Eine Studie bringt einen weiteren interessanten Aspekt zutage. Hatten Grundschulkinder für ihre freien Lesestunden in der Schule neben Büchern auch elektronische Medien zur Auswahl, waren die geschlechtsspezifischen Differenzen deutlich geringer ausgeprägt. Das medial erweiterte Lektürenangebot scheint also besonders für Jungen aktivierend zu sein.
Es bestätigt sich, was wir aus vielen vorausgegangenen Studien bereits wissen: dass das Geschlecht einerseits und die Bildung andererseits zu einem großen Teil darüber entscheiden, ob gewohnheitsmäßig eher viel oder eher wenig gelesen wird – wobei Mädchen auf jedem Bildungsniveau deutlich mehr lesen.
Die Tragweite dieser Entwicklungstendenzen wird deutlich, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass Lesekompetenz der Schlüssel zur kompetenten Nutzung aller anderen Medien ist. Als wirksamste Medienpädagogik darf also ein effizienter Leseunterricht bezeichnet werden.
Alle Mediennutzungsstudien der letzten Jahre belegen eindeutig eine Tatsache: Computer- und Videospiele sind ebenso wie das Lernen fiktionaler Literatur eine Form geschlechtsspezifischer Mediennutzung. Der Beliebtheit des Lesens bei den Mädchen entspricht die Beliebtheit von Bildschirmspielen bei den Jungen. Der alte Streit der Medienforschung, ob die neuen Medien die alten verdrängen oder ergänzen, muss tendenziell geschlechtsspezifisch differenziert werden. Während Mädchen die neuen Medien eher ergänzend nutzen, findet vor allem bei den Jungen eine Ersetzung oder Verdrängung von Printmedien durch Bildschirmmedien statt.
Weil die Schule eine vollkommen unzulängliche Leseförderung betreibt, verstärkt sie diesen Trend. Insbesondere der Lese- und Literaturunterricht im Fach Deutsch ist an veralteten Vorstellungen orientiert und weitgehend unzeitgemäß.
Dass sich die Interessen und Bedürfnisse von Jungen und Mädchen unterscheiden, ist wohl kein neuer, sondern ein alter Sachverhalt. Tatsache ist: Mädchen bevorzugen Beziehungsgeschichten, Jungen Spannung und Action. Harry Potter ist deshalb so erfolgreich, weil diese Geschichte beiden Geschlechtern etwas zu bieten hat.
Während früher auch die Jungen die Mühen des Lesens auf sich nehmen mussten, um ihre bevorzugten Geschichten zu lesen, können sie sich heute diese Mühen leicht ersparen, indem sie
Zur geschlechtsspezifischen Leseförderung ist Voraussetzung – wobei hier vor allem die Jungen als die primäre Adressatengruppe anzusehen sind –, dass sich die Männerbilder in unserer Gesellschaft wandeln. Die Arbeit an den Frauenbildern hat die neuere Frauenbewegung in den letzten Jahrzehnten schon geleistet. Die Arbeit an einer wirklichen Geschlechterdemokratie wird darum ein langfristiges gesellschaftliches Projekt bleiben, an dem wir alle gemeinsam arbeiten müssen, meine Damen und Herren.
Kurzfristig können und müssen wir daran arbeiten, dass in den Schulen im Verbund mit den öffentlichen Bibliotheken eine kontinuierliche und systematische Leseförderung betrieben wird, und zwar von Klasse 1 bis 12 oder 13.
Ich weiß. – In keinem anderen Land versagt die Schule so gründlich in ihrer Aufgabe, für alle Kinder die gleichen Chancen einer qualifizierten Bildung und Ausbildung herzustellen, wie in Deutschland. In den Schulen muss mehr gelesen werden.
Ich verkürze es jetzt. – Geschlechtssensible Leseförderung ist damit die preiswerteste Zukunftsinvestition, meine Damen und Herren. – Vielen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin Schneppe. – Als nächste Rednerin hat für die Fraktion der FDP die Kollegin Piepervon Heiden das Wort. Bitte schön, Frau Kollegin.
Danke. – Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! Frau Beer, das rosa-hellblaue Naturgesetz scheint es doch irgendwie zu geben. Die „ZEIT“ hat vor einigen Monaten ja auch darüber berichtet.
Ich freue mich, dass die Grünen sich nun tatsächlich auch einmal Gedanken um die Jungen machen. In den ganzen Jahren zuvor war das ja doch eine ganz andere Geschichte.
Als mein Sohn zur Schule ging, gab es hier in Nordrhein-Westfalen – seinerzeit hat die SPD ohne Ihre Beteiligung alleine regiert – tatsächlich ein Programm, bei dem es darum ging, wie Mädchen raufen und Jungen weinen lernen. Also: Wie bringt man dem Schwein das Fliegen bei?
Nein. Ich finde es ganz wichtig, tatsächlich auch auf die ganz individuellen Bedürfnisse Rücksicht zu nehmen
und auch dort Motivation zu erzeugen, wo das am allerbesten möglich ist. Dass Sie bei dieser Erkenntnis angekommen sind, freut mich wirklich sehr.
Allerdings verwundert mich an dem vorliegenden Antrag etwas, dass Sie sich nun ausgerechnet als Grüne plötzlich für die Förderung des Lesens – und dies geschlechtersensibel – in die Bresche werfen; denn ich kann mich noch gut an die Zwischenrufe von den Oppositionsbänken erinnern – gerade auch aus Ihren Reihen, Frau Beer –, als ich bei der Aktuellen Stunde zu den schädlichen Folgen eines überhöhten Medienkonsums auf die Notwendigkeit des Lesens hingewiesen habe. Dort haben die Grünen Zeter und Mordio geschrien,
als ich darauf verwiesen habe, dass es in allen Haushalten – auch in sozial prekären Haushalten – wichtig ist, einmal auf den Fernseher und die PlayStation zu verzichten und das Geld in ein Buch oder Bücher zu investieren.
Meine Damen und Herren, 52 % der Jungen lesen nach eigener Auskunft nur, wenn sie es müssen. Mädchen erzielen in Mathematik schwächere Leistungen. Diese vorhandenen geschlechtsspezifischen Unterschiede wurden auch noch einmal anhand der nordrhein-westfälischen Vergleichsarbeiten deutlich.
Da die Lesekompetenz eine grundlegende Voraussetzung für eine erfolgreiche schulische Entwicklung ist, haben CDU und FDP in ihrem Antrag „Jungen fördern – ohne Mädchen zu benachteiligen“ diesen Aspekt ja schon in den Mittelpunkt gestellt.
Bereits in Grundschulen, aber auch an weiterführenden Schulen muss die Leseförderung – speziell auch die der Jungen – ein zentrales Element der individuellen Förderung sein.
Bereits eine Vielzahl von Schulen haben eigene Konzepte zur geschlechtssensiblen Förderung von Jungen und Mädchen entwickelt, für die das Ministerium Handreichungen bereitgestellt hat. Regelmäßig gibt es hierzu auch Kongressangebote mit Fortbildungsmöglichkeiten für Lehrkräfte.
Weitere Projekte zur Leseförderung wie „ZeitungsZeit“ oder das „Lesefitness-Training“, regionale Projekte wie „jugendstil“ in Dortmund und das „Junge Literaturhaus“ in Köln, um nur einige zu nennen, ergänzen die Leseangebote, die auch die Jungen ansprechen.
Ich möchte aber auch noch einmal auf die Verantwortung der Eltern verweisen. Die Schule und die Gesellschaft können nicht die frühzeitige Erfahrung durch das Vorlesen und die Förderung der Freude am Lesen durch ein Vorleben der Eltern ersetzen.
Dies gilt besonders auch bei Jungen. Das geringere Interesse von Jungen am Lesen kann auch mit mangelnden Vorbildern zusammenhängen.
Diesen Weg, den wir schon vor längerer Zeit beschritten haben und im Zusammenhang mit dem es auch viele Angebote gibt, müssen wir konsequent weitergehen. Das Problem ist erkannt. Die Maßnahmen sind eingeleitet. Es befindet sich alles auf gutem Weg. Deswegen brauchen wir diesen Antrag nicht. Wir haben vor fast einem Jahr bereits einen eigenen Antrag vorgelegt.
Ich finde es wichtig, tatsächlich auf die geschlechterspezifische Herangehensweise Rücksicht zu nehmen, dabei aber bitte nicht außer Acht zu lassen, dass sich 10 oder 15 % der Mädchen für das, was Sie Jungenliteratur nennen, begeistern, und auch umgekehrt ist das so. Das sollten wir im Blick haben: nicht allein das Geschlecht, sondern auch die persönliche Interessenlage, die Motivation. Da gibt es Mädchen, die ticken wie Jungen, und Jungen, die ticken wie Mädchen. – Danke schön.
Vielen Dank, Frau Kollegin Pieper-von Heiden. – Für die Landesregierung hat nun Frau Ministerin Sommer das Wort. Bitte schön, Frau Ministerin.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sie, verehrte Damen und Herren von Bündnis 90/Die Grünen, stellen die Jungenförderung in den Mittelpunkt. Das kann ich nur begrüßen.
Das von Ihnen geforderte Handlungskonzept zur Jungenförderung existiert aber bereits. Ich verweise auf die Eckpunkte eines Handlungskonzeptes vom Mai 2007, vorgestellt im Zusammenhang mit dem Antrag der Koalition „Jungen fördern, ohne Mädchen zu benachteiligen“. Dieses Konzept wird umgesetzt.
Zu Recht verweisen Sie darauf, Frau Beer, dass die individuelle Förderung im Mittelpunkt steht. Ich gebe Ihnen auch recht, dass wir das sehr deutlich unter dem geschlechterspezifischen Aspekt sehen müssen. Jungenförderung, Leseförderung, aber auch Mädchenförderung spielen in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. Ich verweise auf den Antrag der Koalition „Jungen fördern, ohne Mädchen zu benachteiligen“ aus dem vergangenen Jahr. Das sagt doch alles.
Berichte zu unserem Kongress – sie wären als weitere Lektüre empfehlenswert – zur Jungenförderung in Köln und zum Bildungskongress zur Leseförderung im vergangenen Jahr sind ebenfalls wichtige Beiträge.
Zahlreiche Initiativen und Projekte – Frau Piepervon Heiden hat schon darauf hingewiesen – unterstützen die engagierte Arbeit der Lehrerinnen und Lehrer. Ich meine, Frau Schneppe, die Lehrerinnen und Lehrer tun nicht zu wenig. Sie arbeiten auch im Bereich der Leseförderung, gerade in den Grundschulen, nicht zu wenig. Ich glaube, wir müssen sie nur darin unterstützen, auch das Richtige, das geschlechtsspezifisch Richtige zu tun.