Auch dieses Beispiel macht deutlich, dass es auf diese sehr komplexen Fragestellungen keine einfachen Antworten gibt.
Ich würde mich freuen, wenn wir in dieser sachlichen Diskussion, die wir heute Morgen begonnen haben, weiter fortschreiten könnten, um am Ende die Bildungschancen für alle Kinder und Jugendlichen in Nordrhein-Westfalen sicherstellen zu können. – Ich bedanke mich.
Vielen Dank, Frau Kollegin Hendricks. – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht Frau Kollegin Beer.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Tat, heute herrscht eine etwas andere Tonlage und wir führen eine etwas ruhigere Debatte, als das die Überschriften der Pressemitteilungen nach Erscheinen der Studie vermuten ließen. Das kann ich nur begrüßen, denn wir haben hier eine gemeinsame Aufgabe vor uns. Das Hin- und Herschieben von Schuldzuweisungen nützt gar nichts, weil es immer wieder unterschiedliche Verantwortlichkeiten gegeben hat. Wir können das Ganze nur gemeinsam schaffen.
Erlauben Sie mir jedoch, Frau Gebauer, an dieser Stelle noch auf eines hinzuweisen: Von den 4.000 Stellen unter anderem gegen Unterrichtsausfall, die unter Schwarz-Gelb in der Zeit von 2005 bis 2010 eingepflegt wurden, mussten wir erst einmal 1.000 nachfinanzieren. Die waren nämlich gar nicht im Haushalt angelegt. Allein bis 2015 haben wir nun 9.500 Stellen in den Haushalt eingebracht. Dabei berücksichtigen wir die demografischen Effekte. Sie hingegen hatten in der mittelfristigen Finanzplanung 10.000 Stellen abgesetzt.
Von daher ist es etwas schmal, was Sie hier heute vorgetragen haben. Ich kann es Ihnen auch nicht ersparen, Sie damit zu konfrontieren, dass das Landesinstitut von Ihnen einfach so aus der Landschaft gefegt wurde und wir dadurch in NordrheinWestfalen zwei Jahre lang eine Fortbildungsbrache gehabt haben.
Wenn Sie sagen, dass die Fortbildung für Sie so wichtig ist, dann muss ich darauf hinweisen, dass wir da zwei Jahre lang Stillstand gehabt haben. Und dann gibt es die Kompetenzteams, die höchst unterschiedlich gearbeitet haben.
Lieber Kollege Kaiser, Sie müssten doch eigentlich froh sein, dass wir jetzt wieder genau eine solche Qualitätsagentur aufbauen und dass wir die Kompetenzteams fortbilden. Nur so werden wir dem gerecht werden können, was hier eben postuliert worden ist, nämlich die Unterstützung von Lehrerinnen und Lehrern. Dies gilt es systematisch anzugehen und es nicht dem Zufall zu überlassen, dass man an die richtigen Leute gerät. Dies gehört in diesem Zusammenhang zur Klarheit und zur Wahrheit dazu.
Mein Wunsch ist es, dass wir die Wissenschaftlerinnen hier nach Düsseldorf holen und miteinander reden. Das ist sehr wichtig, denn wir müssen dieses ernüchternde Ergebnis für NRW miteinander analysieren.
Natürlich kann sich niemand mit diesem Ergebnis zufriedengeben. Wir müssen uns fragen: Was können wir von anderen Bundesländern lernen? Das ist doch hochspannend.
Zunächst einmal: Die anderen Länder – gerade die ostdeutschen Bundesländer – haben sehr stark mit Strukturlösungen auf die demografische Entwicklung reagiert. Hier handelt es sich nicht um eine Spielwiese, sondern hier liegt eine sachgerechte Antwort vor.
Von den Leistungsergebnissen in Sachsen können wir lernen, dass eine hohe Gymnasialquote nicht leistungsmindernd wirkt. Das ist ja eine der Thesen,
Auch Manfred Prenzel – immerhin selbst PISA-Forscher –, früherer Leiter des Leibniz-Institutes für die Pädagogik der Naturwissenschaften, führt aus, dass die ostdeutschen Bundesländer sich ihre Leistungserfolge sehr pragmatisch und sehr klar hintereinander erarbeitet haben. Es geht unter anderem um die Vereinfachung der Schulsysteme, so analysiert er.
Es ist auch wichtig, dass der Fokus der Wertschätzung der naturwissenschaftlichen Fächer erhalten bleibt. In den neuen Bundesländern gibt es eine ganz andere Kultur und Tradition mit Blick auf die MINT-Fächer. Diese Fächer haben in der Tat einen größeren Anteil in der Stundentafel. Wir müssen nur gemeinsam, Kollege Kaiser, definieren, welche Fächer bei uns noch obendrauf gelegt oder weggelassen werden sollen.
Das ist der spannende Diskurs, den wir miteinander führen müssen: darüber, was in den Schulen gelernt werden soll, was Sinn macht fürs Leben, was Sinn macht für den Beruf, dass wir an einigen Stellen entschlacken und neu definieren müssen. Das ist die Herausforderung, die wir hier gemeinsam angehen müssen. Darauf darf man nicht einfach reflexhaft reagieren.
Die Bevölkerungsstruktur in den neuen Bundesländern spielt natürlich auch eine Rolle. Wir haben doch eine ganz andere Quote an Zuwanderern hier in Nordrhein-Westfalen. Der Kollege Bas wird sich damit gleich in seinem Beitrag noch tiefergehend beschäftigen. Die Ergebnisse der Kinder mit Zuwanderungsgeschichte sind ebenfalls differenziert zu betrachten; hier müssen unterschiedliche Antworten gefunden werden. Das ist auch eine gemeinsame Aufgabe.
Der Generalbefund jedoch – das ist leider heute Morgen noch gar nicht angeführt worden – bleibt wieder einmal für alle Bundesländer der gleiche: Unabhängig von Regionalligavergleichen entscheidet die soziale Herkunft in Deutschland wie in kaum einem anderen europäischen Staat über den Bildungserfolg von Kindern. Das wissen wir seit Beginn der PISA-Erhebung, und das kann uns doch wahrhaftig nicht ruhen lassen! Es ist immer wieder eine grundsätzliche Ohrfeige für das deutsche Bildungssystem. Da nützt es nichts, in die Regionen zu schauen. Hier haben wir eine gewaltige Aufgabe gemeinsam zu bewältigen.
Wir können uns das weder gesellschaftlich noch demokratisch erlauben. Wir können es uns auch mit Blick auf die Wirtschaft und die Fachkräfte, die dort gebraucht werden, nicht erlauben. Wir können es uns vor allen Dingen angesichts des Rechts der Kinder und Jugendlichen auf ihren Bildungserfolg nicht erlauben, diese Situation so zu belassen.
Ich möchte, dass wir es schaffen, eine Leidenschaft für das Forschen und Experimentieren in den Kindern und Jugendlichen zu wecken und vor allen Dingen zu erhalten.
Es gibt einen Schriftsteller der Renaissance, François Rabelais, der einmal sehr klar gesagt hat – ich finde, das ist immer noch die wunderbarste Beschreibung für individuelle Förderung –, dass es wichtig ist, wahrzunehmen: Kinder sind keine Fässer, die gefüllt werden wollen, sondern Fackeln, die man entzündet.
Das ist genau der Punkt: diese Leidenschaft, die Begeisterung für das Lernen zu wecken, dafür zu brennen, dass man sich anstrengen muss, dass man sich manchmal durchbeißen muss, aber vor allen Dingen, dass man mit Freude beim Lernen dabei ist.
Es gilt, für alle Kinder diese Chancen in der Gesellschaft zu eröffnen und sie zu unterstützen sowie auch die Lehrer und Lehrerinnen zu unterstützen, dass sie das leisten können. Das ist unsere gemeinsame Aufgabe.
Jetzt bitte keine Reflexe zurück zu altem Bimsen, falsch verstandenem Fachunterricht, sondern hin zu einem kompetenzorientierten Unterricht, in dem Mathematik und Naturwissenschaften einen hohen Stellenwert haben. Sie sollen auch in der Bildungslandschaft geschätzt werden und die entsprechende Anerkennung erfahren – neben der klassischen Sprachenkompetenz, in der wir 2009 ja gar nicht so schlecht abgeschnitten haben. Also: Gemeinsame Aufgaben!
Ich würde mich freuen, wenn wir die verantwortlichen Forscherinnen in den Schulausschuss einladen und dort wirklich einen sachorientierten Diskurs miteinander führen würden.
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren hier auf der Tribüne und im Stream! Wir reden über den IQBLändervergleich 2012. Ich bin sehr glücklich, dass wir eine sachliche Debatte führen. Ich hatte ein bisschen erwartet, wir würden die Empörungswellen hin- und herschwappen lassen, wer wann dran war und wer was falsch gemacht hat. Ich finde, es gehört viel Mut dazu, hier sachlich zu diskutieren. Dafür möchte ich mich bedanken.
Das Wichtige bei dieser Studie ist: Sie bringt keine grundlegend neuen Erkenntnisse. Sie versetzt uns in die Lage, dass wir über die alten Probleme neu reden können, dass wir in die Zukunft schauend darüber nachdenken können, wie wir diese Probleme an den Schulen lösen können. Wir müssen nicht zurückgucken, was die anderen falsch gemacht haben.
Erstens. Das Statistische Bundesamt hat im Jahr 2010 die Bildungsausgaben pro Schüler zusammengerechnet. NRW liegt dort auf dem letzten Platz – mit 5.500 € pro Schüler. In Bayern sind es 6.900 €, in Sachsen 7.900 €, in Thüringen 8.600 €. Das sind über 50 % mehr Ausgaben. Welch ein „Wunder“, dass Nordrhein-Westfalen da die rote Laterne hat!
Zweitens. Lassen Sie uns einen Blick auf die Personalausgaben je Schüler werfen. Der Bildungsfinanzbericht 2012 bescheinigt NRW mit 4.200 € pro Schüler auch hier den letzten Platz. In Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen werden 2.100 € mehr pro Schüler ausgegeben. Das sind wieder 50 % mehr. Die alleinige Betrachtung der Qualifizierung der Lehrkräfte bringt uns hier nicht weiter; sie ist nicht zielführend.
Drittens. Gucken wir uns das Schüler-LehrerVerhältnis an. Da haben die Gewinner der Studie einen klaren Vorteil; denn bei ihnen kommen zwölf bis 14 Schüler auf einen Lehrer. In Nordrhein-Westfalen sind es 17. Das sind wieder 50 % mehr – aber in die falsche Richtung. Das sind Fakten, die bei einer Analyse der Ergebnisse berücksichtigt werden müssen.
Viertens. Wenn man sich die Unterrichtsstunden anguckt – Herr Kaiser hat das gerade getan –, dann sieht man: In bayerischen Mittelschulen wird Mathematik mit 29 Jahreswochenstunden unterrichtet – das sind die durchschnittlichen Wochenstunden in den sechs Jahren von Klasse 5 bis Klasse 10 zusammen –, in den Realschulen in NRW sind es 24. Das hört sich erst einmal nicht dramatisch an. In sächsischen Gymnasien kommen die Schüler auf 25 Jahreswochenstunden. In NRW sind es 22. Auch dieser Unterschied hört sich nicht dramatisch an.
Wenn man das jedoch in absoluten Zahlen ausdrückt, dann heißt das, dass NRW-Schüler an den Mittelschulen bzw. an den Realschulen 195 Unterrichtsstunden weniger in Mathematik bekommen oder – anders ausgedrückt – sechseinhalb komplette Schulwochen. An den Gymnasien sind es immerhin noch 117 Schulstunden oder vier komplette Schulwochen.
Bei den Naturwissenschaften sieht es noch viel schlimmer aus. In Sachsen werden die Schülerinnen und Schüler mit 27 Jahreswochenstunden unterrichtet, in Nordrhein-Westfalen liegt der Durch
schnitt bei nicht gymnasialen Schulen bei 20 Wochenstunden. Das sind 273 komplette Schulstunden weniger Naturwissenschaften. Insofern ist klar, dass NRW nicht diese guten Ergebnisse bringen kann. In Thüringen werden an den Gymnasien 29 Jahreswochenstunden unterrichtet. Hier sind es 22. Das sind wieder 50 % – aber in die falsche Richtung.
Das sind Fakten, die wir bei der Analyse der Ergebnisse berücksichtigen müssen. Das wirft auf die Interpretation seitens der Kultusministerkonferenz ein verdammt schlechtes Licht.
Bessere Lehrerausbildung allein hilft uns nicht. Wir müssen an die Ausstattung der Schulen ran. Wir müssen diese Probleme jetzt angehen. Wir müssen die Schulen finanziell, personell und sachlich besser ausstatten.
Die Studie zeigt eine beachtliche Streuung bei den Leistungen in den Schulen, auch an Gymnasien. Daraus kann man eigentlich nur schließen: Individuelle Förderung ist das Wichtigste, was wir machen müssen. Das ist der richtige Ansatz. Denn damit lösen wir auch die wesentlichen Problemfelder; Frau Gebauer, Frau Hendricks und Frau Beer haben es gerade angesprochen. Die „soziale Disparität“, das soziale Umfeld, die soziale Stellung der Eltern, das ist immer noch wichtig für den Lernerfolg der Schüler. Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund profitieren noch viel zu wenig von diesem Schulsystem.
Wir müssen auch über den unterschiedlichen Erfolg der verschiedenen Geschlechter in den Fächern Mathematik und Naturwissenschaften reden. Wir müssen weitere Anstrengungen betreiben, auch Mädchen und junge Frauen für diese Fächer zu gewinnen, denn diese Fächer sind für alle Schülerinnen und Schüler wichtig.
Die Motivation der Schülerinnen und Schüler – das ist der letzte Punkt – ist dabei das Allerwichtigste. Wir müssen ihnen einen Lernerfolg beschaffen. Wir dürfen die Potenziale, die sie haben, nicht brachliegen lassen. Wir können es uns nämlich einfach nicht leisten, Schülerinnen und Schüler unter ihren Möglichkeiten hängen zu lassen.