Protocol of the Session on January 30, 2015

Wir halten Angst und Überwachung für schlechte Ratgeber. Und wir würden uns wünschen, wenn die Kölner über den Wert ihrer Narrenfreiheit im eigentlichen und auch im politischen Sinne noch einmal nachdenken würden.

(Beifall von den PIRATEN – Vereinzelt Beifall von der SPD und der CDU)

Nachdenken wünschen wir uns auch immer von Herrn Innenminister Jäger. Denn er sagt seit den Anschlägen noch häufiger, dass die Rückkehrer aus Syrien potenziell besonders gefährlich seien, und spricht nur von immer mehr Überwachung.

Zurzeit haben wir in Nordrhein-Westfalen 40 Rückkehrer. Zehn davon sind möglicherweise gewaltbereit. Diese zehn sollten den gesamten Überwachungsdruck spüren und merken, dass wir eine starke Polizei und starke Sicherheitsbehörden haben, die für den Fall der Fälle bereitstehen. Die Gesetze, damit umzugehen, haben wir bereits.

Aber die anderen – nicht nur die restlichen 30 Rückkehrer, sondern auch die Millionen Menschen, die nicht Müller, Meier, Schulze heißen, trotzdem Deutsche sind oder auch einer anderen Nationalität angehören – müssen das Gegenteil spüren, nämlich dass sie hier willkommen sind, dass sie Teil unseres Landes und Teil unserer Gesellschaft sind.

(Beifall von den PIRATEN)

Das Willkommen ist jedoch immer noch zu leise. Das muss sich ändern.

(Beifall von den PIRATEN)

In Deutschland verfolgen wir seit Jahrzehnten eine völlig falsche Politik. Der jahrzehntelange Widerstand von Gesetzgebern und Parteien gegen Einwanderung hat immer noch Einfluss auf Politik und Gesellschaft, auf die Stimmung der Mitte.

Besonders Muslime erfahren in Deutschland viel Ablehnung. Auch heute noch sagen Politiker, dass der Islam nicht zu Deutschland gehört. Unsere Landtags-CDU fantasiert in Bonn Anwerbungen durch Salafisten in Sammelunterbringungen herbei und schürt so Ängste gegen Flüchtlingsunterbringung. All das fördert PEGIDA, KÖGIDA und Co.

Landtag

30.01.2015

Das fördert auch Radikalisierung. Das müssen wir ändern.

(Beifall von den PIRATEN)

Uns sollten die wieder zunehmenden Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte, Synagogen und Moscheen, der zunehmende Rassismus, Hetze und Gewalttaten gegen Minderheiten und Menschen, die sich Nazis in den Weg stellen, mindestens genauso beschäftigen wie die sehr kleine Anzahl radikalisierter Rückkehrer.

(Vorsitz: Vizepräsident Eckhard Uhlenberg)

Auf diese komplexe Lage ist die Antwort von Innenminister Jäger einfach und schlicht: mehr von demselben, mehr Überwachung, mehr Repression, mehr Misstrauen. – Dabei haben wir davon schon mehr als genug in unserer Gesellschaft. Aber haben Überwachung und Repression die Anschläge verhindert? – Nein, sie haben die Radikalisierung sogar eher gefördert.

Um präventiv wirken zu können, muss man zunächst verstehen, wie es zur Radikalisierung kommt. Wer sich nicht verstanden oder wer sich abgelehnt fühlt, sucht Identifikation mit einer Gruppe. Das kann ein Fußballverein sein, eine ethnische Gruppe oder ein Religionsverein. Viele solcher Identifikationsvorgänge sind harmlos.

Gerät man aber an eine Gruppe mit radikalen Ansichten, die ihre Aufgabe nicht darin sieht, in der Gesellschaft mitzuwirken, sondern die die Gesellschaft abgelehnt, wird die Gruppe das Gefühl, nicht verstanden zu werden, nur verstärken. Das heißt dann: „Wir“ gegen „die“. – Damit werden dann die Feindbilder aufgebaut, die nur schwer wieder umzustürzen sind. Die Gruppe wird argumentieren: Seht ihr, die haben was gegen uns. Die wollen uns nicht. Die hassen uns.

Mit repressiven Maßnahmen werden diese Feindbilder nur bestätigt. Das sagen übrigens nicht nur Experten wie Claudia Dantschke von „Hayat“. Selbst Herr Maaßen, Leiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz, erklärte in einer Anhörung im Bundestag, dass die präventive Arbeit entscheidend sei. Allerdings könne seine Behörde nicht den Sozialarbeiter spielen. Hierfür seien andere Institutionen einfach kompetenter.

Wenn es nun also die Erkenntnis gibt, dass mehr Prävention das Radikalisierungsproblem lösen

kann, warum wird dann so wenig gemacht?

Herr Innenminister Jäger wird nachher erzählen, dass es Präventionsprogramme in NordrheinWestfalen natürlich schon gibt. Tatsächlich gibt es in Nordrhein-Westfalen seit Mitte 2014 das Präventionsprogramm gegen Salafismus namens „Wegweiser“. Auf der Kontaktseite – „Wo kann ich ‚Wegweiser‘ erreichen? – Projektpartner vor Ort“ – wird schön auffällig erst einmal ein Pressekontakt vermit

telt. Wirkt das auf Jugendliche, die sich melden wollen, vertrauenswürdig?

Der Innenminister wird uns auch erzählen, dass Nordrhein-Westfalen Vorreiter ist und andere Bundesländer „Wegweiser“ kopieren. Unerwähnt wird er lassen, dass es zivilgesellschaftliche Deradikalisierungsprogramme schon seit Jahrzehnten gibt. Unerwähnt wird er lassen, dass „Wegweiser“ gerade erst angelaufen ist. Man kann also noch gar keine Aussage darüber treffen, ob das Programm angenommen wird. Man darf auch seine Zweifel daran haben.

Im Herbst letzten Jahres hat das Bundesamt für Verfassungsschutz sein Aussteigerprogramm

„HATIF“ – „Heraus aus Terrorismus und islamischem Fanatismus“ – ersatzlos eingestellt. In vier Jahren hatten sich hierüber lediglich sieben Personen nach Hilfe für sich selbst erkundigt. In keinem einzigen Fall kam es zu einer Unterstützungsmaßnahme seitens des Amtes. Das zeigt auch, warum Herr Maaßen die Finger von solchen Programmen lässt: Sie werden nicht angenommen. Gefährdete junge Menschen erreicht man eben nicht über ein Kontaktformular auf einer amtlich aussehenden Seite im Internet.

Was also tun? Diese Menschen müssen da abgeholt werden, wo sie sind. Dazu gehören Initiativen vor Ort. Dazu gehören Einzelansprachen. Nicht zuletzt gehört dazu auch die jugendgerechte Ansprache im Internet und in den sozialen Medien. Davon sehen wir leider nicht viel. Internetauftritte von Behörden und staatlichen Stellen wirken immer noch amtlich und bürgerfern. Und wenn mal eine Behörde – wie die Polizei Essen-Mülheim – versucht, sich auf Facebook bürgernah zu geben, wird von Herrn Jäger das Duzen der Facebook-Fans verboten. Damit wird signalisiert: Ihr, Verzeihung: Sie kommunizieren mit uns nicht auf Augenhöhe. Wir sind der Staat, und Sie sind nur Bittsteller. – So kann aber kein Vertrauen entstehen. Deswegen werden behördliche Aussteigerprogramme auch fehlschlagen.

Fangen Sie also an, diejenigen, die sich haben radikalisieren lassen, zurückzuholen, anstatt sie weiter auszugrenzen und nur zu überwachen. Holen Sie die Unterstützung von zivilgesellschaftlichen Gruppen mit jahrelanger Erfahrung – wie „Hayat“ und andere –, und lassen Sie den Verfassungsschutz außen vor. Wir sind überzeugt, dass das wirkungsvoller für die Terrorprävention ist, als die Reisefreiheit einzuschränken, Google und andere Anbieter zu freiwilliger Internetzensur aufzufordern, Verschlüsselung zu verbieten und europaweit unsere Fluggastdaten zu speichern. Denn das sind Maßnahmen, die uns alle unfrei machen, und das ist der falsche Weg.

(Beifall von den PIRATEN)

Vielen Dank, Herr Kollege Herrmann. – Für die SPD-Fraktion spricht der Kollege Stotko.

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beschäftigen uns heute hier im Parlament nach dem Terroranschlag von Paris mit der Entscheidung, in Nordrhein-Westfalen Polizei und Verfassungsschutz auszubauen, umfangreich zu verstärken. Das war im Übrigen bereits in der letzten Woche Thema im Innenausschuss, wo – vielleicht im Gegensatz zu heute – alle Fraktionen diesen Schritt begrüßt haben. Nun, eine Woche später, habe ich persönlich den Eindruck, dass den Piraten aufgefallen ist, dass man irgendwie den Versuch machen muss, das noch kaputt zu machen.

Deshalb sprechen die Piraten in Ihrem Antrag zu dieser Aktuellen Stunde auch davon, es sei wieder mal nicht genug, was da gemacht werde. Es müsse doch noch mehr Prävention geben. Es müssten außerdem gar nicht so viele Terrorverdächtige beobachtet werden. – Herr Herrmann, ich sage mal: Die Kraft, mit der Sie gerade Ihren Vortrag geleistet haben, macht klar, welche Inhalte dahinterstecken. Ich hatte Schwierigkeiten, Ihnen zu folgen, weil ich weder inhaltlich noch vom Ausdruck her den Eindruck hatte, Sie wollten uns irgendeinen klugen Hinweis geben.

(Frank Herrmann [PIRATEN]: Das ist bei Ihnen immer so!)

Uns ist nach dem Anschlag von Paris deutlich geworden, dass insbesondere bei den terroristischen Rückkehrern eine neue Brisanz entsteht. Die setzen sich nicht so, wie das früher der Fall war, monatelang hin, planen einen Bombenanschlag oder ein Selbstmordkommando. Diese Täter hatten sich auf einen Rückzug vorbereitet, sich mit Schusswesten ausgestattet und hätten ihre Terrorakte immer weiter fortgesetzt. Deshalb muss man gerade bei den Rückkehrern genau darauf achten, ob es sich um Desillusionierte, Enttäuschte oder eben auch Radikalisierte handelt.

Wer die Gruppe der Radikalisierten beobachten will, Herr Kollege Herrmann, benötigt im Schnitt sechs bis acht Beamte pro Schicht, also 24 Beamte an einem Tag. Ich sage mal: Selbst wenn man die höhere Mathematik nicht unbedingt beherrscht, kommt man schnell auf die Idee, dass wir, was so etwas angeht, schon vor und nicht erst nach dem Anschlag von Paris an unsere Belastbarkeitsgrenze gekommen sind.

Deshalb halten wir als SPD-Fraktion es auch weiterhin für gut und richtig, dass sich die Regierung und die sie tragenden Fraktionen binnen 72 Stunden – das muss man ja zeitlich, organisatorisch und auch intellektuell erst einmal hinbekommen – auf ein Maßnahmenpaket verständigen konnten, wel

ches der Minister für Inneres und Kommunales sicherlich gleich vorstellen wird.

(Frank Herrmann [PIRATEN]: Mehr Überwa- chung ist nie das Problem! Weniger ist das Problem!)

Aber allein die zusätzliche Einstellung von 360 Polizeianwärterinnen und -anwärtern sowie die erneute Verstärkung des Verfassungsschutzes um insgesamt 29 Personen auf über 50 neue in den letzten Monaten machen klar, wie ernst Rot und Grün hier in Nordrhein-Westfalen die Gefährdungslage nehmen.

Ich möchte in diesem Zusammenhang gerne darauf hinweisen, dass Nordrhein-Westfalen im Gegensatz zu vielen anderen Bundesländern – beispielsweise Schleswig-Holstein, Rheinland-Pfalz oder Berlin – seit 2011 mehr Polizistinnen und Polizisten einstellt, als pensioniert werden.

(Zuruf von Frank Herrmann [PIRATEN])

Wir brauchen aber über die Einstellung von zusätzlichem Personal hinaus eine optimierte Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden, im Übrigen nach der NSU-Sache nicht nur in Deutschland, sondern auch in der Europäischen Union.

Vielleicht hofft jetzt einer, ich würde etwas zum Thema „Mindestspeicherdauer“ sagen. Wir haben ja beim nächsten Tagesordnungspunkt Gelegenheit, uns damit zu beschäftigen. Da wird der Kollege Wolf die Gelegenheit nutzen, für die SPD-Fraktion Vorbehalte, aber auch Nutzen gegeneinander abzuwägen.

Der einzige Punkt, wo wir mit den Piraten einer Meinung sind, ist, dass neben der Repression auch die Präventionsarbeit zu stärken ist. Im Ihrem Antrag zu dieser Aktuellen Stunde steht aber gar nichts dazu. In Ihrer Rede haben Sie wenigstens mal darauf hingewiesen, dass wir da etwas machen. Sie haben aber auch süffisant versucht, das kaputt zu reden, nach dem Motto: Der Minister wird mal darauf hinweisen, aber...

(Zuruf von Frank Herrmann [PIRATEN])

Ich kann Ihnen nur sagen: Es ist wirklich traurig, dass Sie bei der Beantragung noch nicht mal etwas über unser Projekt „Wegweiser“ geschrieben haben, das Präventionsprojekt, das bundesweit anerkannt ist, und das bei der Innenministerkonferenz im Dezember hier in Nordrhein-Westfalen, als es von Innenminister Jäger eingebracht wurde, ausdrücklich von allen begrüßt worden ist.

Weiterhin kam von Ihnen kein Hinweis darauf, dass hier in Nordrhein-Westfalen seit fast einem Jahr Moscheevereine, Sozialarbeiter, Psychologen, das Jobcenter, die Polizei und andere gemeinsam daran mitwirken, junge Leute vor einem Abgleiten in die radikale Szene zu schützen.

(Frank Herrmann [PIRATEN]: Ja, seit einem Jahr!)

Warum Sie das ausgeblendet haben, Kollege Herrmann oder Sie alle als Piraten, erklärt sich mir nicht. Stattdessen haben Sie hier gerade etwas gesagt, Herr Kollege Herrmann, wozu ich mir das Protokoll dieser Plenarsitzung noch mal genau anschauen werde.

Wenn ich Sie richtig verstanden habe, haben Sie gesagt: Unsere Art in Nordrhein-Westfalen, mit dem Islam, der Islamfeindlichkeit und allem umzugehen, würde eine Radikalisierung noch fördern. – Wenn Sie das so gesagt haben – ich gucke noch mal nach –, werden wir beide das noch mal thematisieren. Denn Sie wollen doch nicht ernsthaft den Vorwurf machen, dass unsere Form der Innenpolitik in Nordrhein-Westfalen, mit Repression und Prävention umzugehen...