Der Landtag hat bei seiner Auseinandersetzung mit jeder Form von Gewaltherrschaft, oftmals nach schwierigen Diskussionen untereinander, immer einen Weg gefunden, dass wir eng beieinander waren und gemeinsam beschlossen haben – in der Regel einstimmig. Manchmal war das nicht einfach zu erreichen, aber wir haben es nach langen Diskussionen immer geschafft. In der Einschätzung von Gewaltherrschaft, sei es von rechts – Nationalsozialismus – oder sei es von links, waren wir immer einer Meinung und haben das hier gemeinsam getragen. Das zeichnet im Übrigen diesen Landtag auch in hohem Maße aus.
Die Debatten im Landtag Nordrhein-Westfalen über den Nationalsozialismus und den Rechtsextremismus sind in unserer eigenen Schriftenreihe – ich habe es deshalb auch mitgebracht –, Band 14, im Jahre 2003 herausgegeben, detailliert dokumentiert. Es wäre gut, wenn der eine oder andere in diese Schriftenreihe, vor allem in dieses Buch, einmal hineinschauen würde. Da hat der Historiker Johann Paul ausführlich dargestellt, wie sich das Parlament, vor allem unsere Vorgänger, insbesondere in den ersten Jahren des Landtags Nordrhein-Westfalen
mit dem Nationalsozialismus auseinandergesetzt hat. Dabei hat auch – das finden Sie auch zitiert – die nationalsozialistische Vergangenheit einzelner Parlamentarier eine große Rolle gespielt. Er hat sie im Einzelnen dargestellt.
Das ist im Übrigen aber nicht die einzige historische Arbeit, die über diese wichtige Frage erstellt worden ist. Allein in unserer Bibliothek haben wir – und die Liste ist allen Fraktionen zugegangen – etwa 12 Arbeiten, die über dieses Thema gemacht worden sind. Es sind hochinteressante Arbeiten dabei. Ich vermute, viele werden Sie nie gesehen und nie in der Bibliothek gesucht haben; aber sie sind da, und wer es wissen will, kann sich informieren.
Da ist 1971 ein Buch des Historikers Rolf Billerbeck unter dem Titel „Die ersten Landtage und der Nationalsozialismus“ erschienen. Es ist sehr detailliert. Da hat aber auch Johann Paul, über den ich gerade schon gesprochen habe, bereits in den 70er-Jahren eine Abhandlung über dieses Thema verfasst. Wenn Sie genau hinschauen, werden Sie auch eine Arbeit von unserem Landtagskollegen und dem Fraktionsvorsitzenden der FDP, Herrn Papke, finden, der über genau die Frage der FDP in den ersten Jahren ihres Existierens hier im Landtag Nordrhein-Westfalen und den Nationalsozialismus eine 400 Seiten umfassende wissenschaftliche Arbeit vorgelegt hat. Sie steht auch in unserer Bibliothek; das können Sie alles nachlesen.
Was ich hier sage, ist im Übrigen nur ein kleiner Ausschnitt aus der Literatur, die es darüber gibt. Man muss sich nur damit einmal beschäftigen.
Ich möchte, liebe Kolleginnen und Kollegen – ich habe es mit der Präsidentin auch schon besprochen –, dem Präsidium vorschlagen, dass wir für alle, die daran interessiert sind – natürlich in erster Linie für den Landtag selbst –, eine Übersicht über alle Publikationen, die zu diesem Thema erschienen sind, zusammenstellen. Jetzt haben wir nur einen Bericht über das, was bei uns in der Bibliothek ist. Aber darüber, was sonst noch alles gefertigt worden ist, konnten wir in der Kürze der Zeit noch keinen Überblick gewinnen.
Ich fürchte, es werden sehr viele Arbeiten sein. Aber auch die müsste man zur Kenntnis nehmen und sich vielleicht auch einmal anschauen. Sollte sich dabei herausstellen, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass es zweckmäßig wäre, eine Biografie aller – nicht nur einiger – Landtagsabgeordneter zu machen, so wie es der Deutsche Bundestag für alle seine Mitglieder getan hat, sollten wir dies im Präsidium gemeinsam diskutieren und gegebenenfalls einen entsprechenden Auftrag erteilen.
Das ist dann aber eine Biografie über alle Abgeordneten, die in diesem Landtag seit 1946 ihre Arbeit verrichtet haben. Die Angaben, die wir bis jetzt haben, sind in der Tat rudimentär. Das kann man vervollständigen. Das ist sicherlich eine umfängliche
Arbeit, die auch nicht ganz billig sein und eine Menge Zeit in Anspruch nehmen wird. Aber wenn wir der Meinung sind, dass man das tun sollte, sollten wir einen entsprechenden Auftrag erteilen. Für eine zusätzliche Kommission, die all das unter einem bestimmten Gesichtspunkt untersuchen soll, gibt es jedoch, glaube ich, keine Notwendigkeit.
Herr Kollege Sagel, der Antrag, den Sie hier eingebracht haben, vermittelt einen bestimmten Eindruck. Die Baden-Württemberger, die Schwaben sagen „Geschmäckle“. Wenn man sich Ihren Antrag anschaut, stellt man fest: Sie fordern eine Dokumentation oder eine Untersuchung im direkten Zusammenhang mit der aktuellen Diskussion über die Vergangenheitsbewältigung politischer Parteien. Ihnen scheint es darum zu gehen, auf die Forderung nach Aufklärung der DDR-Vergangenheit von Politikern mit der Forderung nach Aufklärung der NS-Vergangenheit von Politikern zu reagieren, also sozusagen ein gegenseitiges Aufrechnen: Willst du bei meinen nachgucken, dann gucke ich mal bei deinen nach. – Das ist dieser Sache nicht angemessen, weder in der einen noch in der anderen Richtung.
Ich will Ihnen ganz offen sagen: Der Umgang eines demokratischen Staates mit Menschen, die in politischen Gewaltsystemen gelebt haben und dort Mitläufer, vielleicht auch Mittäter, aber in jedem Fall Mitverantwortliche waren – politisch ist man immer irgendwie verantwortlich für das, was in einem Staat geschieht, auch wenn man es nicht selber entschieden hat, und wird dafür in Haftung genommen –, ist sehr schwierig.
Ich verstehe schon, dass viele Menschen sehr irritiert darüber sind, wie die Gesellschaft der jungen Bundesrepublik Deutschland mit Menschen, die in der Zeit des Nationalsozialismus politisch motivierte Straftaten begangen und Gewalt verübt haben, umgegangen ist. Typisches Beispiel dafür ist der aktuelle Prozess um einen ehemaligen SS-Mann und die Straftaten, die er in den Niederlanden begangen hat. Viele junge Menschen bedrückt das – mich auch, obwohl ich nicht zu den Jungen gehöre –, dass wir in dieser Frage nicht aufmerksam genug aufgeklärt und verurteilt haben, und zwar rechtsstaatlich. Das irritiert viele junge Menschen nicht nur in der Bundesrepublik, sondern auch im Ausland.
Aber mir geht es jetzt nicht um die Verantwortung und die Konsequenzen für politisch motivierte Straftaten in Gewaltsystemen, sondern mir geht es jetzt um die Frage: Wie geht der demokratische Staat eigentlich mit den vielen Mitläufern um, mit den Verführten, mit den Menschen, die die Dimension ihres Handelns nicht immer voll übersehen haben?
Ich habe hierfür das Zitat eines unserer Landtagskollegen – es liegt schon ein bisschen zurück –, der im nationalsozialistischen Deutschland politisch verfolgt wurde, der im Konzentrationslager Sachsenhausen gesessen hat und auf einem der Todesmärsche 1945 von den Amerikanern befreit wurde. In einer Debatte im Landtag von NordrheinWestfalen im Juli 1954 hat der damalige Fraktionsvorsitzende und spätere Ministerpräsident Fritz Steinhoff Folgendes ausgeführt – ich glaube, er hat es damals für das gesamte Parlament gesagt; ich würde das gerne zitieren, es ist nicht sehr lang –:
Es ist nämlich ein Unterschied dahin zu machen, ob jemand in seiner Jugendzeit den gefährlichen … Kunstgriffen der Nationalsozialisten erlag oder ob er dies im reiferen Alter tat. Wenn solche damals jungen Menschen sich ehrlich bemühen, aus ihren Fehlern und Erfahrungen zu lernen, und positive Schlussfolgerungen für die Demokratie ziehen, dann sind wir die ersten, die ihnen die Hand reichen.
Das sagte 1954 jemand, der selbst die Gewalt im nationalsozialistischen Deutschland erleiden musste. Ich denke, diese Grundsätze sollten auch für die Menschen aus der ehemaligen DDR gelten.
Für diejenigen aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, die heute noch Anhänger des nationalsozialistischen Gewaltsystems sind, die dieses Gedankengut weiter verbreiten, die als Neonazis und Rechtsextremisten unsere demokratische Grundordnung infrage stellen, für die gibt es keine ausgestreckte Hand.
Das gilt im Übrigen auch für diejenigen, die den DDR-Schießbefehl leugnen und die zu den Gegnern der freiheitlich-demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes gehören. Wer unseren Staat ablehnt, wer wieder eine Diktatur der Hauptverwaltung „Ewige Wahrheiten“ – so hat Havemann früher einmal das ZK genannt – einrichten möchte, dem werden wir nicht die Hand reichen, den werden wir politisch bekämpfen.
Damit, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ist aus meiner Sicht zum Antrag von Ihnen, Herr Sagel, alles gesagt. Der Landtag muss sich bei seiner Aufarbeitung des Nationalsozialismus keine Unterlassung vorwerfen lassen.
Jeder, der sich zu unseren demokratischen Grundprinzipien bekennt, der auf dem Boden des Grundgesetzes steht, ist uns willkommen. Politisch ewig Gestrige – ob von rechts oder links – sind unsere Gegner. Ich empfehle Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, den Antrag von Herrn Sagel abzulehnen.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Edgar Moron hat viel von dem vorweggenommen, was auch uns bewegt und unsere Haltung zu diesem Antrag ausmacht. Ich will für meine Fraktion aber einige Punkte hinzufügen.
An den Anfang stellen möchte ich ein Zitat aus der großen Rede von Richard von Weizsäcker vom 8. Mai 1985. Darin hat er zu Recht gesagt:
Es geht nicht darum, Vergangenheit zu bewältigen. Das kann man gar nicht. Sie lässt sich ja nicht nachträglich ändern oder ungeschehen machen. Wer aber vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart. Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren.
Dieses Zitat unseres ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker drückt für uns aus, was uns im Kern beschäftigt, wenn wir ein Anliegen zu behandeln haben, bei dem es um die Frage geht: Gibt es in der Vergangenheit vielleicht blinde Flecken bezogen auf den Landtag und einige oder vielleicht auch mehrere Abgeordnete?
Dieses Motiv, nicht blind zu sein und nicht wegzugucken, ist für uns handlungsleitend. Wenn wir den vorliegenden Antrag auf diesen Kern reduzieren – ich komme gleich noch zu einer Einordnung –, dann ist es das Anliegen meiner Fraktion, dass dies in der Tat vom Präsidium – im Lichte der Untersuchungen, die es schon gibt – untersucht und bewertet wird und dass dazu auch eine Empfehlung erarbeitet wird. Wenn es denn eine Lücke gibt, sollte diese Lücke auch gefüllt werden.
Wir möchten an dieser Stelle auch deutlich machen, dass wir mit der heutigen Debatte das Thema für uns nicht für erledigt erklären, sondern zu einem gegebenen Zeitpunkt auch daran erinnern möchten, damit klar ist: Wir wollen uns dieser Frage und ihrer Beantwortung nicht entziehen.
Man muss aber – das ist uns auch wichtig – den Antrag des Kollegen Sagel natürlich auch einordnen. In dankenswerter Offenheit kommt er mit dem ersten Satz ja gleich zum Thema. Im Antrag heißt es nämlich: „Zur aktuellen Diskussion über die Vergangenheitsbewältigung der politischen Parteien …“ Das macht deutlich, worum es eigentlich geht. Würde es nur um das Anliegen gehen, das ich eben skizziert habe, hätte man auch andere Wege finden können. Hier wird aber der Versuch unternommen,
präventiv zu einer Debatte, die in NordrheinWestfalen anstehen wird – so wird beispielsweise nach der bald stattfindenden Listenaufstellung der Linkspartei gefragt werden, welche Verstrickungen in eine und welche Haltungen zu einer Diktatur auf deutschem Boden es gibt –, mit dem Finger auf andere zu zeigen.
Ich will hier nicht wieder beim Historikerstreit oder bei der in den 70er-Jahren geführten Debatte über die Einordnung totalitärer Systeme anfangen. Ich will aber für meine Fraktion klarmachen, dass jeglicher politische Revisionismus, also der Versuch, durch historische Einordnung historische Ereignisse kleiner zu machen, der immer auch davon geleitet ist, historische Ereignisse politisch zu instrumentalisieren, den historischen Ereignissen nicht gerecht wird.
Diese Art der Relativierung mussten wir in der letzten Zeit beispielsweise auch bei der Rede des Ministerpräsidenten Oettinger im Zusammenhang mit der Gedenkfeier für Herrn Filbinger erleben. Eine solche Instrumentalisierung ist immer zugleich eine Verhöhnung der Opfer; denn sie müssen die Demütigung und das Leid noch einmal durchleben.
Deshalb darf es an dieser Stelle keine Relativierung und keinen Revisionismus geben. Historisches Unrecht bleibt immer einzigartig und muss auch als solches behandelt werden. Auch ein Revisionismus von links, wie wir ihn mit diesem Antrag erleben, bei dem es darum geht, durch eine Relativierung präventiv eine Diskussion über historisches Unrecht zu vermeiden, muss zurückgewiesen werden.
Kollege Sagel, wenn Sie das Anliegen ernst meinen, sich mit der Möglichkeit eines blinden Flecks zu beschäftigen, muss ich Ihnen deshalb empfehlen, Ihren Antrag zurückzuziehen, um glaubwürdig zu sein. Wir jedenfalls unterstützen einerseits dieses Anliegen, weisen andererseits aber mit aller Entschiedenheit den Versuch des Revisionismus zurück. – Vielen Dank.
Herren Abgeordneten! Wir dürfen heute feststellen, dass uns der zur Zeit des Inkrafttretens des Grundgesetzes im Jahre 1949 noch ungewisse demokratische Wiederaufbau unseres Landes im Ergebnis gelungen ist. Wir wissen alle, dass diese Demokratisierung auch mit einer Eingliederung ehemaliger Mitglieder der NSDAP bzw. sonstiger NS-Organisationen einherging.