Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was unter einer fortschrittlichen Debattenkultur zu verstehen ist, mag aus der Sicht des einen fortschrittlich sein, aus der Sicht des anderen nahezu strukturkonservativ. Begriffe wie
„fortschrittlich“ und „modern“ sagen also für sich genommen erst einmal noch nichts aus, sie sind inhaltsleer. Sie werden vielmehr erst durch die Rahmenbedingungen ausgefüllt, unter denen sie verwendet werden, und werden von dem gesamtgesellschaftlichen Konsens geprägt, insbesondere in der Gestalt, die dieser durch die Rechts- und Verfassungsordnung erfährt.
Das Recht ist nicht starr, wie wir alle wissen, sondern entwicklungsfähig und vermag auch gesellschaftliche Veränderungen abzubilden. Es hat allerdings in der Gestalt sowohl des Grundgesetzes als auch der Landesverfassung Nordrhein-Westfalen bestimmte Grundentscheidungen getroffen, die gerade eben auch für die Staatsorganisation und damit auch für den Parlamentarismus von hoher Bedeutung sind.
Sowohl das Grundgesetz als auch die Landesverfassung haben sich für eine parlamentarisch verankerte Regierung entschieden. Diese Regierung steht dem Parlament als Institution nicht antagonistisch gegenüber, wie das zum Beispiel im politischen System der Vereinigten Staaten von Amerika der Fall sein dürfte. Denn dort befinden sich auf der einen Seite der unmittelbar vom Volk gewählte Präsident und die ihm zuzurechnende Exekutive und das Parlament mit seinen beiden Kammern auf der anderen Seite.
In einem derartigen System, in dem der Präsident sogar das Inkrafttreten von Parlamentsgesetzen mittels Veto aus eigener Machtvollkommenheit verhindern kann, kommt auch der Debattenkultur in einem Parlament eine ganz andere Bedeutung zu, als es eben im Modell der parlamentarisch verankerten Regierung der Fall ist.
Bei aller Liebe zu den USA, die ich durchaus habe, finde ich, dass sich unser parlamentarisches System an der Stelle auch für unser Land bewährt hat.
Im System der parlamentarisch verankerten Regierung wählt nämlich das Parlament – in NordrheinWestfalen geschieht dies auf der Grundlage von Art. 52 Abs. 1 unserer Landesverfassung – die Ministerpräsidentin bzw. den Ministerpräsidenten.
Hier in NRW, anders zum Beispiel als im Deutschen Bundestag, muss der oder die Gewählte sogar selbst Mitglied des Parlamentes sein, in gewisser Weise auch eine in Kauf genommene Durchbrechung der strikten Gewaltenteilung. Für die parlamentarische Arbeit und die parlamentarischen Strukturen sind die Mehrheitsverhältnisse innerhalb des Parlamentes von hoher Bedeutung. Nur der- oder diejenige, dem die Parlamentsmehrheit vertraut, kann das Amt des Regierungschefs innehaben.
Die Verfassung überantwortet dem Parlament im Sinne des Gewaltenteilungsgrundsatzes die Kontrolle der Regierung, funktionell damit auch den Abgeordneten der regierungstragenden Fraktionen,
entscheidend aber den Abgeordneten der Opposition, und gibt ihnen auch Minderheitenrechte, um diese Kontrolle auch ausüben zu können. Die Trennlinien verlaufen bei Statusgleichheit im Mandat zwischen der Regierung und der oder den sie tragenden Fraktionen auf der einen und den Oppositionsfraktionen auf der anderen Seite.
Besonders anschaulich hat diese Struktur das Bundesverfassungsgericht mit seiner Entscheidung aus dem Jahr 2005 zur vorzeitigen Auflösung des 15. Deutschen Bundestages aufgezeigt. Ich darf daraus zitieren:
„In diesem Verhältnis zwischen der Regierung und einer ihr personell und sachlich verbundenen Parlamentsmehrheit einerseits und der in Opposition zur Regierung stehenden parlamentarischen Minderheit andererseits entfaltet sich der parlamentarische Willensbildungsprozess. Dieser Prozess wird durch Fraktionen im Bundestag maßgeblich geformt und gestaltet.“
„Der Bundeskanzler ist aber regelmäßig in besonderem Maße auf eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit dem oder den Fraktionsvorsitzenden der ihn tragenden Mehrheit im Parlament angewiesen. Die Führung der Fraktion wird darauf hinwirken, dass aus der Freiheit des Mandats ein wirksamer und einheitlicher Wille erwächst, der im Fall der die Regierung unterstützenden Fraktionen mit der Konzeption der Bundesregierung vereinbar ist.“
„Grundsätzlich bedürfen der Bundeskanzler und seine Regierung einer verlässlichen parlamentarischen Mehrheit. Verlässlich bedeutet in diesem Zusammenhang, dass der Kanzler für das von ihm vertretene politische Konzept eine prinzipielle und ausreichende parlamentarische Unterstützung erwarten darf.“
So das Bundesverfassungsgericht. Eine derartige verfassungsrechtliche Konzeption verlangt, dass eine Politik, deren Richtlinien nach dem Grundgesetz der Bundeskanzler und nach der Landesverfassung der Ministerpräsident bestimmt, im Parlament in erster Linie erklärt, öffentlich debattiert und auch kontrovers erörtert wird. Die von der parlamentarisch verankerten Regierung gewählten politischen Ansätze und Ziele müssen der öffentlichen Debatte standhalten, sich der Kritik der Opposition stellen und sich vielleicht auch entgegenhalten lassen, nicht immer die optimale oder sachgerechte Lösung darzustellen. Dies aufzuzeigen, ist das parlamentarische Recht und die parlamentarische Aufgabe der Oppositionsfraktionen.
Unverfrorenheit, die Debatten in diesem Haus als Showdebatten zu verunglimpfen, deren Ausgang von elitären Zirkeln in Partei- und Fraktionsspitzen prädeterminiert sei. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer entrollt denn Transparente und trägt sie als T-Shirts? Ist das nicht viel eher ein Beitrag zu einer Showdebatte?
Insofern erlaube ich mir den Hinweis, dass ich es nicht für sinnvoll und für zielführend erachte, wenn parteiliche Herausforderungen hier auf den Parlamentarismus im Ganzen übertragen werden.
Sie haben selbst Ansätze benannt, die der aktuellen gesellschaftlichen und technologischen Entwicklung auch entsprechen, die Umsetzung der Kremser Erklärung, die Liveübertragung von Sitzungen im Internet, die Verwendung persönlicher Begrüßungsformeln und zum Beispiel auch das gerade wiederholt genutzte Instrument der Kurzintervention. Das sind alles Veränderungen, in Ihrem Sprachgebrauch Modernisierungen, die hier im nordrhein-westfälischen Parlamentarismus auch gezeigt haben, dass er eben nicht starr und unveränderlich ist, informelle Regeln enthält. Er hat aber das zu respektieren, was die Verfassung vorgibt.
Wenn Sie mit dem Antrag hier versuchen, ein Bild zu vermitteln – das passiert –, mit dem Sie die repräsentative Demokratie als antiquiert oder überholt darstellen, dann, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen der Piraten, widerspreche ich Ihnen ganz ausdrücklich.
Mit der Skizzierung eines solchen nicht zutreffenden Bildes spielen Sie – ich unterstelle Ihnen gar nicht, dass Sie das wollen – letztlich jenen Kräften in die Hände, die den Parlamentarismus, der sich als die stabilste Form in unserer Geschichte erwiesen hat, ablehnen.
Wir werden der Überweisung des Antrags zustimmen. Ich teile aber ausdrücklich nicht die Feststellungen in Ihrem Antrag und auch nicht die Forderungen. – Vielen Dank.
Vielen Dank, Frau Freimuth. – Wenn Sie noch einmal zum Pult zurückkämen, wäre das freundlich. Herr Dr. Paul hat eine Kurzintervention angemeldet. Wir wollen natürlich auch die dritte Kurzintervention heute hier nutzen. – Herr Dr. Paul, bitte.
Vielen Dank, Herr Präsident! Frau Freimuth, ich möchte Sie um eine Erklärung bitten. Sie haben am 31. Januar 2009 die Debatte um die WestLB hier im Plenum eine traurige Showdebatte genannt, und gerade eben kritisieren Sie, dass wir diesen Begriff im Antrag verwendet haben. Können Sie mir sagen, wie das für Sie zusammenpasst?
Lieber Herr Kollege Paul, es ist eine Auseinandersetzung hier innerhalb des Parlamentes gewesen. Insofern habe ich an der Stelle auch die Debatte innerhalb des Parlamentes, das, was einzelne Kollegen auch gemacht haben, mit dieser Beschreibung gemeint.
Ich will Ihnen aber durchaus noch eines mit auf den Weg geben, weil mir das vorhin beim Kollegen Bayer aufgefallen ist. Die Kurzintervention bietet auch die Möglichkeit, zu verschiedenen Dingen eine Aussage zu treffen.
Herr Kollege Bayer, die Mehrheit, auch in einem Parlament, hat nicht immer recht. Die Minderheit hat aber auch nicht automatisch das moralische Recht auf ihrer Seite. – Vielen Dank.
Vielen Dank, Frau Freimuth. – Ich habe noch einen Redner auf der Liste, und das ist der Kollege Marsching von der Fraktion der Piraten, der Fraktionsvorsitzende.
Vielen Dank, Herr Präsident! Ich habe so viel mitgeschrieben. Ich weiß gar nicht, ob ich das in 3:50 Minuten hinbekomme.
Demokratie ist die beste aller Regierungsformen – frei nach Churchill –, und zwar so lange, bis wir eine bessere gefunden haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauer auf der Tribüne und zu Hause! Ich möchte auf drei Punkte eingehen, die der Kollege Bayer gerade genannt hat.
Ja, Herr Kollege Hendriks, frei reden nach Stichwortzetteln. Ich versuche das einmal einigermaßen, auch bei so vielen Notizen.
Punkt eins: Es wurde über die Offenheit geredet. Die Offenheit, die wir uns vorstellen, ist aber auch, so aufzutreten, wie man auf der Straße aufgetreten ist, sich den Menschen so darzustellen, wie man sich draußen auf der Straße darstellt, und das Parlament nicht nur als teuerstes Theater Nordrhein-Westfalens zu verstehen, wo jeder seine Rolle spielt, und dann geht man hinterher raus, und draußen macht man etwas völlig anderes.
Offenheit, meine Damen und Herren, ist eben auch die Offenheit gegenüber Mindermeinungen. Das ist auch die Offenheit gegenüber etwas Neuem, gegenüber etwas Ungewohntem, dass man sich Argumente anhört, dass man die nicht weglacht.
Heute Morgen bei der Aktuellen Stunde – ich hatte mich kaum hingesetzt; die Aktuelle Stunde fing an – war es das beste Beispiel. Da waren die Kolleginnen und Kollegen von den rot-grünen Fraktionen so laut, dass man den Redner von der Oppositionsfraktion fast gar nicht verstehen konnte. Und ich sitze drei Meter davon entfernt.