Protocol of the Session on March 25, 2010

Das war keine leichte Aufgabe. Über die Frage, warum es Jugendstraffälligkeit gibt, herrscht weitgehend Einigkeit. Allerdings sind die Sichtweisen im Bereich der Strafe und der Erziehung delinquenter junger Menschen dafür jedoch umso verschiedener. Das hat uns nicht abgeschreckt. Im Gegenteil, die Arbeit in der Enquetekommission war von Anfang an durch den Willen zu gemeinsamer Arbeit geprägt.

Um eine solche Aufgabe bewältigen zu können, bedarf es zunächst einer gründlichen Analyse. Die Kommission hat vier Expertisen in Auftrag gegeben. Wir haben insgesamt 15 Fachvorträge zum Thema gehört und drei öffentliche Anhörungen und ein nichtöffentliches Expertengespräch organisiert. Uns war bei der Bearbeitung des Themas, bei dem es viele unterschiedliche Akteure gibt, wichtig, diese Akteure als Experten möglichst früh in unseren Diskussionsprozess einzubinden.

In einem gemeinsamen Vororttermin haben wir die Justizvollzugsanstalt Iserlohn besucht. Die engagierte Diskussion mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dort ist mir noch in guter Erinnerung. Die Kommission hat sehr von dem Besuch profitiert.

An dieser Stelle möchte ich die Gelegenheit nutzen, allen Bediensteten in den Jugendstrafvollzugsanstalten des Landes Nordrhein-Westfalen meinen Respekt und Dank für ihren täglichen Einsatz auszusprechen.

(Allgemeiner Beifall)

Darüber hinaus sind wir ins benachbarte Dänemark und nach Baden-Württemberg gereist, um uns über die guten Beispiele informieren zu lassen. Ein Blick über den Tellerrand hinaus schadet bekanntlich nie.

Im Gegensatz zu Deutschland – das überrascht – gibt es in Dänemark kein eigenständiges Jugendstrafrecht. Man setzt dort auf ein System frühzeitig einsetzender sozialer Kontrolle und Reaktionen auf sich abzeichnende und tatsächliche Entwicklungen von Straffälligkeit bei Kindern und Jugendlichen.

In Baden-Württemberg waren wir sehr beeindruckt vom Projekt Chance, das seit 2003 an zwei Jugendhilfestationen in Leonberg und Creglingen Jugendstrafvollzug in freien Formen durchführt.

All diese Informationen sind in unserem 248seitigen Abschlussbericht eingeflossen. Lesen Sie ihn! Es lohnt sich.

(Allgemeiner Beifall)

Meine Kollegen werden gleich die Ergebnisse der Kommission aus Sicht der jeweiligen Fraktionen vortragen. Als Vorsitzende der Enquetekommission möchte ich daher die Gelegenheit nutzen, vorab einige Bereiche aus unserer Arbeit herauszugreifen.

Gestatten Sie aber zunächst noch eine Vorbemerkung. Wenn der 9. Kinder- und Jugendbericht der Landesregierung bemängelt: „Jugend wird allzu oft in der Öffentlichkeit nur unter negativen Vorzeichen wahrgenommen, nämlich immer dann, wenn es um Gewalt und Kriminalität, um abweichendes und sozial auffälliges Verhalten geht“, trifft genau das den Kern. Insgesamt haben wir eine engagierte Jugend, die mehr tut als nur „abhängen“.

(Beifall von der CDU)

Wir dürfen uns die Sicht der Dinge nicht durch die Medien verstellen lassen. Der mit Abstand größte Teil unserer Kinder und Jugendlichen entwickelt sich völlig altersgerecht und unauffällig.

Bei der Entwicklung der Ergebnisse unserer Enquete konnten wir uns auf die gute Arbeit der vorangegangenen Enquetekommission II „Chancen für Kinder“ stützen. Die umfassenden Aussagen zu Bildung, Betreuung, Erziehung, Gesundheit von Kindern sind eine gute Plattform zur Entwicklung einer fördernden Atmosphäre für Kinder und Jugendliche im Lande. Diese Ergebnisse eröffneten die Möglichkeit, uns bei der primären Prävention auf einige für uns zentrale Themen zu fokussieren. Ich möchte dabei insbesondere auf das Kapitel „Primäre Prävention“ hinweisen. Es geht um verbesserte Möglichkeiten früher Hilfen, um die kommunale Steuerung und Vernetzung von Hilfen und die Frage: Was kann Jugendhilfe und was kann Schule zur Prävention beitragen?

Besonders deutlich geworden ist mir im Laufe unserer Kommissionsarbeit, insbesondere durch die Vorträge der wissenschaftlichen Expertinnen und Experten, dass wir in Deutschland einen absoluten Nachholbedarf an Forschungen unter anderem zu Wirkweisen von Präventions- und Interventionsmaßnahmen haben. Wir wissen noch zu wenig darüber, was wirklich wirkt.

Das Leitmotiv aus dem Vortrag von Professor Lösel von der Universität Cambridge lautete: Es ist nie zu früh und nie zu spät. – Das macht für mich sehr überzeugend deutlich, dass es in der Prävention zunächst darum geht, den Anfängen von kriminellem Verhalten früh durch gezielte Maßnahmen vorzubeugen.

Unabdingbar ist es aber auch, einer erneuten Rückfälligkeit durch geeignete Straftäterbehandlungs- und Resozialisierungsmaßnahmen entgegenzutre

ten; denn wir werden nie gänzlich verhindern können, dass junge Menschen straffällig werden. Das Ausmaß allerdings können wir versuchen zu beeinflussen.

Frühe Prävention und spätere Behandlung von jungendlichen und heranwachsenden Straftätern sind also keine Gegensätze. Beide sind notwendig, und manchmal gehen sie fließend ineinander über.

Aus der Kriminologie ist aber ebenso bekannt, dass Kinder- und Jugendkriminalität überwiegend alters- und entwicklungsbedingt ist. Sie ist also oftmals ein vorübergehendes Phänomen. Ich möchte dazu noch Joachim Walter, den ehemaligen Leiter der Justizvollzugsanstalt in Adelsheim, zitieren:

Probierverhalten, Abenteuerlust, Aufbegehren, Protest und Provokationen sowie Lernfehler sind und waren zu allen Zeiten jugendtypisch. … Die weitaus meisten Jugendlichen hören von selbst auf, Straftaten zu begehen …

Das heißt aber nicht, dass wir die Hände in den Schoß legen können, weil es sich ja überwiegend auswächst. Es ist auf jeden Fall eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, dafür zu sorgen, dass unsere Jungendlichen zu verantwortungsbewussten Menschen heranreifen. Da, wo es nötig ist, muss regulierend eingegriffen werden.

Aus der Kriminalstatistik geht hervor, dass die Polizei in Nordrhein-Westfalen im Jahr 2009 137.473 Tatverdächtige unter 21 Jahren ermittelte. Bei einem Viertel der Tatverdächtigen wird eine rechtskräftige Entscheidung getroffen. 5,8 % der jungen Tatverdächtigen sind Mehrfachtäter. Diese Mehrfach- oder Intensivtäter sind es, die für mehr als ein Drittel der registrierten Straftaten ihrer Altersgruppe verantwortlich sind.

In Nordrhein-Westfalen wurden im Juni 2009 1.370 junge Menschen unter 21 Jahren als Intensivtäter erfasst. Die entscheidende Frage muss also sein: Wie können wir angemessen auf diese Gruppe von jungen Straftäterinnen und Straftätern reagieren?

Studien belegen einen starken Zusammenhang zwischen einer hohen Anzahl von Risikofaktoren und der Wahrscheinlichkeit, straffällig zu werden. Was wir brauchen, ist zum Beispiel ein konsequentes Fall- und Risikomanagement. Wir müssen das Durchreichen problematischer Fälle von einer Maßnahme zur nächsten vermeiden. In unserem Abschlussbericht empfehlen wir daher die Betreuung möglichst durch eine Hand; wir haben das als Falltreue bezeichnet.

In diesem Zusammenhang ist unbedingt eine bessere Vernetzung der unterschiedlichen Akteure von Schule, Jugendhilfe, Polizei und Justiz anzustreben. Diesbezüglich halten wir eine gesetzliche Klarstellung für erforderlich.

Unverzichtbar für die Präventionsarbeit sind die im Feld Tätigen. Sie sind wichtige Säulen bei der Prä

vention der Kinder- und Jugendkriminalität. Wir werden weiterhin enorme Anstrengungen im Bereich der Aus-, Fort- und Weiterbildung leisten müssen – vor allem im Bereich von Diagnostik und Intervention –,

(Beifall von Ewald Groth [GRÜNE])

um die Qualität der pädagogischen Arbeit im Umgang mit Kindern und Jugendlichen mit problematischen Entwicklungsbedingungen, aber auch mit straffällig gewordenen jungen Menschen zu erhöhen. Dies gilt insbesondere für den allgemeinen Vollzugsdienst. Die Mitarbeiter dort verbringen die meiste Zeit mit den jungen Inhaftierten, und sie sind ganz wesentlich für die pädagogische Atmosphäre und die Gestaltung des Vollzugsalltages verantwortlich.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren, wie Sie sehen, haben wir uns in der Kommission sehr intensiv mit dem Jugendstrafvollzug beschäftigt. Zu gemeinsamen Handlungsempfehlungen zu gelangen, hat einen längeren Diskussionsprozess erfordert, der aber mit sehr viel Wertschätzung geführt wurde. Ich weise in diesem Zusammenhang auf die Handlungsempfehlungen Nummern 16 bis 32 hin.

Besonders gefreut hat uns während unserer Arbeit das am 8. Dezember 2009 vom NordrheinWestfälischen Landtag verabschiedete Gesetz zur Haft in freien Formen. Damit sind wir in NordrheinWestfalen ein großes Stück vorangekommen, den Erziehungs- und Fördergedanken des Jugendstrafrechtes weiter auszugestalten.

Für die Jugendhilfe und die Jugendstrafrechtspflege gilt es nun, gute Konzepte und effektive Formen der Kooperation zu entwickeln. Wir haben dazu in der Kommission beispielsweise festgestellt, dass der Anspruch des Erziehungsgedankens im neuen Jugendstrafvollzugsgesetz mit einer fortwährenden Professionalisierung der Jugendhilfe in Richtung besonders problematischer Zielgruppen einhergeht. Daraus ergeben sich zwangsläufig Verbindungsstellen für Kooperationen und fachlichen Austausch. Das macht Mut, dass dabei etwas Gutes herauskommt.

Wir sind sicher, dass die zuständigen Ressorts in den Ministerien das Thema Kinder- und Jugendkriminalität noch mehr als bisher gemeinsam angehen müssen. So ist gewährleistet, dass alle Beteiligten koordiniert an einem Strang ziehen. Der gemeinsame Runderlass von IM, JM, MSW, MGFFI und MAGS zur Zusammenarbeit bei der Verhütung und Bekämpfung der Jugendkriminalität ist schon eine sehr gute Grundlage dafür.

Ein wichtiges Bindeglied zwischen den Kommunen und anderen Trägern von Maßnahmen und der Landesebene soll eine neu einzurichtende Landespräventionsstelle sein. Sie sollte als Serviceeinrichtung für sämtliche Akteure, wie zum Beispiel Kinder-

und Jugendhilfe, Schulen und Jugendstrafrechtspflege, dienen. In ihr sollten alle Fäden zum Thema der Prävention zusammenlaufen.

Die Enquete schlägt auch vor, einen Präventionsfonds zu gründen. Über diesen Fonds können dann unter bestimmten Voraussetzungen Mittel für Präventionsmaßnahmen beantragt werden. Wir haben dazu in der Enquetekommission bewusst keine Einzelheiten geregelt; die nähere Ausgestaltung sollte dem Parlament überlassen bleiben.

Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, das Patentrezept bzw. die Empfehlung, wie man Kinder- und Jugendkriminalität verhindern kann und wie man ihr begegnen sollte, gibt es nicht. Es ist das Bündel differenzierter Maßnahmen, das Wirkung erzielen kann.

Lassen Sie mich zum Schluss noch einmal all denen danken, die dazu beigetragen haben, dass wir heute im Parlament das wichtige Thema der Kinder- und Jugendkriminalität auf eine neue Diskussionsebene heben konnten.

Ich möchte mich bei allen Abgeordneten, insbesondere bei den Obleuten der Fraktionen, bedanken, die für mich stets wichtige Ansprechpartner waren. Der freundschaftliche, kooperative Umgang war wohltuend und erfrischend und hat sicher dazu beigetragen, dass wir diese respektablen Ergebnisse produziert haben.

Mein besonderer Dank gilt noch einmal den Sachverständigen in der Kommission. Die Diskussion mit den Wissenschaftlern und Praktikern aus unterschiedlichen Disziplinen war eine Bereicherung. Ohne sie wäre der Bericht in der uns nun vorliegenden Form nicht zustande gekommen. Dafür danke ich ihnen sehr.

Ich bedanke mich auch sehr bei den wissenschaftlichen Referentinnen und Referenten der Fraktionen, die stets im Hintergrund wichtige unterstützende Arbeit geleistet haben.

(Allgemeiner Beifall)

Als Vorsitzende bedanke ich mich ganz persönlich bei meinem Kommissionsbüro, Frau Graw, Frau Lange und Herrn Zöhren, für die stets vertrauensvolle und gute Zusammenarbeit.

(Allgemeiner Beifall)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren, gestatten Sie mir zum Schluss noch eine ganz persönliche Anmerkung: Kein Parlament kann die wichtigste Grundlage überhaupt beschließen, keine Gesellschaft kann sie ersetzen: die Liebe der Eltern zu ihren Kindern. – Vielen Dank.

(Allgemeiner Beifall)

Vielen Dank, Frau Kollegin Kordowski, für die einführenden Worte. –

Als nächster Redner spricht für die CDU-Fraktion Herr Kollege Tenhumberg.

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Mitstreiterinnen und Mitstreiter der Enquetekommission! Werte Gäste! Nachdem ich bereits Mitglied in der Enquetekommission II „Chancen für Kinder“ war, habe ich mich besonders gefreut, auch in der neuen Enquetekommission mit dem Titel „Enquetekommission zur Erarbeitung von Vorschlägen für eine effektive Präventionspolitik in Nordrhein-Westfalen“ – kurz: Enquetekommission Prävention – mitarbeiten zu dürfen. Das gilt nicht zuletzt deshalb, weil wir gerade für den Bereich der sogenannten primären Prävention im Wesentlichen auf die Erkenntnisse aus der Arbeit der Enquetekommission II zurückgreifen konnten.