Protocol of the Session on December 1, 2005

Das Wort hat nun für die CDU-Fraktion Herr Abgeordneter Jostmeier.

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Zuhörerinnen und Zuhörer! In den letzten zehn, 15 Jahren hat die Komplexität staatlicher Steuerungsaufgaben im Zuge tiefgreifender Wandlungsprozesse in der Politik sehr stark zugenommen. Durch die Globalisierung, durch den Übergang von der Industrie- zur Wissensgesellschaft und durch die internationalen und transnationalen Institutionen und Regierungsorganisationen haben sich nicht nur die Rahmenbedingungen für staatliches Handeln sehr verändert und sind traditionelle ordnungspolitische Steuerungsmodelle infrage gestellt worden, sondern diese Entwicklung hat insbesondere auch aus der Sicht der Bürgerinnen und Bürger zu mehr Intransparenz, Bürgerferne und Demokratieferne geführt.

Die Entwicklung in der Europäischen Union hat zwar zu Frieden, Freiheit und Wohlstand geführt – zweifellos –, aber für die Bürger hat diese ganze Entwicklung auch zu Politikferne beigetragen, zu Undurchschaubarkeit, zu unklaren, nicht nachvollziehbaren Zuständigkeiten und Verflechtungen bis hin zur Angst vor den Entwicklungen und vor dem, was aus dem Bereich der politischen Institutionen denn kommt. Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind Demokratie und politisch Handelnde nicht nur in der Verantwortung, Tagesprobleme zu lösen, sondern auch in der Verantwortung, Bürgernähe, Transparenz und Effizienz staatlichen Handelns zu sichern. Im Sinne von Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit heißt das konkret: Wir müssen die Landtage und die Kommunen stärken.

(Beifall von der CDU)

Wie war das denn mit der Entwicklung der vergangenen Jahre und Jahrzehnte? Die Länder hatten und haben kaum noch Möglichkeiten der Selbstgestaltung von Politik. Wir haben seit 1949, liebe Kolleginnen und Kollegen, erlebt, dass von etwa 50 Grundgesetzänderungen drei Viertel in die Kompetenzregelungen zulasten der Länder und zugunsten des Bundes eingegriffen haben. Der verfassungsmäßig vorgesehene Zuständigkeitsvorrang der Länder nach Art. 72 ff. GG ist in sein Gegenteil verkehrt worden und der im Grundgesetz enthaltene Gestaltungsföderalismus zum bloßen Beteiligungsföderalismus degeneriert.

Das ging, um konkret zu werden, sogar so weit – das war und ist staats- und verfassungsrechtlich

sehr bedenklich –, dass im Sommer des Jahres 2003 zahlreiche Staats- und Verfassungsrechtler von der „Käuflichkeit der Politik“ und der „Bakschisch-Republik“ sprachen, als sich die damalige rot-grüne Bundesregierung die Zustimmung verschiedener Bundesländer zur Rentenreform mit finanziellen Zugeständnissen erkaufte, nachzulesen in der „Welt“, in der „Süddeutschen“, in der „Frankfurter Allgemeinen“ vom 18. August 2003. Daher bestand und besteht über die Parteigrenzen hinweg Konsens, liebe Kolleginnen und Kollegen: Der deutsche Föderalismus bedurfte und bedarf tiefgreifender Reformen.

Sie werden sich erinnern, meine Damen und Herren, dass am 21. Juli dieses Jahres der Bundespräsident in seiner Fernsehansprache die Zustimmung – vielleicht sogar die Notwendigkeit – zu vorgezogenen Neuwahlen nicht nur damit begründet hat, dass er auf den desolaten Bundeshaushalt verwies, dass er sagte, wir müssten die Arbeitslosigkeit wirksam bekämpfen und die sozialen Sicherungssysteme anpacken, sondern er hat in seiner Begründung auch darauf hingewiesen, dass die derzeitig bestehende föderale Ordnung stark reformbedürftig sei. In den vergangenen Jahren hat es mehrere Reformbestrebungen gegeben. Am 31. März 2003 hat die Landtagspräsidenten – und Fraktionsvorsitzendenkonferenz in Lübeck eine gemeinsame Erklärung verabschiedet.

Herr Kuschke, jetzt komme ich zu Ihnen. Sie haben Ihre Rede damit begonnen, Sie hätten mehr erwartet. Wissen Sie, wie das damals gewesen ist, wie sich Nordrhein-Westfalen an der Vorbereitung der Landtagspräsidentenkonferenz beteiligt hat? Vielleicht wissen Sie das nicht mehr. Sie saßen da hier in der zweiten Reihe. Die SPD und die damalige rot-grüne Mehrheit haben das Thema nicht nur nicht zur Kenntnis genommen, sondern waren ein Jagdhund, den wir zum Jagen tragen mussten.

(Beifall von CDU und FDP)

Wir haben ein gemeinsames Papier als Beitrag zu dieser Landtagspräsidentenkonferenz erstellt. Wir haben es entworfen, und Sie haben es ständig verbessert und erweitert. Mit Ihrer Hilfe, Herr Kuschke, waren wir mit unserem nordrheinwestfälischen Papier so spät, dass es in der Landtagspräsidentenkonferenz gar nicht mehr wahrgenommen werden konnte.

Weiter sagen Sie, Sie wollten uns und der Regierung gerne behilflich sein, dieses Projekt zu verwirklichen. Wenn Sie uns so behilflich sind, wie Sie uns damals in der Diskussion behilflich waren,

müssen wir leider auf Ihre Hilfe verzichten. Dann ist sie nichts wert.

(Beifall von der CDU)

Dann haben Sie gesagt, wir hätten unsere Hausaufgaben nicht gemacht. Herr Kuschke, ich bitte um Nachsicht. Wenn Sie von diesem Vorgang Kenntnis haben und trotzdem so reden, ist das schlimm. Wenn Sie es nicht wissen und so sprechen, ist es vielleicht noch viel schlimmer.

(Beifall von der CDU)

Wir sind gerne bereit, diese Dinge mit Ihnen im Konsens zu verwirklichen. Wir brauchen den Konsens – völlig klar. Wir wissen aber auch, dass wir Konsens hatten. Nur: Ratschläge dieser Art sollte man nur dann geben, wenn man die Vorgänge von damals kennt.

(Beifall von der CDU)

Im November des Jahres 2003 haben sich Bundesrat und Bundestag zu einer gemeinsamen Föderalismuskommission zusammengesetzt, die leider am 17. Dezember 2004 gescheitert ist, weil es noch Restdifferenzen – so darf ich es einmal formulieren – bei der Hochschulpolitik gab.

(Sylvia Löhrmann [GRÜNE]: Weil wir stand- haft waren!)

Ach, weil Sie standhaft waren. Gut. Dann stellen Sie Ihre Standhaftigkeit nachher hier und in den nächsten Wochen unter Beweis. Dann kommen wir gut miteinander klar.

(Beifall von CDU und FDP)

Am 6./7. November 2005 ist ein Durchbruch erzielt worden mit einem guten Ergebnis – der Herr Ministerpräsident hat es hier vorgetragen –, das die föderale Struktur stärkt und, was wichtig ist, zu mehr Transparenz und Demokratie führt. Wegen der Koalitionsverhandlungen und den Schlagzeilen der letzten Wochen ist dieses für die Bundesrepublik und unser föderales System sehr wichtige Ergebnis leider unter den vielen Schlagzeilen nicht ausreichend wahrgenommen und gewürdigt worden.

Gut ist das Ergebnis für unser Land und für Deutschland, weil es erstens eine bessere Zuordnung und eine sauberere Definition der Verantwortlichkeiten gibt.

(Vorsitz: Vizepräsidentin Angela Freimuth)

Es wird zweitens eine Entflechtung der Bundes- und Länderkompetenzen vorgenommen.

Herr Kuschke, Sie haben die Frage gestellt, wie das gehen soll. Haben Sie das nicht nachgelesen? Die dort vorgestellte Entflechtung trägt dazu bei, dass die Zustimmungsnotwendigkeit des Bundesrats, die bisher bei 60 % lag, auf 30 bis 40 % zurückgeführt wird. Dort findet eine Machtabgabe der Länder, in diesem Falle der Landesregierungen, zugunsten des Bundes statt. Aber im Gegenzug fallen bestimmte Politikbereiche wieder in die Zuständigkeit der Länder – der Landtage. Das heißt, im Bundesrat hatten bisher die Regierungen das Sagen, und durch die Rückverlagerung ganzer Politikbereiche, zum Beispiel Ladenschluss, Dienstrecht, Versorgungsrecht, Umweltrecht, bekommen die Landtage eine Stärkung. Das haben wir immer gefordert.

(Beifall von der CDU)

Herr Kollege Jostmeier, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kuschke?

Aber gerne. – Bitte, Herr Kuschke.

Bitte Herr Kuschke.

Herr Kollege Jostmeier, sind Sie denn bereit zur Kenntnis zu nehmen, dass beispielsweise im Bereich des Wohnungsbaus jetzt schon die Rechte der Exekutive außerordentlich hoch sind und es die Landesregierung noch vor kurzem bei der Antwort auf eine Kleine Anfrage abgelehnt hat, dem Parlament dort mehr Rechte zuzuordnen? Wenn die Länder in diesem Bereich jetzt noch einmal gestärkt werden, tritt kein Automatismus ein, der dazu führt, dass die Landtage mehr Rechte bekommen.

Ich kenne den Text dieser Kleinen Anfrage nicht. Bei der Haltung, die die Landesregierung und die CDU-Fraktion in dieser Frage vertreten, gehe ich nicht davon aus, dass wir in diesem Bereich Kompetenzen, die uns zustehen, nicht wahrnehmen werden. Das Gegenteil wird der Fall sein.

Ein Punkt ist mir in diesem Zusammenhang noch wichtig, auf den Sie, Herr Kusche, in Ihrer Rede hingewiesen haben. Zusätzlich ist eine Stärkung der Bundesländer im Rahmen der EU-Politik in zwei Bereichen erreicht worden:

Zum einen sind die Befugnisse der Länder – Artikel 23 – nicht nur konkretisiert worden, sondern das, was der Bund früher gefordert hat – früher

heißt: SPD und Grüne – die Mitspracherechte der Länder zurückzuschneiden, findet nicht statt, sondern das genaue Gegenteil.

Der zweite Bereich betrifft die EU-Haftung; auch das sprachen Sie an. Wenn Sie es durchgelesen hätten, was dort geregelt ist, hätten Sie möglicherweise den einen oder anderen Satz nicht so gesagt. Bei Verstößen gegen die Maastrichter Stabilitätskriterien haben die Sanktionsmaßnahmen der EU nun zur Folge, dass der Bund 65 % trägt und die Länder 35 %. Ferner ist enthalten, dass von diesen von den Ländern zu tragenden 35 % wiederum 35 % nach der Zahl der Einwohner in den Ländern und 65 % nach dem Verursacherprinzip getragen werden sollen. Dieses System wird möglicherweise Vorbild und ein wichtiger Baustein sein für die künftig noch zu regelnden Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern. Das ist wegweisend.

Wir fassen zusammen – ich denke, ich kann partei- oder fraktionsübergreifend sprechen –, die Ziele der Föderalismusreform, die wir immer gewollt haben, sind folgende:

Erstens. Wir wollen klare Strukturen und Kompetenzen, damit die Bevölkerung die Zuständigkeiten erkennen kann und Transparenz und Effizienz in das staatliche Handeln hineinkommen.

Zweitens. Wir wollen klare Regelungen zwischen legislativen und exekutiven Kompetenzen.

Drittens. Wir wollen Bürokratieabbau mit getrennten Kassen. Das ist ausführlich und dankenswerterweise dargestellt worden.

Viertens. Wir wollen eine Wiederherstellung der politischen Handlungsfähigkeit.

Fünftens. Wir wollen klare Stellungen und mehr Kompetenzen für die Landesparlamente.

Sechstens. Wir wollen saubere Kompetenzen bei EU-Vorgaben.

Und siebtens. Wir wollen keine Durchgriffsrechte der Bundesebene auf die Kommunen.

Wenn wir Revue passieren lassen, was vorgetragen worden ist, müssen wir feststellen: Das ist im Wesentlichen erreicht. – Ich stehe für meine Partei und meine Fraktion – ich denke, dass ich das wenigstens zum Teil für die anderen hier sagen kann – nicht an, um dem Regierungschef des Landes Nordrhein-Westfalen, der die Federführung bei den Verhandlungen dieser Thematik hatte, ein ganz herzliches Dankeschön für das, was zugunsten der Föderalismusreform erreicht worden ist, auszusprechen.

(Beifall von CDU und FDP)

Meine Damen und Herren, vor dem Hintergrund der Konfliktlinien, die bestanden haben, kann man dieses Ergebnis durchaus als gut – vielleicht später einmal sogar als historisch – werten.

Jeder von uns weiß: Es bleibt noch vieles zu tun in der 16. Wahlperiode; das ist dargestellt worden. Die Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern müssen neu geregelt werden. Ich füge persönlich hinzu: Ich bin der Meinung, dass eine Vollendung der Föderalismusreform – da spreche ich mit dem Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Papier – nur dann erreicht ist, wenn wir zu verschiedenen Länderfusionen kommen.

Sie wissen: Das war bis 1969 eine Zwangsvorschrift im Grundgesetz. Jetzt ist es eine KannVorschrift. Wir wissen auch, dass das nur mit Zustimmung der Bevölkerung geht. Aber ein föderaler Wettbewerb, der einen funktionierenden Föderalismus erst möglich macht, ist nur bei gleich starken Ländern möglich.

Ein Punkt zum Schluss, der mir wichtig ist, meine Damen und Herren. Es gibt einen Themenbereich in dieser ganzen Diskussion, der uns immer vor die Frage stellt, ob wir nicht selber diesen Zustand fördern und eigentlich „mea culpa“ sagen müssen: Wir haben in den letzten zehn Jahren unter RotGrün erlebt, dass sich das nordrhein-westfälische Parlament – und das gilt nicht nur für NordrheinWestfalen – selber entmündigt hat, indem wir Kernbereiche des parlamentarischen Handelns in Projekte, in runde Tische, in Zukunftsinitiativen, in Aktionsbündnisse, Beiräte, Konsensrunden, GmbHs und so weiter ausgelagert haben.