Protocol of the Session on June 21, 2006

Es ist nicht so, dass die Broschüre nur etwas längst Vergessenes war. Im Vorwort zu der Bro

schüre der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft aus Hessen – das stammt von 15. Mai 2006 – schreiben Ulrich Thöne und Jochen Nagel:

„Mit dieser Neuauflage erinnern wir an die Kritik des Deutschlandliedes aus dem Jahre 1989/90.“

Sie fahren dann fort – ich zitiere mit Erlaubnis der Präsidentin –:

„Die eine oder der andere mag sich fragen, warum die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft dies gerade zur Fußballweltmeisterschaft 2006 tut.“

Ich kann Ihnen nur sagen: Ich frage mich das auch.

Abgesehen davon, dass es denjenigen nicht früher eingefallen ist, hier die Stimme zu erheben, zeigt die jetzige Diskussion, wie eilig es manche plötzlich haben, auf sich aufmerksam machen zu wollen, weil sie in dieser Debatte keiner wahrnimmt.

In einer Stimmung, in der wir ein Bekenntnis zu unserem Land erleben, aber damit nicht gleich Nationalisten sind; in einer Stimmung, in der wir mit unseren Landesfahnen Farbe bekennen und uns in das Meer bunter Farben der Welt einreihen; in einer Stimmung, in der sich unser Land – möglicherweise viel zu selten – einmal als Ganzes versteht und nicht ein Riss quer durch die Gesellschaft geht, kommen dann – typisch deutsch vielleicht – Berufskritiker zu Wort.

Wenn wir mit unseren internationalen Gästen in diesen Tagen zusammenkommen und reden, dann merkt man: Viele Erwartungen an die Deutschen haben sich erfüllt. Wir haben die Spiele bisher gut organisiert, vieles ist bisher – Gott sei Dank – reibungslos verlaufen, die Vorbereitungen haben gestimmt, die Spiele beginnen pünktlich und geordnet. Das hat man – so sagt man uns – von den Deutschen eigentlich auch nicht anders erwartet.

Nicht erwartet hat man, dass die Deutschen so gastfreundlich sind. Nicht erwartet hat man, dass die Deutschen so eine gelassene Fröhlichkeit umgibt, und nicht erwartet hat man, dass es zu einer ansteckenden Herzlichkeit und Ausgelassenheit kommt. Wenn die Deutschen ihre Fahnen schwenken und die Hymne singen, dann hört man immer wieder: Ihr Deutschen seid ein Stück normaler geworden. – Ich finde, das ist ein schönes Kompliment in diesen Tagen.

(Beifall von CDU und FDP)

Wenn wir den anderen in den Stadien zuhören, wie sie ihre Mannschaften unterstützen, wenn wir hören, dass Zehntausende ihre Nationalhymne ganz am Anfang singen, mit ihrer Mannschaft kurz vor dem Anpfiff schmettern, und wenn wir wissen, dass die Deutschen zwar mit drei Siegen in Führung gegangen sind, dann wissen wir auch, dass wir beim Singen der eigenen Hymne noch den Anschluss an die anderen finden müssen.

Deutschland und wir in Nordrhein-Westfalen bekennen uns zu unserer Geschichte – insbesondere derjenigen unrühmlichen Jahre, in der die Nationalsozialisten die Geschichte torpediert haben. Wir haben das nicht vergessen. Dennoch gibt es in einem demokratischen Staat gefällte Entscheidungen, nach denen Bundeskanzler Adenauer und Bundespräsident Heuss 1952 und dann 41 Jahre später Bundeskanzler Kohl und Bundespräsident von Weizsäcker sowie das Bundesverfassungsgerichte durch Beschluss aus dem Jahre 1990 festgelegt haben, dass die Nationalhymne der Deutschen jene dritte Strophe von Hoffman von Fallersleben ist, die wir in diesen Tagen so häufig in den Stadien unseres Landes hören.

Ich finde bei aller Notwendigkeit dieser Diskussion, man sollte ernsthaft deutlich machen: Wer hier suggerieren möchte, dass das Lied den Geist des Nationalsozialismus transportiere,

(Sylvia Löhrmann [GRÜNE]: Wer tut das denn?)

argumentiert bar jeder demokratischen Verantwortung und noch mehr bar jeden historischen Bewusstseins.

(Beifall von CDU und FDP)

Wer hier suggerieren möchte, dass die Nationalhymne ein furchtbares Loblieb auf die deutsche Nation sei, dem empfehlen wir, sich einmal mit dem klassischen Mittel von Textexegese und Textinterpretation auseinander zu setzen. Ich bin überzeugt, man wird feststellen, dass diese dritte Strophe nun wirklich keine nationalistischen Töne verbreitet. Wer hier also suggerieren möchte, wer die dritte Strophe singe, ignoriere die Verbrechen der nationalsozialistischen Vergangenheit, der handelt, wie ich finde, schlicht verantwortungslos.

(Beifall von CDU und FDP – Dr. Michael Vesper [GRÜNE]: Wer tut das denn?)

Auch den Kritikern der Nationalhymne sollte bewusst sein, dass es eine historische Verantwortung für historische Entwicklungen gibt. Gerade deshalb sind unsere Schulen jene wichtigen Orte, in denen dieses kritische Geschichtsbewusstsein gelehrt wird, ohne auf eine Identifikation mit dem

deutschen Staat zu verzichten. Ich meine damit, Integration gelingt heute in unserem Land Nordrhein-Westfalen dadurch, dass die Geschichte Deutschlands ebenso gelehrt wird, wie um die Identität unseres Landes gerungen wird.

Meine Damen und Herren, wer Geschichtsbewusstsein hat, der kann auch verantwortet und reflektiert die deutsche Nationalhymne singen. Wenn das die ungezählten Fußballfans in diesen Tagen tun, dann ist das kein Nationalismus, sondern ein normaler, fröhlicher Patriotismus.

Wir müssen nicht mit übertriebener Skepsis die dritte Strophe singen, sondern wir singen diese Strophe der Nationalhymne gern. Wir stehen zu unserem Land, zu unserer Geschichte und zu unserer Hymne. Wir vergessen unsere historische Verantwortung nicht. Wir leben Integration und Toleranz.

Wir singen in der dritten Strophe das, was wir wollen, und wir wollen das, was wir singen, nämlich Einigkeit für das deutsche Vaterland und Recht und Freiheit.

(Beifall von CDU und FDP)

Danke schön, Herr Minister Breuer. – Für die SPD spricht Herr Kuschke.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Breuer, mir ist nicht ganz klar geworden – aber bei anderen Wortbeiträgen der Koalitionsfraktionen auch nicht –, an wen Sie sich eigentlich mit Ihren Hinweisen und Argumenten richten.

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Das ist ein Sturm im Wasserglas, der hier von Ihnen entfacht worden ist. Wenn das wenigstens noch Erfrischung bringen würde – aber nicht einmal das passiert. Sie sprechen in einer Art und Weise von einem unverkrampften Umgang und merken gar nicht, dass das, was Sie heute hier praktizieren, wirklich die krampfhafteste Veranstaltung während der Fußballweltmeisterschaft überhaupt ist.

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Um das von vornherein klar zu machen: Sie haben die klare Aussage des Bundesvorsitzenden der GEW, von Herrn Thöne, zu dem Vorgang. Ich will Ihnen auch noch einmal, Herr Dr. Rudolph, …

(Christian Lindner [FDP]: Die ist nicht klar!)

Moment, Herr Lindner, zu Ihnen komme ich gleich noch. Herr Dr. Rudolph hat gerade erklärt: Die Aktion der GEW war überflüssig wie ein Kropf. Sie ist in der Sache falsch, überhaupt kein Problem. Die Haltung der GEW Nordrhein-Westfalen – der Landesvorsitzende sitzt ja unter uns – ist auch eindeutig. Die Landesregierung hätte natürlich einmal gut daran getan, sich bei der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft in NordrheinWestfalen zu erkundigen, wie sie denn dazu steht. Aber, Frau Sommer, das ist ja anscheinend nicht passiert. Dann wäre nämlich diese Aktuelle Stunde überflüssig gewesen.

Herr Kollege Lindner, Sie gestalten hier eine Aktion, in der Sie gleich auch noch den Ladenschluss unterbringen. Wahrscheinlich werden Sie uns bei den Debatten über das Schulgesetz und über das Hochschulfreiheitsgesetz gleich vorwerfen, wie unerhört es sei, dass wir diese Dinge überhaupt während der Fußballweltmeisterschaft diskutieren.

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Eines will ich Ihnen noch deutlich sagen, insbesondere in Richtung von Herrn Kollegen Breuer. Herr Sternberg hätte es sagen können, weil ich weiß, dass er es weiß, dass er es wissen muss. Wer ist denn in der deutschen Geschichte mit demokratischen Staatssymbolen verunglimpfend umgegangen? Waren das Gewerkschaften? Oder waren es nicht gerade Gewerkschaften und demokratische Bewegungen insgesamt, die in der Geschichte der Bundesrepublik gekämpft haben für Einigkeit und Recht und Freiheit und Brüderlichkeit, meine Damen und Herren?

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Wobei ich gerne ergänzen möchte: Was den Punkt Brüderlichkeit anbelangt, meint meine Frau nach wie vor, ein bisschen Schwesterlichkeit könnte es auch sein.

(Beifall von SPD und GRÜNEN – Sylvia Löhrmann [GRÜNE]: Nicht nur ein bisschen! Mindestens die Hälfte!)

Warum, meine Damen und Herren, nutzen wir denn nicht diese Chance während dieser phantastischen offenen Stimmung der Fußballweltmeisterschaft, etwas mehr an demokratischem Selbstbewusstsein zu zeigen? Wir könnten nämlich sagen – ich sage es einmal sehr zugespitzt –: Da haben ein paar etwas ersponnen, was schlichtweg falsch war. Wir lassen uns dadurch dieses große Fest nicht vermiesen, und wir wissen, dass mittlerweile eine Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland weiß, was ihr Lied ist, die Nationalhymne. Sie kennen den Text, und sie sin

gen ihn, und sie sind stolz darauf: Einigkeit und Recht und Freiheit, meine Damen und Herren.

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Aber wenn Sie denn eine Debatte starten wollen über den Patriotismus, gerne. Dann sollten wir sie führen, und zwar unter einem Leitsatz, den niemand anderer als Johannes Rau formuliert hat – ich darf zitieren –:

„Ich will nie ein Nationalist sein, aber ein Patriot wohl. Ein Patriot ist jemand, der sein Vaterland liebt. Ein Nationalist ist jemand, der die Vaterländer der anderen verachtet. Wir aber wollen ein Volk der guten Nachbarn sein in Europa und in der Welt.“

So weit Johannes Rau.

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Wir wissen, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, mit welcher Inbrunst der frühere Ministerpräsident und Bundespräsident das Lied der Deutschen, die dritte Strophe, gesungen hat. Er hat diesen Text wahrgenommen und gefühlt, und er hat ihn gelebt.

Das ist doch das Entscheidende. Wird es uns gelingen, etwas von diesem Gefühl der Fußballweltmeisterschaft mitzunehmen, nachhaltig zu machen und zu verdeutlichen, dass es darum geht, auch Heimat zu lieben, Herr Kollege Breuer? Aber um Heimat zu lieben, muss man Heimat vorher haben. Heimat muss man geben.

Was heißt denn Brüderlichkeit? – Das ist genannt worden. Es heißt Solidarität. Es hat etwas zu tun mit Lebenschancen. Es hat etwas damit zu tun, dass sich Menschen wohl fühlen können im Lande, und natürlich tun sie das auf der Grundlage unserer kulturellen Erfahrungen und Werte, die es dann ermöglichen, auch in den Dialog mit anderen Kulturen einzutreten. Das ist eine ganz einfache, schlichte Geschichte. Es hat nichts zu tun mit dieser verkrampften Leitkulturdebatte.

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Lassen Sie uns doch diese Fußballweltmeisterschaft, die hoffentlich sportlerisch so endet, wie wir es uns alle wünschen, auch nutzen im Sinne von Nachhaltigkeit, um Einigkeit und Recht und Freiheit, Brüderlichkeit und Schwesterlichkeit etwas mehr als Prinzipien unserer Politik zusammenzuhalten und danach zu handeln. Dann hätte diese Fußballweltmeisterschaft noch mehr als sportliche Höhepunkte hinter sich. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.