Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich heiße Sie herzlich willkommen zur 31. Sitzung des Landtags NordrheinWestfalen in dieser Wahlperiode. Mein Gruß gilt auch unseren Gästen auf der Zuschauertribüne sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Medien.
Für die heutige Sitzung haben sich 13 Abgeordnete entschuldigt; ihre Namen werden in das Protokoll aufgenommen.
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat mit Schreiben vom 29. Mai 2006 gemäß § 90 Abs. 2 der Geschäftsordnung zu der zuerst genannten aktuellen Frage der Landespolitik eine Aussprache beantragt. In Verbindung damit diskutieren wir das mit Schreiben vom 29. Mai 2006 von den Fraktionen der CDU und der FDP eingereichte Thema.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin Frau Steffens vonseiten der antragstellenden Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Warum haben wir die Aktuelle Stunde beantragt? – Wer sich die Medienberichterstattung der letzten Tage und Wochen anschaut, vernimmt aus allen Ecken und Enden die Schreie nach einer Generalrevision,
nach grundsätzlichem Wandel und Änderungsbedarfen bei Hartz IV. Wer sich die Stimmen im Detail anschaut, sieht, dass viele Forderungen sehr widersprüchlich sind und komplett in verschiedene Richtungen laufen. Wenn man sich alleine die Forderung der NRW-CDUler sowie eines Teils der Bundes-CDU ansieht, kann man das gesamte Spektrum der Forderungen in den Medien wahrnehmen. Es gibt Forderungen nach einer Besserstellung für die älteren Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, die Forderung nach radikalen Kürzungen der Regelleistungen. Es gibt Forderungen nach stärkeren Sanktionsmaßnahmen. Der Katalog ist breit. Man hat das Gefühl, dass die Forderungen – je nachdem, vor welchem Publikum geredet wird – in die entsprechende Richtung gedreht werden.
Hartz IV scheint plötzlich nicht mehr mit in der Verantwortung der CDU zu liegen, obwohl Hartz IV ein Kompromiss eines mehr oder weniger großkoalitionären Verfahrens war. Es waren im Wesentlichen Schritte, die von der CDU mitgetragen worden sind.
Mit Blick auf die Debatte heute habe ich mir Bundestagsprotokolle angeschaut und das, was unser heutige Minister für Arbeit und Soziales damals im Bundestag zu Hartz IV gesagt hat. Zwar hat er Detailpunkte, zu denen ich gleich noch komme, kritisiert, aber er hat im Wesentlichen gesagt: Hartz IV ist richtig! Wir brauchen diese Reform, wir müssen sie machen, und wir tragen sie auch mit! – Das heißt: Es ist eine Reform, bei der sich keiner aus dem Staub machen kann, sondern die von vielen getragen worden ist.
Es erscheint im Moment so, dass wir nicht mehr darüber reden müssen, warum die Kosten explodieren und so hoch sind, warum wir eine so hohe Arbeitslosigkeit haben, sondern es wird nur noch über „Missbrauch“ und die „Erschleichung von Leistungen“ geredet.
Wir haben fünf Millionen Arbeitslose. Man braucht gar nicht darum herumzureden: Es mag sein, dass es unter diesen erwerbslosen Menschen solche gibt, die missbräuchlich Leistungen beziehen oder die sich Leistungen erschleichen. Meine Damen und Herren, selbst wenn deren Anteil bei 20 % läge, reden wir immer noch über Millionen von Arbeitslosen, die in diesem Land Arbeit suchen. Ich finde es infam, diesen Menschen täglich
über die Medien mitzuteilen, sie wären Missbrauchstäter, die Leistungen hinterziehen und erschleichen würden.
Wenn ich mir allein den Bereich der Alleinerziehenden ansehe, dann haben wir nach wie vor die Situation, dass Frauen, die nach der Erziehungsgeldzahlung kein Erziehungsgeld mehr bekommen, die zu Hause sind, in Arbeitslosengeld II fallen und nach einem halben Jahr gezwungen werden, aus ihrer Wohnung auszuziehen, weil die Miete zu hoch ist, obwohl sie ein halbes Jahr später wieder in ihre Arbeit zurückkehren. Hier haben wir einen systematischen Fehler, dass Frauen wegen eines Kindes in Arbeitslosengeld II, in die Armut fallen und dann noch jeden Tag über die Medien erzählt bekommen, sie wären Menschen, die die Leistungen des Staates missbrauchen, obwohl sie für diesen Staat, für unsere Gesellschaft Kinder bekommen und sich um die Erziehung kümmern. Es ist infam, was in diesem Land passiert.
Hartz IV – das war von Anfang an klar – schafft keine Arbeitsplätze, Hartz IV wird auch nicht die Menschen in die Arbeitswelt integrieren. Das werden wir nur dann schaffen, wenn wir mehr Arbeit und mehr Arbeitsplätze haben. Deswegen benötigen wir massive Änderungen bei Hartz IV, aber nicht auf Kosten der Betroffenen.
Revision ist in aller Munde. Unser derzeitige Minister des Landes Nordrhein-Westfalen hat immer wieder an vielen Stellen gefordert: Wir wollen die Zuständigkeit in der Hand der Kommunen haben.
In dem Konzept der Bundesarbeitsgemeinschaft, so wie es jetzt passiert ist, mit den Arbeitsgemeinschaften vor Ort, wobei die Zuständigkeit in vielen Händen liegt, finden wir die Forderung nach Kommunalisierung richtig.
Wir finden auch, dass man genau an diesem Punkt darüber reden muss, ob man eine wirkliche Revision macht oder wieder nur Flickschusterei betreibt.
Herr Laumann, Sie haben das vor den Verhandlungen auf Bundesebene gefordert und gesagt: Ich gehe jetzt nach Berlin und sorge dafür, dass die Kommunen zuständig sind. Sie sind zurückgekommen und haben ein Optimierungsgesetz vorgelegt bekommen,
Dass die Kommunen die Zuständigkeit doch nicht ganz verloren haben, verkaufen Sie als Erfolg. Sie haben bei den Verhandlungen aber keinen Erfolg gehabt und sind auf breiter Linie gescheitert. Wir unterstützen Sie gerne in der Forderung und werden Ihnen noch ein bisschen Rückenwind geben; denn diese Vielzuständigkeit wird nur zu einem weiteren Chaos auf Kosten der Betroffenen führen.
NRW scheint auf Bundesebene – das sieht man auch an anderen Stellen in dem Optimierungsgesetz – nicht die Rolle zu spielen, die es gerne spielen würde. NRW fordert zwar viel über die Medien – das ist dann auch das Problem –, aber am Verhandlungstisch in Berlin scheint davon faktisch nichts herüberzukommen.
Ich habe eingangs gesagt: Das Problem ist eine Stigmatisierung vor allen Dingen derjenigen Menschen, die wirklich einen Arbeitsplatz suchen. Ich möchte gerne wissen, wie es sein kann, dass ein Ministerpräsident eines Landes sagt, es gebe Einsparmöglichkeiten durch härtere Sanktionen gegen Arbeitslose, es gehe darum, dass mit neuen Begriffen wie Bedarfsgemeinschaften neue Subventionswelten entstanden sind. Wie kann es sein, dass ein Ministerpräsident klar und deutlich fordert: Hier muss stärker durchgegriffen werden?
Meine Damen und Herren, gegen wen soll durchgegriffen werden? Stärker gegen die vier bis fünf Millionen Arbeitslosen, die einen Arbeitsplatz suchen und keinen bekommen? – Nein, es muss stärker durchgegriffen werden gegen diejenigen, die versagen und keine Arbeitsplätze schaffen, die den Arbeitsmarkt nicht in Ordnung bringen, keine Maßnahmen, keine Angebote schaffen. Aber diese Stigmatisierung auf dem Rücken der Betroffenen darf nicht sein.
Klarheit, Leistung und Vermittlung sowie Fallmanagement aus einer Hand schaffen wollen. Die Idee bleibt richtig. Sie ist aber leider nicht so im Gesetz niedergeschrieben worden wie sie einmal entstanden ist. Deshalb ist eine Renovierung der Hartz-Gesetze dringend nötig. Das sagen nicht nur die, die davon betroffen sind, die Leute, die sich die Füße ablaufen, um endlich eine Beratungsstunde zu bekommen, sondern auch diejenigen, die die Hartz-Gesetze trotz unzureichender Ressourcen in den Argen umsetzen müssen. Wir haben die Argen angehört und wissen, wo die Klagen und die Probleme sind.
Das sagen auch diejenigen – nicht zuletzt auch Bundesfinanzminister Steinbrück –, die die Kosten tragen sollen. Es wird über mangelnde Strukturierung und Zuordnung, über eine lückenhafte gesetzliche Systematik bei Hartz IV geklagt. Die Arbeitsgemeinschaften singen davon Lieder, die nicht unbedingt rühmlich sind. Gesetze sollen gerecht, umsetzbar und kontrollierbar sein. An diese Bedingungen muss Hartz noch sehr stark angepasst werden, meine Damen und Herren.
Hier geht es nicht darum, Frau Steffens, sich aus dem Staub zu machen, sondern einzusehen, dass für die Menschen, die von diesen Gesetzen betroffen sind, Änderungen erfolgen müssen. Für sie sind wir zuständig. Ob wir daran beteiligt waren, ob das richtig oder schlecht war, davon reden wir nicht.
Hier geht es auch nicht um die Suggestion, dass bei diesen Gesetzen Missbrauchsmöglichkeiten geschaffen würden, sondern es geht darum, Frau Steffens, dass die Menschen, die diese Gesetze umsetzen müssen, überhaupt eine Chance haben, sie vor Ort ordentlich umzusetzen. Da haben wir hinreichend Rückmeldungen bekommen.
Es ist ja richtig, dass derzeit in Berlin zu diesen Gesetzen wieder Nacharbeiten gefertigt werden. Diese Nacharbeiten sind dringend nötig, aber so, wie sie jetzt aussehen, völlig unzureichend.
Die Arbeitsmarktreform Hartz IV hat den gewünschten Erfolg erkennbar nicht gehabt. Die arbeitsmarktpolitischen Wirkungen sind begrenzt. Die verwaltungstechnische Umsetzung funktioniert sehr schlecht, und in vielen Bereichen laufen die Kosten aus dem Ruder. Hier sind nicht diejenigen angeklagt, die in den Argen sitzen und tagaus, tagein ihre Arbeit ordentlich tun, sondern das Problem ist, dass sie kein Handwerkszeug bekommen haben, um diese Dinge umzusetzen.
So klagt auch der Bundesrechnungshof, wie berichtet wird, über eine reichliche Zahl von Fehlern, Fehler, die nicht einzeln, sondern oft in Massen auftreten. Ich darf nur einige nennen:
Grundsicherungsstellen prüfen zahlreiche Voraussetzungen für die Gewährung von ALG II nicht sorgfältig, sodass in jedem zehnten Fall die Erwerbsfähigkeit gar nicht erst festgestellt werden konnte. Wir haben sogar Zahlen gehört, Herr Garbrecht, dass bis zu 20 % der Leute gar nicht erwerbsfähig seien – so die Rückmeldungen der Argen. In fast 50 % der Fälle werden keine Eingliederungsvereinbarungen gemacht. Damit konnten Abwesenheiten und Nichtverfügbarkeiten nicht geahndet werden. Ein Drittel der erwerbsfähigen Hilfebedürftigen konnte siebeneinhalb Monate nach Beginn der Zahlung noch keine Gespräche führen.
Meine Damen und Herren, drei Monate Warten auf qualifizierte Erstgespräche, vier Monate auf Eingliederungsvereinbarungen, falsche Kostenschätzungen zu Beginn der Gesetzlichkeit, zwei Drittel der Mehrkosten, also von 3,6 Milliarden €, gehen zurück auf Sozialversicherungsbeiträge – das sind alles keine Gründe, die die ganze Sache infrage stellen, sondern das sind viele Gründe, um die Hartz IV-Gesetzgebung zu renovieren.