Protocol of the Session on March 10, 2010

Nach allen wissenschaftlichen Erkenntnissen kommt immer eine Vielzahl von Faktoren hinzu: instabile Persönlichkeit, geringe Belastungsfähigkeit, unzureichende soziale Netze, fehlende Ansprechpartner und Ähnliches. Gerade auf die familiäre Situation wird immer wieder hingewiesen. Soziale Isolation bis hin zur Kontaktarmut und Kontaktlosigkeit sowie das Gefühl, nicht ausreichend angenommen und begleitet zu werden, sind zentrale Faktoren, die einem Kind das Gefühl der Aussichtslosigkeit geben können. Erkennbar ist, dass das Fehlen eines Netzes des Vertrauens und der Zuwendung von ganz entscheidender Bedeutung ist.

Die Feststellung, die Anzahl der Selbstmorde bei Kindern sei gestiegen, ist schlichtweg empirisch falsch. Die Daten des Landesamtes für Information und Technik zeigen eindeutig, dass die Zahl der Selbstmorde in der Altersgruppe der unter 15Jährigen im Jahre 2008 gegenüber 2007 deutlich rückläufig war. Auch bei den 15- bis 20-Jährigen ist dies der Fall. Insgesamt ist ein Rückgang in diesen Altersgruppen von fast einem Drittel zu verzeichnen.

(Zuruf von der CDU: Hört, hört!)

Außerdem lässt sich insgesamt feststellen, dass die Zahl der vorsätzlichen Selbsttötungen junger Menschen schwankt. Monokausale Erklärungen verbieten sich daher.

Ich will im Übrigen klarstellen, dass man mit solchen Äußerungen sehr vorsichtig sein sollte. Es hilft weder in der Sache noch in dem – so hoffe ich – gemeinsamen Bemühen, für unsere Kinder die besten Bildungschancen zu gewährleisten. Wir haben Informationen darüber, dass, gerade wenn über die Fälle berichtet wird, die Zahl der Versuche zu Selbsttötungen steigt. In den Kölner Kliniken gab es

dramatische Anstiege nach dem Selbstmord von Torwart Robert Enke.

Deshalb sollte man einen solchen Zusammenhang zwischen irgendeinem Akt und einer Selbsttötung Kindern erst gar nicht nahelegen, denn das kann auch Kinder in Gefährdungssituationen bringen.

(Beifall von CDU und FDP)

Vielen Dank, Herr Minister Laschet. – Für die CDU-Fraktion hat Herr Kaiser eine Zusatzfrage.

Sehr geehrter Herr Minister, herzlichen Dank für diesen Sachvortrag. – Ich erlaube mir die Frage, wie Sie aus fachlicher Sicht beurteilen, dass Frau Kraft behauptet, dass unser Bildungssystem krank ist und krank macht, wie sie es in den „Aachener Nachrichten“ vom 25.02.2010 getan hat?

(Günter Garbrecht [SPD]: Da hat sie recht!)

Herr Minister, bitte.

Man kann das natürlich anhand der Zahlen beurteilen. Diese Kausalität verstehe ich schon nicht. Wir haben viel höhere Selbsttötungsraten in deutschen Bundesländern mit einem ähnlichen Schulsystem, wie es sich Frau Kraft wünscht.

(Zustimmung von Christof Rasche [FDP])

Kein Mensch käme auf die krude Idee zu sagen, die Kinder seien selbstmordgefährdeter, weil es in Berlin keine Hauptschule mehr gibt und weil sich die Hauptschule so intensiv um die Kinder kümmert. Insofern ist die Ihrer Frage zugrunde liegende Fragestellung schon schwierig.

Das Bildungssystem hat in den letzten Jahren die individuelle Förderung mit 8.124 zusätzlichen Lehrstellen eher erhöht.

(Manfred Kuhmichel [CDU]: Aha!)

Wir hatten im letzten Schuljahr die niedrigste Wiederholerquote, die es seit Jahren gab. Wir haben mehr Aufsteigerkinder als zuvor. Wir haben den besten Abiturdurchschnitt. Aus all diesen Zahlen des Bildungssystems kann man jedenfalls nicht ableiten, dass Kinder eher zu Selbsttötungen neigen.

(Beifall von der CDU)

Vielen Dank. – Frau Kastner hat sich zu einer Frage gemeldet.

Herr Minister, gibt es wissenschaftliche Analysen über die Entwicklung von Selbstmorden und unterschiedliche Interpretationen, was Frau Kraft zu dieser Äußerung veranlasst haben könnte?

Insgesamt kann man sagen, dass es unter Kindern und Jugendlichen die wenigsten Selbsttötungen gibt. Die meisten Selbsttötungen gibt es mit zunehmendem Alter, übrigens bei Männern stärker als bei Frauen. Ältere Männer sind also, was Selbstmorde angeht, am gefährdetsten.

Bei Kindern und Jugendlichen ist die Zahl rückläufig. Ich kann Ihnen das genauer sagen: Zwischen 1998 und 2008 ist die Anzahl der Suizide in der Gruppe der jungen Menschen unter 25 Jahren um fast ein Drittel zurückgegangen. In der Gruppe der 15- bis unter 20-Jährigen – das ist die Gruppe, die noch in der Schule ist – ist der Rückgang der Selbsttötungen sogar noch höher als in der Gesamtgruppe der Ein- bis 25-Jährigen. Die Zahl sank von 50, um überhaupt einmal eine Größenordnung zu sagen, auf 31, also um etwa 40 %. Über diese Größenordnung von tragischen Schicksalen von Menschen reden wir hier.

Der Rückgang der Anzahl der Selbsttötungen ist bei jungen Menschen unter 25 Jahren mit etwa 30 % deutlich stärker als der Rückgang in der Gesamtbevölkerung. In der Gesamtbevölkerung geht die Anzahl auch leicht zurück. Bei den Älteren ist er, wie gesagt, steigend, und bei den Jungen ist der Rückgang noch stärker als bei den Älteren.

Bei den unter 25-Jährigen hat Nordrhein-Westfalen konstant niedrige Selbsttötungsziffern. Der Wert für das Jahr 2008 lag bei 2,2 % auf 100.000 Einwohner. Der wurde nur in den Jahren 2003, 2001, 1999 und 1998 überschritten. In allen anderen Jahren ist der Wert unterschritten worden.

Ein Vergleich mit westdeutschen Flächenländern: In Rheinland-Pfalz beispielsweise liegt der Wert bei 2,6 %, also ständig über dem Wert von NordrheinWestfalen.

Vielen Dank. – Frau Kollegin Milz von der CDU hat ebenfalls eine Frage.

(Andrea Milz [CDU]: Hat sich mit der Antwort erledigt! Danke!)

Nun hat Frau Kastner das Wort zu einer Frage. Oder haben Sie sich nur ausgedrückt?

(Marie-Theres Kastner [CDU]: Ich habe mich nur ausgedrückt!)

Der nächste Fragesteller ist Herr Jörg von der SPDFraktion. Bitte schön.

Herr Minister Laschet, wir haben gestern unter dem Tagesordnungspunkt 4 die psychischen Erkrankungen von Kindern und Jugendlichen diskutiert. Ihr Kollege Herr Laumann hat uns bestätigt, dass es in den letzten Jahren einen dramatischen Anstieg gibt. Darunter sind natürlich auch die versuchten Selbsttötungen. Wie erklären Sie sich den Anstieg in den letzten Jahren? Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen dem immer höher werdenden Druck bei Jugendlichen, ihre Lebensplanung zu gestalten, und der Anzahl der versuchten Selbsttötungen, oder glauben Sie, das wäre völlig ohne Zusammenhang?

Herr Minister.

Herr Abgeordneter, Sie haben gerade darauf hingewiesen, dass die Anzahl der versuchten Selbsttötungen gestiegen ist. Das hat die Frau Abgeordnete Kraft, nachdem sie den ersten Fehler eingestanden hat, ja nachgetragen, indem sie gesagt hat, die Anzahl der versuchten Selbsttötungen sei gestiegen.

Darüber gibt es keine verlässlichen Zahlen. Das ist eine These, die man aufstellt. Ich persönlich habe mit Herrn Professor Etzersdorfer, dem Vorsitzenden der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention, telefoniert. Das ist derjenige, der im „Kölner StadtAnzeiger“ das Interview dazu gegeben hat. Der hat mir nach mehrfacher Nachfrage gesagt, dass es keine verlässlichen Zahlen dazu gibt. Die These, dass die Anzahl der versuchten Selbsttötungen steigt, ist durch nichts belegbar. Insofern kann ich zu Suizidversuchen nichts sagen.

Die Frage, ob die Anzahl psychischer Erkrankungen bei Kindern steigt, ist eher eine Frage an den Kollegen Laumann. Ich weiß nicht, ob er das aus dem Stand beantworten kann.

Vielen Dank. – Jetzt hat Frau Hendricks von der SPD-Fraktion die Möglichkeit, eine Frage zu stellen.

Sehr geehrter Herr Minister, wir haben gerade festgestellt, dass die Anzahl der Kinder mit psychischen Problemen steigt. Die Psychologen und Psychotherapeuten in Nordrhein-Westfalen haben darauf hingewiesen, dass offensichtlich im Zusammenhang mit „G8“ der Stress so steigt, dass zumindest die Beratungsstellen sehr viel häufiger aufgesucht werden, und dass sie befürchten, dass es mehr Suizide gibt.

(Zurufe von der CDU)

Frau Hendricks, stellen Sie bitte Ihre Frage.

Ich dachte, die Abgeordneten wollten jetzt weiter reden.

An dieser Stelle würde ich gerne wissen: Ist Ihnen diese Anmerkung der Psychologen und Psychologinnen bekannt? Und wie gehen Sie damit um, auch vonseiten des Ministeriums, weil es ja ein massiver Vorwurf ist, was das „G8“ angeht?

Herr Minister.

Bei der Ursprungsfrage des Abgeordneten Wittke ging es um Suizide. Sie überfordern mich ein wenig, wenn ich aus dem Ärmel etwas zur psychosozialen Lage von Kindern sagen soll. Ich schlage vor, dass Sie eine solche Frage stellen. Dann können wir das fachlich beantworten.

Bezüglich der Suizide – über die Suizidversuche gibt es ja keine Zahlen – ist völlig egal, wie in den 16 Ländern die Schulsysteme aussehen, „G8“, nicht „G8“, Hauptschule abgeschafft, sechs Jahre gemeinsames Lernen: Was auch immer sie haben, ist kein Rückschluss auf die Anzahl von Suizidversuchen oder Suiziden möglich. Und wenn jemand sagen würde, in Berlin sei die Anzahl der Suizide höher, würde ich nie im Leben auf den Gedanken kommen, dass dies daran liegt, dass es keine individuelle Förderung in Hauptschulen gibt.

(Beifall von der CDU)

Diesen Gedankengang muss man sich abgewöhnen. Ich könnte genauso gut sagen: Das ist in Berlin deshalb so schlimm, weil die die Hauptschule nicht so gut fördern wie wir in Nordrhein-Westfalen. Da würden Sie fragen, ob wir noch zu retten sind. Diese Logik ist falsch. Vielleicht sind die Kinder auch wegen Hartz IV oder deswegen beunruhigt, weil der Vater in Afghanistan ist. Es kann unzählige Gründe geben, weshalb Kinder in einer solchen Notsituation sind, dass sie sich selbst das Leben nehmen. Das mit irgendeinem politischen Streitthema deckungsgleich zu machen, verbietet sich eigentlich für eine politische Auseinandersetzung.

(Beifall von CDU und FDP)

Der nächste Fragesteller ist Herr Wittke von der CDU-Fraktion.

Vielen Dank. – Herr Minister, im Jahre 1999 hat die damalige Landesregierung, der ja auch Frau Kraft angehörte, auf eine entsprechende Anfrage im Landtag geantwortet, dass der Landesregierung über die allgemein bekannten Erkenntnisse hinaus keine besonderen Erkenntnisse über die Hauptmotive für Selbstmorde vorliegen. Jetzt behauptet Frau Kraft, dass es einen Zusammenhang zwischen Schulsystem und Selbstmorden

gibt. Können Sie sich erklären oder liegen Ihnen Erkenntnisse vor, welche Fakten Frau Kraft zu diesem Sinneswandel bewogen haben können, und kann es sein, dass man in der Opposition weitergehende Erkenntnisse zugänglich gemacht bekommt, als das in Regierungsverantwortung zu Frau Krafts Zeiten der Fall gewesen ist?