Protocol of the Session on June 14, 2007

Vielen Dank, Herr Kollege Killewald. – Für die FDP erhält jetzt der Herr Abgeordnete Lindner das Wort. Bitte schön.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Ich sehe auf der Besuchertribüne viele ältere Damen und Herren, die dieser Debatte folgen. Das will ich zum Anlass nehmen, auf eine mich sehr besorgende Veränderung hinzuweisen, die sich in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten in Deutschland vollzogen hat.

In den 50er-, 60er- und 70er-Jahren konnten Menschen – egal welcher Herkunft sie waren –

durch harte Arbeit, Fleiß und Einsatz ihre ganz individuelle Lebenssituation verbessern. Sie konnten sich sozialen Aufstieg erarbeiten. Wir hatten in unserer Gesellschaft Aufwärtsmobilität.

Genau dort liegt das Problem, das wir heute zu diskutieren haben, wenn es um Armut in Deutschland geht. In Wahrheit geht es an dieser Stelle doch nicht um materielle Armut in Deutschland. Wie rechnet sich der Armutsbegriff denn? Wir haben einen relativen Armutsbegriff, der sich am Durchschnittseinkommen orientiert. Deshalb gibt es keine materielle Armut, sondern eine relative Armut.

Die bestehende Armut ist eine immaterielle, ideelle Armut, die sich auf Chancen und auf Bildung bezieht und die den Menschen die Möglichkeit nimmt, durch Fleiß und Tatkraft ihre Situation selbst zu verbessern. Wer nicht über Qualifikation verfügt, hat nämlich gar keine Möglichkeit, sich ins Erwerbsleben zu integrieren und durch Beschäftigung Lebenstüchtigkeit zu erhalten.

Vor einiger Zeit hat die Chefin der Regionaldirektion Nordrhein-Westfalen der Bundesagentur für Arbeit der „taz“ ein Interview gegeben. Darin hat sie auf einen Fall hingewiesen, der sich in Nordrhein-Westfalen jeden Tag tausendfach ereignet – auf ein kleines Mädchen, das berichtet, dass es in seinem Stadtteil morgens um halb acht der einzige Mensch auf der Straße ist, weil alle anderen noch in den Federn liegen. Die Menschen dort haben nämlich gar keinen Zugang mehr zum Erwerbsleben. Das überträgt sich auch auf die Kinder, die dann ebenfalls Motivationsdefizite erfahren. Warum soll das kleine Mädchen denn als Einzige in die Schule gehen, wenn alle anderen noch zu Hause bleiben können – vielleicht nicht wollen, aber zumindest können?

Hier liegt doch der Kern des Problems. Wir müssen dafür Sorge tragen, dass wir Menschen in Arbeit bekommen. Wenn wir über Kinderarmut sprechen, müssen wir also über die Armut von Familien und die Entfernung vom Arbeitsmarkt sprechen.

Lieber Kollege Killewald und liebe Kollegin Asch, fraglos kann dort auch eine ganze Menge Unterstützung von den Wohlfahrtsverbänden geleistet werden. Möglicherweise haben wir auch marginalisierte Menschen, Obdachlose. Auch dort ist viel zu tun.

Die Kernfrage lautet aber: Wie bekommen wir Menschen in Arbeit? – Eine entsprechende Politik verschreibt sich besten sozialen Ergebnissen und nicht besten sozialen Ankündigungen und besten sozialen Absichten.

Herr Killewald, das ist auch der Unterschied zwischen der deutschen Sozialdemokratie und den erfolgreichen Sozialdemokraten im europäischen Ausland, die sich nicht mehr damit begnügen, sich nur mit Verbänden zu beschäftigen, sondern ihr politisches Handeln konkret verändert haben

(Britta Altenkamp [SPD]: Wen meinen Sie?)

und sagen: Zu sozialen Rechten gehören soziale Pflichten.

(Rüdiger Sagel [GRÜNE]: Was ist denn in Frankreich auf der Straße los? Haben Sie sich das einmal angeguckt?)

Deren oberste Direktive ist: Wir wollen die Integration in den Arbeitsmarkt verbessern.

(Beifall von der FDP)

Das ist eine aufgeklärte, im Übrigen auch linke Politik. Die deutsche Sozialdemokratie hat diesen Erneuerungsprozess in den 80er-Jahren nicht geschafft.

(Zuruf von Rüdiger Sagel [GRÜNE])

Lieber Herr Sagel, von Ihrer Partei hören wir immer so tolle Sachen. Die Grünen sind auch die Partei, deren Wähler das höchste Durchschnittseinkommen haben.

(Zuruf von Andrea Asch [GRÜNE])

Daher können Sie es sich erlauben, fortwährend Steuern zu erhöhen. Ihre Wähler können das bezahlen. Die Menschen, die nicht – wie die Mehrzahl Ihrer Wähler – im öffentlichen Dienst beschäftigt sind und im Wettbewerb, auch im internationalen Wettbewerb, noch hart arbeiten müssen, sehen aus einer anderen Perspektive auf die Probleme als Sie. Mit Verlaub!

(Beifall von der FDP – Zuruf von Frank Si- chau [SPD])

Und wie Ihr ganzer Antrag wieder recherchiert worden ist! Vor diesem Hintergrund beklagt die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hier zu Recht, dass wir mehr für die Schulsozialarbeit tun müssten.

(Zuruf von Frank Sichau [SPD])

Lieber Herr Sichau, eine Wissensfrage: Sie waren ja in der 13. Wahlperiode dabei.

(Frank Sichau [SPD]: Ja!)

War es die rot-grüne Landesregierung, die 100 Stellen von Schulsozialarbeitern für das Jahr 2006 kw gestellt hat? Oder waren etwa wir das? – Das waren Sie.

(Beifall von FDP und CDU)

Wir haben die kw-Vermerke nach der Landtagswahl aufgelöst. Ohne den Regierungswechsel gäbe es in Nordrhein-Westfalen am heutigen Tag 100 Schulsozialarbeiter weniger.

(Frank Sichau [SPD]: Nein!)

Natürlich; kw-Stellen.

Sie haben in Ihrem Antrag nicht mit einem einzigen Wort erwähnt, dass wir in Stadtteilen mit besonderem Erneuerungsbedarf mit einem 4,5-Millionen-€-Programm die informellen Bildungsangebote stärken – gerade dort, wo es um benachteiligte Jugendliche geht.

An dieser Stelle will ich mich auch noch einmal zum Thema Schulessen positionieren.

(Sigrid Beer [GRÜNE]: Ja, dafür haben Sie Zeit!)

Ich halte es für sinnvoll und richtig – denn das ist auch ein Teil der pädagogischen Arbeit von offenen Ganztagsschulen und Kindertageseinrichtungen –, ein gemeinsames Essen einzunehmen.

Wir müssen aber auch zur Kenntnis nehmen, dass es durchaus Eltern gibt, die könnten, aber nicht wollen. Ich mache regelmäßig Hospitationen in Einrichtungen, bin also nicht nur zum Kaffee da, sondern bleibe einige Tage und arbeite mit. Ich habe selbst gesehen, dass ein Kind, dessen Eltern ihm die Teilnahme am Mittagessen aus finanziellen Gründen vorenthalten wollten, zwei Tage nacheinander mit einem Taxi abgeholt worden ist.

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage Ihrer Kollegin Asch?

Am Ende dieses Gedankens gerne.

Gut. Geben Sie mir dann bitte ein Zeichen.

In diesem Fall wäre es mit Sicherheit möglich gewesen, das Mittagessen zu bezahlen.

Deshalb wäre ich, bevor wir den Hartz-Regelsatz erhöhen,

(Rüdiger Sagel [GRÜNE]: Taxigeld!)

eher dafür, das Mittagessen – auch zulasten der Kommunen; sie würden schließlich auch von der Nichterhöhung des Regelsatzes profitieren; das

kann man ja finanzieren – generell beitragsfrei zu gestalten, ohne aber den Umweg zu gehen, diesen Betrag an die Eltern auszuzahlen.

Jetzt hätte ich Zeit für eine Zwischenfrage, Herr Präsident.

Sehr schön. – Bitte sehr, Frau Asch.

Herr Lindner, vielen Dank, dass Sie mir die Gelegenheit geben, eine Zwischenfrage zu stellen. – Sie verweisen ja immer gerne auf die früheren Zeiten der rot-grünen Landesregierung. Seit zwei Jahren haben aber Sie die Regierungsverantwortung in NordrheinWestfalen inne. Ist Ihnen bewusst, dass sich der Anstieg der Kinderarmut in diesem Land auch in diesen zwei Jahren fortgesetzt hat, Herr Lindner?

Außerdem frage ich Sie – diese Frage wollte ich eben Herrn Kern stellen; er hat sie leider nicht zugelassen –: Wenn Ihre Politik so toll und positiv ist, wie Sie das hier darstellen, und Sie so viele Maßnahmen eingeleitet haben, woran erkennen wir das, besonders in Bezug auf die Zahlen zur Kinderarmut?

Liebe Frau Asch, ich hatte ja versucht, bereits in meiner etwas umfänglichen Einleitung darzulegen, dass das Kernproblem die Armutssituation von Familien insgesamt ist und dass das im Übrigen keine materielle Armut, sondern eine immaterielle Armut ist. Da liegt genau das Problem. Da wenden Sie sich ab. Das wollen Sie nicht wahrhaben. Aber das ist das Problem.

(Minister Armin Laschet: Sie weiß gar nicht, was das ist!)

Armut in Deutschland ist nicht die gleiche Armut wie in Südostasien. Da besteht ein erheblicher Unterschied.