Meine Damen und Herren! Ich heiße Sie herzlich willkommen zur heutigen, 55. Sitzung des Landtags NordrheinWestfalen. Mein Gruß gilt auch unseren Gästen auf der Zuschauertribüne sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Medien.
Für die heutige Sitzung haben sich 16 Abgeordnete entschuldigt; ihre Namen werden in das Protokoll aufgenommen.
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat mit Schreiben vom 5. März 2007 gemäß § 90 Abs. 2 der Geschäftsordnung zu der genannten aktuellen Frage der Landespolitik eine Aussprache beantragt.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner vonseiten der antragstellenden Fraktion Herrn Becker das Wort. Bitte schön.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Das Bahnnetz steht vor dem Kollaps“ – das war die Überschrift diverser Artikel am 27. Februar 2007, in denen über die katastrophalen Ergebnisse des Prüfungsberichtes des Bundesrechnungshofes berichtet wurde.
„Das Bahnnetz steht vor dem Kollaps“ – diesen Eindruck muss man bekommen, wenn man die täglichen Verspätungen und das Bummeln auf den Langsamfahrstellen sieht. Und: „Das Bahnnetz steht vor dem Kollaps“ – dieser Eindruck drängt sich auf, wenn wir Nachrichten hören wie die von heute Morgen, als im WDR berichtet wurde, dass gestern zwischen Hagen und Siegen ein Güterzug mit Gefahrgut entgleist ist und nun auf der Bahnstrecke Sperrungen für unbestimmte Zeit drohen.
Meine Damen und Herren, aus meiner langjährigen politischen Tätigkeit kann ich eines feststellen: Ich habe noch nie einen derartig deutlichen,
noch nie einen derartig klaren und offenen Prüfbericht gelesen wie diesen, einen Prüfbericht, in dem sich jede Seite wie ein Krimi liest. Und meines Wissens hat auch noch kein Bericht des Bundesrechnungshofes ein derartiges Medienecho gefunden. Wir alle wissen oder müssten wissen, dass das, was der Bundesrechnungshof anklagt, für Bahnreisende alltägliche Realität ist.
Alltägliche Realität sind Verspätungen bei den SBahnen und Regionalexpresszügen, und alltägliche Realität sind baufällige, stark sanierungsbedürftige Bahnhöfe insbesondere außerhalb der Großstädte.
Meine Damen und Herren, ich möchte klar betonen: Diese Realität hat nichts mit dem Sturm Kyrill und dem Ausfall der Bahnen danach zu tun, und diese Realität hat auch nichts mit dem seinerzeitigen Schneechaos im Münsterland zu tun. Diese Realität hat auch nichts damit zu tun, dass über die Bahn überraschend ein Sanierungsbedarf hereingebrochen wäre, weil sie plötzlich festgestellt hat, dass auf der Bahn Güterverkehr stattfindet. Nein, diese täglich erlebte Realität hat damit zu tun, dass die Bahn die Instandhaltung des Netzes chronisch vernachlässigt hat.
Meine Damen und Herren, die Realität, die wir als Fahrgäste täglich erleben, hat damit zu tun, dass, wie der Bundesrechnungshof festgestellt hat, alleine in den letzten fünf Jahren ein Instandhaltungsrückstand von mindestens 1,5 Milliarden € aufgelaufen ist.
Übrigens: Schon im Jahre 2000 hat der Bundesrechnungshof festgestellt, dass die Bahn ihren Verpflichtungen bei der Unterhaltung des Netzes nicht gerecht wird, und im Jahre 2001 hat eine Arbeitsgruppe des Bundesverkehrsministeriums unter Beteiligung der Bahn und des Eisenbahnbundesamtes einvernehmlich festgestellt, dass jährlich 1,6 Milliarden € notwendig seien, um das Netz in Schuss zu halten. Der nun festgestellte Rückstand aus den letzten fünf Jahren beträgt alleine bei dem Netz 1,5 Milliarden €.
Meine Damen und Herren, mit einem derartigen Rückstand bei der Unterhaltung ruiniert die Bahn das Netz.
Ich will die Ergebnisse einmal kurz zusammenfassen: Ein wesentlicher Indikator für den Zustand des Schienennetzes sind Mängelstellen, die nur mit verminderter Geschwindigkeit befahren werden dürfen. Diese haben sich bis zum Jahr 2002 auf 2.300 Stellen summiert. Dabei weist der Rechnungshof zu Recht darauf hin, dass das nur die halbe Wahrheit ist. Denn in der Statistik der Langsamfahrstellen tauchen nur die Stellen auf, die bei einem Fahrplanwechsel nicht als Langsamfahrstellen eingeplant sind, das heißt, wo die Bahn nicht nach Plan langsam fährt. Diese Langsamfahrstellen tauchen also nach Fahrplanwechsel überhaupt nicht mehr in der Statistik auf, sondern nur in dem internen Bericht zum Verzeichnis der Geschwindigkeiten – VzG.
Meine Damen und Herren, sicherheitsrelevante Mängel wurden festgestellt. Warnanlagen für heißlaufende Bremsen und Radlager sind defekt und werden nicht repariert. Gleisabstände stimmen nicht und führen zu Streckensperrungen, gar Entgleisungen. Bei den Brückenbauwerken sind sage und schreibe nur 25 % der notwendigen Instandhaltungsmittel investiert worden. Insgesamt hat die Bahn 2,7 Milliarden € zu wenig ausgegeben.
Wer sich den Qualitätsbericht zum SPNV anschaut, der stellt fest, dass das, was wir in Nordrhein-Westfalen auf Wunsch und Drängen der Grünen eingeführt haben, bitternötig war, nämlich ein jährlicher Bericht, und der weiß auch, dass das alles etwas mit Nordrhein-Westfalen zu tun hat.
Wir sehen: In Nordrhein-Westfalen ist es nicht anders. Wir haben mehr als 20 % des Streckennetzes des Bundes in Nordrhein-Westfalen. In diesem Zusammenhang ist der dringende Handlungsbedarf auch ein Handlungsbedarf für Nordrhein-Westfalen.
Vielleicht weist der Minister gleich wieder darauf hin, dass dies alles alleine eine Angelegenheit der Bundesregierung sei. Aber das, Herr Minister, können wir und kann die Bevölkerung Ihnen nicht durchgehen lassen.
Diese Landesregierung ist aufgefordert, den Menschen im Lande zu sagen, und zwar heute und konkret, welche Schritte sie unternehmen will, damit die Bahn die Missstände beseitigt, und zwar in einer möglichst schonenden und zumutbaren Art für die Fahrgäste in Nordrhein-Westfalen.
sem Haus besteht –: Die Schieneninfrastruktur darf beim Börsengang der Bahn nicht im Konzern verbleiben.
Wer wie Herr Mehdorn schon jetzt das Schienennetz derart verkommen lässt, wie das der Fall ist, um seine Bilanz für den Kapitalmarkt zu vergolden, darf das Schienennetz nicht unter Kontrolle eines Privatkonzerns bekommen.
Meine Damen und Herren, der Bericht des Bundesrechnungshofs ist noch einmal ein glasklares Plädoyer für die Trennung von Netz und Betrieb.
Die Schieneninfrastruktur muss erhalten und gepflegt werden. Das ist Daseinsvorsorge im besten Sinne und gehört in die Hände des Staates und nicht eines Unternehmens, das nicht verantwortungsvoll damit umgehen kann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die grundsätzlichen Vorwürfe des Bundesrechnungshofs zur Instandhaltung des Schienennetzes sind berechtigt. Das Infrastruktureigentum des Bundes wurde in den vergangenen Jahren nicht mit der erforderlichen Sorgfalt behandelt. Die Zeche muss nunmehr von Steuerzahlern und Bahnkunden bezahlt werden. Sie muss nämlich für teure Ersatzinvestitionen aufgebracht werden, weil zeitnahe und vorbeugende Instandhaltungsmaßnahmen unterlassen wurden. Darüber hinaus wird der Zugverkehr unter Einschränkungen leiden, weil künftig Sanierungsgroßbaustellen an der Tagesordnung sein werden. Deswegen muss der Bund seine Anstrengungen zur Steuerung und Kontrolle des Unternehmens DB AG bei der Verwendung öffentlicher Mittel und der Unterhaltung der Infrastruktur erheblich verstärken.
Der Begründung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zum Antrag auf die Aktuelle Stunde ist ausnahmsweise zuzustimmen. Das Bahnnetz der Deutschen Bahn AG ist aufgrund nicht getätigter Instandsetzungsinvestitionen marode. Auf Nordrhein-Westfalen werden in diesem Jahr Instandhaltungsmaßnahmen zukommen, die den Nah- und Fernverkehr erheblich belasten werden.
Der Bericht des Bundesrechnungshofs vom 20. Februar 2007 zeigt sehr deutlich, dass die Vorwürfe völlig berechtigt sind. Am letzten Freitag hat die Deutsche Bahn AG mit dem Zukunftsprogramm „ProNetz“ dem Verkehrsausschuss des Deutschen Bundestags ihr Konzept zur Sanierung des Infrastrukturnetzes vorgestellt, von dem wesentliche Schienenkorridore in NordrheinWestfalen betroffen sein werden.
Doch offensichtlich haben die Grünen – das ist zur Ergänzung der vollen Wahrheit erforderlich – für ihren Antrag nicht den richtigen Adressaten gefunden. Die originäre Zuständigkeit für die Bundesschienenverkehrswege liegt beim Bund, nicht aber in der Verantwortung der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen. Von daher ist die Frage – ich zitiere aus dem Antrag der Grünen –, „welche Konsequenzen und welche Schritte die Landesregierung vor dem Hintergrund der festgestellten Defizite unternehmen will“ in der Aktuellen Stunde falsch gestellt.
Der Bericht des Bundesrechnungshofes zeigt zudem Versäumnisse auf, deren Ursprung auf die Jahre 2001 bis 2005 zurückgeführt wird. Das betrifft Mängel, die bereits 2000 von der Arbeitsgruppe Instandsetzung ermittelt wurden. In diesem Zeitraum – das bitte ich zu bedenken, Herr Kollege Becker – lag die Regierungsverantwortung sowohl auf der Bundes- als auch auf der Landesebene bei Rot-Grün. Trotz Ihrer Schienenvorrangpolitik ist es den rot-grünen Regierungen in Berlin und Düsseldorf nicht gelungen, für eine ordnungs- und zeitgerechte Mittelverwendung zu sorgen.
Sie als Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wollen offensichtlich sowohl der schwarz-roten Regierung in Berlin als auch der schwarz-gelben Regierung in Düsseldorf Versäumnisse zuschieben, die Sie in Ihrer eigenen Regierungsverantwortung veranlasst oder, richtiger gesagt, offenen Auges gebilligt haben.
Durch den Bericht des Bundesrechnungshofs wird offensichtlich, dass die auch von Ihnen in der Regierungsverantwortung in Berlin erkämpften Mittel für die Schienenvorrangpolitik zur Absicherung des Börsengangs der Deutschen Bahn AG verwandt worden sind. Das war aus unserer Sicht keine zweckgerechte Verwendung. Sie haben das gebilligt und dürfen sich heute nicht als Ankläger hinstellen.
In Nordrhein-Westfalen wie auch in anderen Bundesländern werden die Kunden nun die Konsequenzen erdulden müssen, wenn die Sanierung der nur wichtigsten Infrastrukturengpässe innerhalb eines Jahres umgesetzt werden soll. Durch Langsamfahrstellen bedingte Verspätungen und zeitweise veränderte Fahrpläne werden in diesem Jahr bundesweit regelmäßig spürbare Konsequenzen für die Bahnbenutzer auftreten.
Meine Damen und Herren, die Arbeitsgruppe „Instandhaltung“, eine vom Bundesverkehrsministerium eingerichtete Arbeitsgruppe der Eisenbahninfrastrukturunternehmen und des Eisenbahnbundesamtes hat im Jahr 2000 Instandhaltungserfordernisse von jährlich 1,6 Milliarden € aufgezeigt. Für die Jahre 2001 bis 2005 bedeutet das einen Instandhaltungsbedarf von rund 8,2 Milliarden €. Tatsächlich wurden in diesem Zeitraum von der DB Netz nur 6,7 Milliarden € für Instandsetzungen aufgewandt. Das heißt, es fehlen rund 1,5 Milliarden €, die nicht in die Ertüchtigung des Bahnnetzes geflossen sind.
Auch konnte das Bundesverkehrsministerium seiner Aufgabe nicht nachkommen – das fällt wiederum in die Zeit Ihrer Regierungsverantwortung –, sicherzustellen, dass die Schieneninfrastruktur von den Eisenbahnunternehmen ordnungsgemäß instand gehalten werden. Durch den nun bestehenden Instandhaltungsstau besteht die Gefahr, dass für die weitere Instandhaltung des bundeseigenen Netzes zusätzliche Investitionen erforderlich sind, die zulasten des Bundeshaushalts gehen werden.