die nun mit sehr spektakulären Fällen in der Öffentlichkeit diskutiert wurde, nicht von der Hand weisen. Besonders grausame und außergewöhnliche Kindesmisshandlungen und Todesfälle von Kindern zeigen ein Problem, das aber nicht ausschließlich mit diesen speziellen Fällen zu tun hat, sondern mit einer Problematik, die weit darüber hinausgeht. Darin bin ich mir mit meinen Vorrednern einig.

Weniger Einigkeit besteht in dem Punkt, dass wir in allererster Linie wieder nach dem Staat rufen. Ich erinnere an die Unterschichtdebatte, die in den letzten Monaten in allen Parteien geführt wurde. Ich appelliere an alle Kolleginnen und Kollegen, die Fragen, die dort gestellt wurden, auch in diesem Bereich zu stellen: Was sind die Aufgaben der Gesellschaft? Was sind die Aufgaben des Staates? – Nur der Ruf nach mehr Geld, nach schnellerer Aktivität und ein paar Stellen mehr oder weniger hier oder da lösen das Problem nicht.

Ich habe nichts dagegen, dass Jugendämter besser ausgestattet werden. – Wer könnte etwas dagegen haben? – Ich habe nichts dagegen, dass der Staat präventiv tätig wird. – Wer könnte etwas dagegen haben? –

Ich habe nichts dagegen, dass der Staat auch in schwierigen Situationen in den Familien eine adäquate medizinische Versorgung sicherstellen will. – Wer könnte auch in diesem Fall etwas dagegen haben?

Ich habe nur etwas dagegen, dass wir so tun, als ob dies der Kern des Problems wäre. Meine Damen und Herren, der Kern des Problems findet sich nicht in Haushaltstiteln, der Kern des Problems findet sich dort, wo wir zunehmend erleben müssen, dass der Staat in solch hochsensiblen Bereichen nicht nur droht, an seine Grenzen zu stoßen, sondern längst an seine Grenzen gestoßen ist.

Die Aufgabe des Staates besteht für uns Liberale zuvörderst darin, dafür zu sorgen, dass die Gesellschaft sich diesen Herausforderungen wieder stellt, und zwar jedes Individuum. Es war schon bezeichnend – ich hoffe, es war Zufall, aber ich empfand es als bezeichnend; vielleicht habe ich auch etwas überhört –, dass sowohl die Ministerin als auch die Rednerin der SPD-Fraktion alle möglichen Verbände und Strukturen, von den Hebammen und den Schulen über die Erzieherinnen bis hin zu den Kinderärzten, deren Betroffenheit ich nicht bestreite, genannt haben, aber beispielsweise auf nachbarschaftliche Strukturen mit keinem Wort eingegangen sind. Vielleicht habe ich auch etwas überhört. Aber genau darin liegt des Pudels Kern. Es ist die Verpflichtung der Menschen untereinander, Dinge wahrzunehmen.

(Frau Brede-Hoffmann, SPD: Unter anderem!)

Frau Kollegin Brede-Hoffmann, nicht unter anderem, sondern in allererster Linie! Darin unterscheiden wir uns. Ich bin überzeugt davon, dass der Staat es weder als Kinderpolizei noch über staatsanwaltliche Tätigkeiten, die sowieso immer zu spät kommen, schaffen wird, dieses Problem zu lösen. Dieses Problem müssen wir so lösen, dass wir soziokulturelle Teilhabe nicht mehr so verstehen, dass auch in Mainz in der Neustadt übergewichtige Kinder mit Handy und Zigarette im Mund zu sehen sind. Das hat mit soziokultureller Teilhabe nichts zu tun.

Es hat auch nichts damit zu tun, dass wir dieses Problem in erster Linie mit Geld lösen können. Wir müssen vielmehr dieses System umdrehen. Wir brauchen einen Paradigmenwechsel in der Sozialpolitik, der die Verantwortung wieder dorthin transportiert, wo sie hingehört, nämlich hin zum Individuum und zu der individuellen Bereitschaft beispielsweise der Nachbarn, solche Probleme zu sehen und Hilfe zu organisieren, aber dies natürlich auch mit staatlichen Strukturen.

Meine Damen und Herren, das hat mit Denunziantentum nichts zu tun, sondern dies hat etwas mit zivilgesellschaftlicher Verantwortungswahrnehmung zu tun. Es hat etwas damit zu tun, dass der Staat seinen Bürgern sagt: Wir stehen zur Seite, wir helfen, wir leiten an, wir organisieren, wir stellen die Qualität in der Erziehung in staatlichen Einrichtungen sicher. Aber der Staat muss seinen Bürgern auch sagen: Der allmächtige, allgegenwärtige Staat wird das Problem nicht lösen können,

(Glocke des Präsidenten)

abgesehen davon, dass es nicht finanzierbar wäre.

Ich danke Ihnen.

(Beifall der FDP)

Frau Staatsministerin Dreyer hat nun für die Landesregierung das Wort.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Herren und Damen Abgeordnete! Ich glaube, über den Grundsatz besteht in diesem Parlament Einigkeit. Wir haben dies oft genug auch im Sozialpolitischen Ausschuss diskutiert. Es geht in der Tat um die Würde der Kinder, und es geht darum, das Recht auf Schutz vor Missbrauch und Gewalt tatsächlich sicherzustellen. Dabei sind wir alle gefordert, das heißt, an erster Stelle natürlich die Eltern, aber dort, wo dies eben nicht funktioniert, auch der Staat und die Gesellschaft insgesamt. Ich spreche darauf an, was Herr Dr. Schmitz soeben gesagt hat.

Frau Abgeordnete Thelen vermisst die Entschlossenheit zum politischen Handeln im Bundesratsbeschluss. Ich möchte dazu sagen, die individuellen Fälle, mit denen wir uns in den letzten Jahren immer wieder befasst haben und die auch in der Öffentlichkeit bekannt geworden sind, haben durchaus gezeigt, dass die Problemlagen sehr unterschiedlich sind. Ich nenne einmal den Fall Kevin, ohne auf dieses Beispiel weiter einzugehen: Eine Verpflichtung beispielsweise der Vorsorgeuntersuchungen hätte in diesem Fall überhaupt nichts gebracht. Im Grunde genommen waren alle Hilfesysteme alarmiert, aber es hat an ganz anderen Dingen gehapert, weshalb Kevin dieses Schicksal erleiden musste.

Jessica hat eine vollkommen andere Geschichte. Wir haben also sehr genau betrachtet: Worum geht es eigentlich? Wo versagt eigentlich elterliches Handeln, und wo versagt die Jugendhilfe? Wo versagt unser Gesundheitssystem?

Ein Kernelement dieser Analyse ist durchaus ein sehr schlichtes: In der Tradition der Jugendhilfe hat es nie eine großartige Verbindung zum Gesundheitssystem gegeben. Man hat früher – das wissen alle, die mit Jugendämtern befasst sind – in den Jugendämtern außer bei dem Thema „In-Obhut-Nahme“ gar keinen großen Kontakt zum Gesundheitssystem gehabt.

Daraus resultiert der neue Ansatz, der nun in einem Modellprojekt entwickelt worden ist, auch wenn es zunächst einmal mühselig ist, es umzusetzen. Der Anspruch des Modellprojekts ist absolut richtig, nämlich Kinder von der Geburt an nicht mehr aus den Augen zu lassen, und zwar unter Einbeziehung aller Instanzen, die für diese Kinder Sorge tragen.

Das bedeutet, in der Geburtshilfe wird bereits analysiert, handelt es sich um Kinder, die in der Zukunft in eher

risikobelasteten Familien aufwachsen werden, und wie können wir die Eltern darin unterstützen, ihr Erziehungsrecht auch adäquat auszufüllen.

Genauso geht es unter Einbeziehung der Hebammen und unter Einbeziehung der Jugendhilfe weiter, um Netzwerke zu schaffen, dass diese Kinder nicht mehr das Problem haben, dass sie irgendwann in einer Lebensphase in eine Lücke fallen, in der der staatliche Schutz in dem Moment nicht mehr garantiert ist, sondern wir eine engere Verknüpfung des Handels seitens des Staates und seitens des Gesundheitssystems und der Jugendhilfe mit der Erziehung und Unterstützung der Eltern schaffen.

Herr Dr. Schmitz, es ist nicht der Anspruch, dass der Staat das komplett übernimmt, sondern der Ansatz ist der, dass man von Anfang an die Eltern in ihrer Erziehungsaufgabe unterstützt. Man kann eigentlich schon sehr früh erkennen, wenn Eltern damit völlig überfordert sind.

Das bedeutet nicht, dass es nicht auch in Zukunft Einzelfälle geben wird, bei denen es besser ist, sozusagen den Staat an die Stelle der elterlichen Fürsorge zu setzen. Das wird es auch in Zukunft geben. Der Punkt wird sein: Wie begleitet man die Eltern und Familien in der Unterstützung des Kinderschutzes in diesen Situationen, in denen sie selbst nicht in der Lage sind zu handeln?

Frau Abgeordnete Thelen, ich frage mich schon, was Ihrer Meinung nach konsequenteres Handeln ist. Was ist das? Ist es beispielsweise die verpflichtende UUntersuchung, oder welche Maßnahmen meinen Sie? Vielleicht gehen Sie in der zweiten Runde nochmals darauf ein.