Protocol of the Session on June 2, 2005

Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich bin der Meinung, dass wir mit solchen offenen Diskussionen, mit intensiven Bemühungen und mit Überzeugungsarbeit durchaus noch eine Chance haben, aber nicht in dem Sinne, dass man einfach sagt: Jetzt warten wir einmal zwei Jahre ab, dann sind die Franzosen und Holländer vielleicht mürbe und werden dem zustimmen. – Ich halte das für eine zynische Haltung, die man aus meiner Sicht weder einnehmen kann noch darf. Wenn wir eine intensive Diskussion führen, wenn wir versuchen, an den Kern der Entscheidung heranzukommen, die immer auch einen innenpolitischen Teil, aber auch einen europapolitischen Teil beinhaltet, dann haben wir vielleicht eine Chance, dass wir den europäischen Verfassungsprozess doch nicht als gescheitert betrachten müssen, sondern ihn – sicherlich mit zeitlicher Verzögerung – aufnehmen und fortsetzen können.

Ich will noch etwas dazu sagen, was in dieser Verfassung vorgeschlagen wurde. Manches wäre sicherlich auch aus unserer Interessenlage heraus dazu zu sagen. Ich hätte es mir gewünscht, wenn unser Ringen von

mehr Erfolg gekrönt wäre, den Gottesbezug in der Präambel der Verfassung aufzunehmen. Zudem hätten wir uns intensivere Beteiligungsmöglichkeiten gewünscht. Dennoch ist es ein großes Werk, das vorgelegt worden ist, mit dem bei so vielen unterschiedlichen Interessen eine Grundlage geschaffen werden sollte. Wir sollten sie jetzt nicht völlig verlieren. Sie sollte jetzt nicht völlig auseinanderbröseln. Wir sollten uns um die Sorgen der Menschen kümmern. Das könnte noch eine Chance sein. Soweit wir in aller Bescheidenheit als Landesregierung einen Beitrag dazu leisten können, wollen wir versuchen, diesen Beitrag zu leisten.

(Anhaltend starker Beifall der SPD und der FDP)

Die Fraktionen haben noch eine Redezeit von jeweils fünf Minuten zusätzlich. Das bedeutet für die CDUFraktion noch 7,5 Minuten Redezeit. Für die CDUFraktion spricht jetzt Herr Abgeordneter Böhr.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Ich habe mich zu Wort gemeldet, weil ich Ihre Analyse angesichts des Scheiterns für ganz schlimm halte, Herr Ministerpräsident. Ich bin der Auffassung, dass wir auf lange Zeit diese Chance, die jetzt vertan wurde, nicht mehr haben werden. Deshalb ist es wichtig, dass wir uns fragen, weshalb diese Chance vertan wurde. Mit Blick auf Ihre Analyse bin ich zutiefst der Überzeugung, dass sie in weiten Teilen in die Irre geht.

(Beifall bei der CDU)

Der Grund lag nicht in einer überbordenen Unzufriedenheit mit der europäischen Politik. Ich bitte, doch wirklich zur Kenntnis zu nehmen, dass es diese Unterscheidung, wer für was zuständig ist, bei einem interessierten Zeitgenossen überhaupt nicht gibt. Die Menschen haben einen Gesamteindruck von Politik. Insbesondere in den Niederlanden, aber auch in Frankreich war es primär eine Abstimmung über eine missratene nationale Politik, die dazu geführt hat, dass dieses große Projekt gescheitert ist aus Gründen, die ich weder akzeptiere noch vertrete, die aber für unsere Analyse wichtig sind. Herr Ministerpräsident, in Deutschland wäre es doch genauso gekommen, wenn wir eine Volksabstimmung durchgeführt hätten.

(Beifall bei der CDU)

Diese Witzeleien mit dem Dosenpfand – – –

(Ministerpräsident Beck: Das habe ich doch nicht eingeführt!)

Doch. Sie haben das auf die witzige Tour gemacht. Sie kennen die Betriebe besser als ich, die im Land unter diesen katastrophalen Folgen in die Knie gehen.

(Unruhe im Hause)

Fragen Sie doch einmal Ihre Kollegen. Natürlich hat Herr Töpfer das auf den Weg gebracht, und Frau Merkel hat es umgesetzt. In den Sand gesetzt hat es aber Herr Trittin. Daran kann doch überhaupt kein Zweifel bestehen.

(Beifall der CDU)

Jetzt komme ich auf einen Punkt zu sprechen, bei dem ich die ganze Zeit darauf gewartet habe, dass er zur Sprache kommt, wenn wir über das schlimme Scheitern dieser Volksabstimmungen reden. Es gab am Montag keinen einzigen Kommentar, der nicht den Aspekt in den Mittelpunkt gerückt hat, den Sie heute ausgelassen haben. Der französische Präsident hat eine Ohrfeige bekommen für eine Politik, die auf eine Erweiterung der Europäischen Union in zehn, 20 oder 30 Jahren oder möglicherweise 100 Jahren ausgelegt ist. Das trägt nun wirklich nichts zur Sache bei und rettet das Projekt der Europäischen Union nicht, sondern es gefährdet das Projekt in höchstem Maße. Ich rede über den Beitritt der Türkei.

(Beifall der CDU)

Was ist denn der Wahlkampf in Frankreich anderes gewesen? Der gesamte Wahlkampf in Frankreich im Vorfeld dieser Volksabstimmung war ein Wahlkampf über diese Frage. Deshalb frage ich alle, die diese wirre Idee – ich will jetzt nicht auf die innenpolitischen Motive eingehen, die dazu geführt haben – in die Diskussion gebracht haben, wie man auf die Idee kommen kann, zum jetzigen Zeitpunkt in der mehr als fragilen Lage, in der sich die Europäische Union befindet, bei den massiven innenpolitischen Problemen, die uns in fast allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union über den Kopf wachsen, die Flucht nach vorn anzutreten und zu sagen: Jetzt entscheiden wir über die Frage der Vollmitgliedschaft der Türkei in 40 Jahren.

(Beifall der CDU – Zurufe des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das kann doch nicht gut gehen. Dann darf man sich anschließend nicht beklagen, wenn der Dampfer versenkt wird und man mit einer solchen Politik gegen die Wand fährt. Deshalb brauchen wir eine nüchterne Analyse, damit das Projekt nicht völlig in die Hose geht. Ich möchte die Europäische Union retten, ich möchte sie ausbauen, und ich möchte sie zukunftsfähig machen. Dann aber bitte eine ehrliche Analyse des Scheiterns. Wir brauchen eine neue Idee von diesem Europa, damit die Menschen wieder folgen können; denn die Menschen folgen einer Idee, aber nicht dem, was die Regierenden in Europa aus dieser Idee gemacht haben.

(Anhaltend starker Beifall der CDU)

Das Wort hat Herr Abgeordneter Kuhn.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Ich gestehe es offen: So habe ich mir die Debatte heute nicht vorgestellt.

(Dr. Weiland, CDU: Das ist schon einmal ein Erfolg!)

Der Herr Ministerpräsident hat ausführlich auf die Vorteile dieser Verfassung für die Bürger hingewiesen. Wenn wir bei der Verabschiedung dieser Verfassung feststellen, dass innenpolitische Probleme die entscheidende Frage überlagern, dann entspricht das in der Tat der Lebenswirklichkeit. Das heißt aber nicht, dass wir das begrüßen dürfen. Ich bin kein Utopist und stelle mir die Welt nicht in Farben vor, die sie nicht haben kann. Wenn wir aber bedauernd feststellen müssen, dass ein innenpolitischer Kampf dazu führt, dass das auf dem Vehikel dieser Verfassungsabstimmung ausgetragen wird, dann müssen wir Konsequenzen daraus ziehen. Wenn die Bürger der Europäischen Union von Regierungen und von der jeweiligen Opposition in eine Richtung geführt werden – das muss man auch selbstkritisch sagen –, die an der Sache völlig vorbeigeht, dann ist das wirklich schade.

Wenn wir jetzt damit anfangen, das auch zu tun, haben wir nichts gelernt.

(Beifall der FDP und der SPD)

Frau Schmidt, ich möchte auch auf den zweiten Teil Ihrer Rede hinweisen. Da ging das wieder los. Ich will nicht inhaltlich oder politisch bewerten, was Sie zur Bundespolitik gesagt haben. Wir fangen aber dann genauso an, dieses Thema als Vehikel zu benutzen.

(Beifall bei FDP und SPD – Zuruf der Abg. Frau Schmidt, CDU)

Dann werden wir nicht erfolgreich sein. Wir haben in den ersten Jahrzehnten der europäischen Integration diesen Fehler weitgehend nicht gemacht. Das war die Stärke und die Kraft, aufgrund derer die Integration auch erfolgreich verlaufen ist.

Jetzt geht es uns so gut, dass wir nicht in der Lage sind, dieses elementare Stück der Integration etwas losgelöst – das wird nie ganz gelingen – von innenpolitischen Diskussionen zu sehen. Wenn wir innehalten, bedeutet das nicht Stillstand.

Wenn wir uns überlegen, wie wir den Prozess der Vertiefung der Integration neu gestalten können, sollten wir uns hier etwas disziplinieren. Wir sollten auch in Rheinland-Pfalz darüber nachdenken, inwieweit wir diesen Prozess der Vertiefung, der dringend geboten ist, gestalten können.

Ich bin der festen Meinung, dass wir in den Schulen – es geht um die Jugend – die Bedeutung dieser Verfassung noch mehr als bisher auf die Tagesordnung setzen müssen. Ich bin auch der festen Überzeugung, dass es uns gelingen könnte, über die Landeszentrale für politische Bildung neue Akzente zu setzen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich sage selbstkritisch,

(Jullien, CDU: Das ist der richtige Einstieg!)

ich bin seit Jahrzehnten Mitglied der Europa-Union. Ich zahle meinen Beitrag, aber ich gehe ganz selten – das gebe ich zu – zu den Veranstaltungen, weil ich das Gefühl habe, dass das ein Selbstläufer ist. Viele von Ihnen sind ebenfalls Mitglied in der Europa-Union. Packen wir uns einmal am Portepee und gehen zu den Veranstaltungen und engagieren uns in der Europa-Union.

Es gibt viele Möglichkeiten – auch in Rheinland-Pfalz –, den europäischen Gedanken aufs Neue zu beleben.

(Beifall der FDP und der SPD)

Ich erteile das Wort dem Fraktionsvorsitzenden der SPD-Fraktion, Herrn Joachim Mertes.

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Bei dieser Debatte fällt auf, dass wir im Grunde genommen die Selbstverständlichkeit des europäischen Zusammenwachsens für so normal halten, dass wir sie nicht mehr in ihrer historischen Dimension vernünftig einschätzen können. Wir sind nicht mehr die Träger des Gedankens, die den Menschen sagen können: Weißt du, dass 1945 ein Zeitalter zu Ende gegangen ist, das nur durch die europäische Integration zu Frieden, zu Freiheit, zu Wohlstand und zu all dem geführt hat, von dem wir heute leben können? Wir konnten das über eine Grenze, über die Elbe, tragen, weil wir die europäische Einheit, die europäische Integration geschafft haben. Das ist die Vision, die wir von Europa haben, Herr Kollege Böhr.

(Beifall der SPD und der FDP)

Mir ist die ungeheuer viel wert, weil wir in keinen Krieg marschieren mussten. Unsere Väter – die Menschen, die in meinem Alter sind – waren alle im Krieg. Viele sind nicht zurückgekommen. Wir durften nach einer harten Zeit in den 50er- und 60er-Jahren erleben, dass der Gedanke der europäischen Integration uns allen mehr Wohlstand, mehr Möglichkeiten, aber auch Beteiligung gebracht hat.

Ich erinnere mich sehr gut daran, was die Beteiligung eines Arbeitnehmers in einem mittelständischen Betrieb bedeutet hat, als ich 1964 in die Lehre gegangen bin. Sie hat nichts bedeutet. Im Wohlstand sind diese Dinge mit aufgebaut worden, weil der Wohlstand dazu geführt hat, dass wir darum ringen konnten, beteiligt zu werden. Wir wurden beteiligt, über Mitbestimmung, über die Betriebsverfassung – in den Ländern ganz unterschiedlich.

Die große geopolitische Idee war eigentlich, dies von den fünf auf ganz Europa zu übertragen. Wissen Sie, wer diese geopolitische Idee der Europäischen Gemeinschaft am stärksten allein aufgrund seiner langen Amtszeit mit beeinflusst hat? Ein gewisser Herr Dr. Helmut Kohl. Dem war es geopolitisch schon immer wichtig, dass die Nato an einer bestimmten Seite im Kalten Krieg die Türkei an der Seite gehabt hat. Weil das so war, hat er schon vor 20 Jahren den Türken gesagt: Wir werden mit euch darüber verhandeln. – Wenn Sie sich jetzt an dieses Pult stellen und daraus eine Polemik für die nächste Bundestagswahl machen, verraten Sie Ihren Ehrenvorsitzenden von diesem Pult aus. Ja, so ist das.

(Starker Beifall der SPD)

Man kann Helmut Kohl tausend Dinge über Spenden und Ähnliches nachsagen, aber wenn es um die Frage von Europa und der Integration, die Frage des Zusammenhalts innerhalb Europas und geopolitische Vorstellungen ging, konnte man von Helmut Kohl eine ganze Menge an Ausdauer lernen.

(Zuruf des Abg. Böhr, CDU)

Sie haben das aber nicht gelernt. Sie sind an dieses Pult getreten und haben gesagt, wir hätten aktuell eine innenpolitische Situation hineingemischt, bei der es sich nicht gehört hätte, die Türkeifrage zu stellen. Meine Damen und Herren, sie ist seit 20 Jahren gestellt, und sie wird auch beantwortet werden, und dies anders, als Sie das erwarten.

(Beifall der SPD – Zuruf des Abg. Schmitt, CDU)

Für Sie ist das mit der Türkei doch nichts anderes als der Versuch, die übrig gebliebenen Ressentiments weiter zu aktivieren und für den Wahlkampf als Munition zu benutzen. (Beifall der SPD)