Protocol of the Session on March 25, 2010

Ich widerspreche Dir, Bernhard Tenhumberg, ungern an dieser Stelle, aber ich sage: Wir sollten nicht nur ein bisschen stolz sein, sondern wir können richtig stolz sein auf diesen Bericht, weil er wirklich gut geworden ist.

(Allgemeiner Beifall)

Worum ging es uns bei der Erarbeitung des Berichts? – Es ging uns um das Gelingen von Lebenswegen von Kindern und Jugendlichen.

Frank Sichau, der stellvertretende Vorsitzende, hat bei der Pressekonferenz gesagt – ich finde, das ist ein maßgeblicher Satz –: Kein Kind wird kriminell geboren. – Und genau darauf mussten wir uns beziehen. Denn das ist richtig.

Aber es gibt eine Menge an Risikofaktoren, die Kinder in ihrer Entwicklung bedrohen. Wir haben festgestellt: Es sind Faktoren wie Armut, hier ganz speziell Kinderarmut. Es sind Faktoren wie die geringe Bindung an schulische und berufliche Werte – „bildungsferne Schichten“ nennen wir das immer ganz gerne in der politischen Auseinandersetzung – und das Fehlen von Bildungsanreizen im familiären und außerfamiliären Umfeld. Es sind fehlende Strukturen im familiären Alltag. Es sind Alkohol- und Drogenmissbrauch auch bei Kindern und Jugendlichen. Konflikt- und Gewalterfahrungen in der Familie, geringe Erziehungskompetenz der Eltern und – abschließend – vielleicht auch noch Kriminalität und Devianz in der Nachbarschaft spielen manchmal auch eine Rolle. All das sind Erfahrungen.

Aber jeder einzelne Risikofaktor kann ausschlaggebend sein für delinquentes Verhalten, aber auch alle Faktoren zusammen führen nicht zwingend zu dem Scheitern von Kindern und Jugendlichen. Auch das haben wir feststellen müssen. Auch wurde uns bei unserer Arbeit klar: Jeder Jugendliche, ausnahmslos jeder Jugendliche, auch Sie, meine Damen und Herren, und ich, hat schon einmal das eine oder andere getan, ein Verhalten an den Tag gelegt, das nicht konform ist.

(Beifall von Ewald Groth [GRÜNE])

Bei vielen ist es ein einmaliges Erlebnis und führt auch nicht zur Strafverfolgung, was auch gut ist – manchmal muss man auch einmal die Fünfe gerade sein lassen –, aber bei manchen führt ihr Verhalten zu einem dauerhaften Problem.

So war uns in der Enquetekommission III früh klar, dass es nicht nur um die Situation im Strafvollzug gehen kann, sondern dass wir einen ganzheitlichen Ansatz suchen müssen. Für die SPD war deshalb klar, dass die frühen Hilfen von ganz großer Bedeutung für die gelingende Entwicklung von Kindern und Jugendlichen ist. Viele Kommunen in NRW gehen bereits den Weg der frühen Hilfen. Sie besuchen Familien mit Neugeborenen, bieten Hilfen an, unterstützen und erkennen Problemlagen. Das ist Prävention im klassischen Sinne und weitaus billiger als ein Reparaturbetrieb im Strafvollzug und intensivpädagogische Maßnahmen, auch wenn wir die weiterhin brauchen.

(Beifall von SPD, CDU und GRÜNEN)

Ich möchte an dieser Stelle aus den Handlungsempfehlungen zitieren, und zwar aus dem Grundkonsens der Handlungsempfehlungen des Berichts:

Prävention ist besser als Intervention. Die beste Grundlage für eine gelingende Prävention von Devianz und Delinquenz besteht darin, positive Entwicklungsbedingungen für Kinder und Jugendliche zu schaffen und sie zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung zu befähigen. Die ressourcenorientierte Förderung von Kindern und Jugendlichen ist eine Investition in die Zukunft unserer Gesellschaft.

Richtiger könnte man es kaum sagen. Und das hat unsere volle Unterstützung. Jeder frühzeitig investierte Euro in Kinder und Jugendliche bringt langfristig eine Ersparnis von 3 €. – Auch das haben wir festgestellt und unserer Arbeit zugrunde gelegt. So fordert der Bericht der Enquetekommission stringent auch die Unterstützung von Nothaushaltskommunen. Auch diese sollen und müssen in die Lage versetzt werden, präventive Maßnahmen finanzieren zu können. Hierzu ist der im Bericht erwähnte und geforderte Landespräventionstopf notwendig. Nur mit Hilfe dieses Instruments kann an den richtigen Stellen investiert werden.

Wichtig war uns auch die Vernetzung derjenigen, die mit auffälligen und mehrfach auffälligen Jugendlichen zu tun haben. Wenn man voneinander weiß, wenn die Stellen voneinander wissen, kann man auch gemeinsam Lösungen finden und die richtigen Entscheidungen treffen. Diese Vernetzung ist dringend notwendig und wird auch zukünftig an Notwendigkeit gewinnen. Man könnte hier noch viele Handlungsempfehlungen vorstellen, weil alle wirklich gut sind – das will ich noch einmal betonen.

Auf einen Aspekt – der ist aus meiner Überzeugung ganz wichtig – möchte ich noch eingehen, nämlich auf den sukzessiven Ausstieg aus dem Jugendstrafvollzug, den wir in unserem gemeinsamen Bericht fordern. Das ist wohl eine der am weitestgehenden Forderungen dieses Berichts und auch eine der am weitestgehenden Forderungen an Politik überhaupt im Land, aber auch in der Bundesrepu

blik. Davon bin ich überzeugt. Aber es ist der einzig richtige Weg. Bei Rückfallquoten von über 80 % ist der normale Strafvollzug nicht mehr zeitgemäß. Es bedarf des Ausbaus von Strafvollzug in freien Formen,

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

wie sie in der Schweiz und sogar in BadenWürttemberg schon ausprobiert werden.

Es war heute oft die Rede davon, was wir für die auffälligen und gefährdeten Jugendlichen tun können. „Was ist aber mit dem Opferschutz?“, werden wir wahrscheinlich gefragt, wenn wir immer über die auffälligen Jugendlichen sprechen. Ich sage an dieser Stelle – das ist auch ein Konsens unter uns Fraktionen gewesen –: Der beste Opferschutz ist eine effiziente Präventionspolitik. Der nächste Landtag ist gefordert, diese Handlungsempfehlungen umzusetzen, Präventionspolitik in politisches Handeln umzusetzen.

Ich halte dies für den einzig richtigen Weg und will das noch einmal sagen: Liebe Kolleginnen und Kollegen, einige werden vielleicht nicht wiederkommen, aber diejenigen, die wiederkommen, fordere ich auf: Nehmt das ernst! Macht das in der nächsten Legislaturperiode!

(Beifall von SPD, CDU und FDP)

Jetzt noch eine persönliche Bemerkung. Man hatte ja das Gefühl – wir haben ja gut miteinander zusammengearbeitet –, wir wären eben bei der OscarVerleihung gewesen, denn es wurde allen gedankt. Ich danke jetzt auch noch mal. Das ist zwar keine Oscar-Verleihung, aber eigentlich hätten einige einen Oscar verdient, zumindest die, die da oben sitzen, nämlich die Sachverständigen, die uns unterstützt haben.

Danken möchte ich noch einmal für die gute Zusammenarbeit den Kollegen von CDU, FDP und Grünen und ganz besonders den sechs Sachverständigen, die die Arbeit der Enquetekommission ganz hervorragend geprägt haben. Sie waren maßgebend für diesen Bericht. Achten Sie bitte mit darauf, dass dieser Bericht in konkrete Politik umgesetzt wird! Es ist eine Anforderung auch an Sie. Ich für meinen Teil verspreche Ihnen: Ich werde das tun. Herzliches Glückauf!

(Allgemeiner Beifall)

Vielen Dank, Kollege Töns. – Für die FDP-Fraktion spricht nun Kollege Engel.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Enquetekommission ist sich sicher, dass sie Antworten auf die Fragen geben konnte, die nach dem Untersuchungsausschuss zu diesem grauenhaften Mord in

der JVA Siegburg im Wesentlichen offengeblieben sind. Es gibt verschiedene Antworten; Sie haben von den Kollegen schon einige gehört. Ich möchte mit drei Antworten das, was Sie schon gehört haben, ergänzen.

Erstens. Prävention beginnt bereits lange vor der Strafmündigkeit. Daher spricht sich die Kommission – teilweise ist das angesprochen worden – für flächendeckende frühe Hilfen aus; dafür gibt es auch Musterbeispiele in unserem Land. Ich bin Herrn Sichau, unserem Kommissions-Vize – er hatte Frau Kordowski, unsere Vorsitzende, in der PK vertreten müssen –, ausgesprochen dankbar dafür, dass er die Summe, die auch öffentlich gemacht worden ist, genannt hat, damit alle in der nächsten Legislatur wissen, nämlich Regierung und auch der Haushaltsgesetzgeber, worum es geht.

Das Anliegen wird uns jedes Jahr rund 70 Millionen € kosten. Das ist gut investiertes Geld. Sie werden sich sicherlich fragen, wie dies in einer ressortübergreifenden Gesamtbetrachtung investiert wird und wie wir zu kostenneutralen Lösungen kommen können. Dabei dürfen wir nicht vergessen – auch das ist angesprochen worden –: Bezüglich der Folgekosten ist die effektive frühe Hilfe der richtige Ansatz. Mit vergleichsweise geringem Aufwand lassen sich kriminelle Karrieren verhindern, die den Steuerzahler später erhebliche Summen kosten würden. Nicht nur für die potenziellen späteren Opfer, sondern auch für den Landeshaushalt ist die frühestmögliche Kriminalitätsvermeidung ein Gewinn. Hinter diese Aussage setze ich drei Ausrufezeichen.

(Allgemeiner Beifall)

Alleine zur Gruppe – auch diese Zahl ist genannt worden – der Intensivtäter zählten in NordrheinWestfalen im vergangenen Jahr 28 Kinder, 745 Jugendliche und 597 Heranwachsende. Das macht allein in diesem Bereich 1.370 Fälle aus. Wenn Sie sich einmal die modellhaft errechneten Kosten eines dissozialen Lebenslaufs anschauen, dann stellen Sie fest, dass Sie auf durchschnittliche Kosten von 1 Million € pro Fall kommen, die derzeit komplett zulasten des Steuerzahlers gehen.

Jeder in eine effektive Jugendhilfe investierte Euro spart langfristig mindestens 3 € an Folgekosten; das ist schon angesprochen worden. Das ist also gut investiertes Geld, welches den Steuerzahler schont und einen wichtigen Beitrag auch zum Opferschutz leistet.

Und was genauso wichtig ist: Es zahlt sich auch für die Zukunft dieser Kinder und Jugendlichen aus. Denn kein Kind ist von Natur aus schlecht. Kein Kind wird kriminell geboren. Ich darf an das Wort von Frau Kordowski erinnern. Sie sprachen von Liebe. Ich möchte dies ergänzen: Viele Kinder haben gar keine Chance gehabt, ihre Kindheit zu leben.

(Allgemeiner Beifall)

Dessen müssen wir uns bewusst sein. Deshalb ist jeder dort investierte Euro ein gut investierter Euro.

Damit die notwendigen finanziellen Mittel zur Verfügung stehen, schlägt die Kommission die Einführung eines Landespräventionsfonds vor; das haben wir schon gehört. Dieser kann, ohne dem zuständigen Entscheidungsträger, also der Regierung oder dem Haushaltsgesetzgeber, vorgreifen zu wollen, sowohl aus allgemeinen Landesmitteln als auch aus verhängten Bußgeldern gespeist werden.

Zweite Bemerkung. Weiterhin fordert die Kommission zu Recht eine bessere Vernetzung des Hilfesystems. Schule, Jugendhilfe, Polizei und Justiz, Jugendamt und eventuell sogar Familienberatung arbeiten derzeit viel zu oft für sich allein, und ihnen fehlen Erkenntnisse über Umstände, die zur Kriminalitätsentlastung der Betroffenen beitragen können.

So hat vielleicht ein Lehrer Erkenntnisse über auffälliges oder aggressives Verhalten eines Kindes oder Jugendlichen im Umgang mit seinen Mitschülern. Er gibt diese aber nicht an die Jugendhilfe weiter, weil er vielleicht gar nicht weiß, dass derselbe Schüler dort schon betreut wird. Ein Intensivtäter wird stets von demselben Polizeibeamten betreut, dessen Erkenntnisse der Jugendstaatsanwalt aber nur aus der Akte kennt. Persönliche Gespräche finden meist nicht statt.

Insofern möchte ich ausdrücklich auf das Kölner Haus des Jugendrechts hinweisen, in dem alle beteiligten Träger bzw. deren Vertreter unter einem Dach an Ort und Stelle sind. Das verkürzt die Wege und ermöglicht eine umfassende und passgenaue Betreuung des Jugendlichen. Dies ist beispielhaft für ganz Nordrhein-Westfalen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben es in diesem Zusammenhang natürlich auch mit Datenschutz zu tun. Ich sage bewusst und formuliere es auch so: Wirksame Prävention und Datenschutz schließen sich an der Stelle überhaupt nicht aus.

Dafür müssen wir auch das Rad nicht neu erfinden. Es existieren bereits Maßstäbe; ich erinnere an § 35 SGB I und an § 67 SGB X. Sie definieren dort das Sozialgeheimnis. Eine Vernetzung der Hilfen durch Weitergabe von Daten zwischen den beteiligten Trägern und Behörden können wir also dadurch erreichen, indem wir die Datenermittlung an bestimmte Vorgaben koppeln, und zwar an das Bestehen gewichtiger Anhaltspunkte für das Vorliegen eines Präventionsbedarfs. Und, meine Damen und Herren, das ist keine Zauberei: Fällt einem der Hilfebeteiligten eine nachhaltige Verhaltensauffälligkeit eines Jugendlichen auf, kann er diesen Verdacht den zuständigen Behörden mitteilen. Dort kann eine Prüfung vorgenommen werden, die das Ganze erhärtet oder verwirft.

Wichtig ist und bleibt aber, dass wir vernetzen. Denn Erziehung ist ein ganzheitlicher Ansatz. Prävention muss es ebenfalls sein.

Schließlich noch ein dritter Punkt, der mir ganz besonders am Herzen liegt. Was tun wir, wenn es doch schiefgegangen ist, wenn Jugendliche also doch Straftaten verüben? – Aus meiner Sicht ist das bloße Wegschließen im Jugendstrafvollzug nicht die richtige Antwort; das haben wir schon gehört. Jedenfalls gilt das für die meisten Fälle.

Das Ganze hat zwei Dimensionen, und beide erlauben es uns, in viel größerem Umfang tätig zu werden als bisher. Die erste Dimension ist die U-Haft. Wenn ich sehe, dass in Nordrhein-Westfalen nach wie vor ca. 90 % der dringend tatverdächtigen Jugendlichen direkt in die U-Haft wandern, fehlt mir dafür angesichts des eindeutigen gesetzgeberischen Auftrags in § 72 Abs. 1 und § 71 Abs. 2 Jugendgerichtsgesetz das Verständnis. Ich darf für die gesamte Kommission sagen, dass wir diese Tatsache mit einem großen Fragezeichen versehen haben. Nicht die U-Haft, sondern die Anordnung erzieherischer Hilfen ist der gesetzliche Regelfall, und zwar schon jetzt.

(Allgemeiner Beifall)

Wir sind dabei, dieses Regel-Ausnahme-Verhältnis richtigzustellen. Wir schaffen neue Plätze in stadtfernen Einrichtungen, in reizarmer Umgebung, wo Jugendliche intensiv betreut und behandelt werden können, oft zum ersten Mal in ihrem Leben einen strukturierten Tagesablauf und Respekt vor der körperlichen Integrität und dem Eigentum anderer erlernen. Wir wollen, dass diese Einrichtungen zum Regelfall werden. U-Haft ist für Jugendliche regelmäßig eine betreuungsarme Angelegenheit, die den eingespielten delinquenten Lebenswandel nicht durchbricht.

Im Gegenteil: Gelegentlich wird doch Haft als „Schule des Verbrechens“ beschrieben. Gerade bei noch formbaren Jugendlichen wiegt das Risiko, mit der Haft immer tiefer in Kriminalität abzurutschen, besonders schwer. Kleine, überschaubare Gruppen hingegen, weitab der heimischen Stadt oder Clique, mit hohem Aufmerksamkeitsgrad durch Betreuer – oft in 1:1- Betreuung – wirkt, meine Damen und Herren. Damit fängt Rückfallvermeidung bereits in der Zeit vor der Hauptverhandlung an.

Die zweite Dimension ist die Strafhaft. Auch hier gilt, wenn es vertretbar ist – das wird in vielen Fällen so sein –: Kein junger Mensch ist nicht mehr erziehbar. Daher soll der Vollzug in freier Form die Strafhaft für Jugendliche ersetzen. Das haben wir schon vor Abschluss dieser Kommission im Jugendstrafvollzugsgesetz NRW verankert. Für diesen von der Landesregierung quasi im vorauseilenden Gehorsam erfolgten Vorstoß möchte ich mich an dieser Stelle noch einmal herzlich bedanken.

Die Kommission wünscht sich natürlich, dass auch unsere anderen Handlungsempfehlungen so zeitnah wie möglich umgesetzt werden.

Zum Schluss ein Appell: Der Ihnen vorliegende Bericht, den einige mitgebracht haben, wird – dessen bin ich mir ziemlich sicher; das ist auch Auffassung der Kommission und der Sachverständigen, die ich noch einmal herzlich begrüße und bei denen ich mich von dieser Stelle aus für die Arbeit bedanke – in der Bundesrepublik insgesamt und nicht nur in unserem Land ein Gewicht entfalten, weil er einstimmig beschlossen wurde. Das ist der eigentliche Verdienst dieser Enquete. – Herzlichen Dank.

(Allgemeiner Beifall)