Die Abschaffung, meine sehr verehrten Damen und Herren, der Stichwahl als Verlust demokratischer Legitimation zu betrachten, ist schlicht scheinheilig. Werte Kollegen von der SPD, vielleicht hätten Sie am 26. Mai in Münster bei der Urteilsverkündung etwas genauer zuhören sollen; Sie saßen ja auch in der ersten Reihe. Sicherlich wäre Ihnen dann nicht entgangen, dass auch ein Wahlsystem ohne Stichwahl rechtstaatlichen und demokratischen Grundsätzen in jeglicher Hinsicht genügt.
Die FDP hat in diesem Hohen Hause oft genug darauf hingewiesen, dass die Mär von der negativen Mehrheit einfach nicht trägt. Diejenigen, die den siegreichen Kandidaten oder die siegreiche Kandidatin nicht gewählt haben, haben damit auch nicht ihre Ablehnung signalisiert, sondern nur ihre Präferenz für einen anderen Kandidaten. Das entspricht dem Wesen demokratischer Wahlen.
Bei Bundestags- und zukünftig auch Landtagswahlen in NRW werden im Übrigen regelmäßig Direktkandidaten mit Mehrheiten von 30 % oder 35 % gewählt – und das bei einer Wahlbeteiligung zwischen 60 % und 80 %. Sie wissen, 30 % von 60 % der Wahlberechtigten entspricht gerade einmal 18 % aller Wahlberechtigten. Interessant, dass der laute Aufschrei aus den Reihen der Opposition in diesem Fall ausbleibt.
Bei der Kommunalwal 2004 wurde der Oberbürgermeister der Stadt Mönchengladbach, Ihrer Heimatstadt, Herr Körfges, in der Stichwahl mit 52 % der Stimmen von gerade einmal 31,3 % der Wahlberechtigten gewählt. Das entspricht einer tatsächlichen Legitimation von etwa 16 % aller Wahlberechtigten. Das, meine Damen und Herren von der SPD, hat Sie auch nie gestört, vielleicht weil es sich bei dem Oberbürgermeister um ein Mitglied Ihrer Partei handelt.
Wir bleiben dabei: Stichwahlen bedeuten einen zweiten Wahlgang binnen kürzester Zeit und verleiten zur Wahlmüdigkeit. Das haben wir zu Recht abgeschafft.
Auch der zweite Punkt läuft völlig ins Leere. Kein einziges Bundesland verfügt auf kommunaler Ebene heute noch über eine Sperrklausel,
das von absoluter SPD-Mehrheit geführte Rheinland-Pfalz eben auch nicht. Warum machen Sie es denn da nicht anders?
Ich wiederhole noch einmal an dieser Stelle, Herr Prof. Bovermann: Die „Villa Kunterbunt“, der von Ihnen gebrauchte Begriff, ist verfassungsgemäß. Zudem hat schon das Bundesverfassungsgericht am 13. Februar 2008 für Schleswig-Holstein – Schleswig-Holstein hat kein eigenes Landesverfassungsgericht – entschieden, dass kommunale Sperrklauseln verfassungswidrig sind. Nur die Funktionsunfähigkeit der Räte kann eine solche Sperrklausel ausnahmsweise legitimieren. Und die „Villa Kunterbunt“ ist kein Indiz für Funktionsunfähigkeit.
Ein Rat ist aber noch nicht dadurch funktionsunfähig, dass er Mitglieder aus acht oder neun Parteien oder Listen hat – Ihre „Villa Kunterbunt“! Selbst im Bundestag sitzen schon fünf Parteien bzw. Fraktionen. Auch im Rat kann man koalieren, und die Kleinen tragen auch ihren Teil dazu bei, den Meinungspluralismus gerade in größeren Städten und Kreisen demokratisch korrekt abzubilden.
Was die Extremisten unter den Mandatsträgern angeht: Die FDP-Fraktion zieht von jeher die politische Auseinandersetzung der strikten Verbotspolitik vor. Aber vielleicht, meine Damen und Herren von der SPD, haben Sie ein Interesse an einer Sperrklausel ja nur in der Hoffnung auf ein Mehr an eigenen Mandatsträgern. Sperrklauseln und erforderliche Umrechnungen machen es möglich. Das wissen Sie.
Lassen Sie sich gesagt sein: Sie kompensieren Ihre auf allen Ebenen stattfindende Wählerflucht nicht durch Sperrklauseln. Sie machen den Menschen in diesem Land etwas vor.
In dem Zusammenhang empfehle ich Ihnen: Lesen Sie doch heute einmal den „stern“, lesen Sie die Meinungsumfrage von forsa.
Da antwortet forsa-Chef Güllner unter der Überschrift auf Seite 25: „Die SPD öffnet die Schleusen nach links.“
Lafontaine hat es damals als saarländischer SPD-Ministerpräsident vorexerziert: Er machte die Schotten nach links dicht und hielt die Grünen fast immer unter fünf Prozent. Nun aber öff
Darüber sollten Sie einmal nachdenken anstatt über das sinnlose Fordern von Sperrklauseln. – Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege Engel. – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt Herr Kollege Becker.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist immer schön, wenn ideologische Triebtäter von radikalen Vereinfachern reden. Das haben wir gerade zur Kenntnis nehmen dürfen, wenn Herr Engel redet.
Herr Engel, wenn Sie von radikalen Vereinfachern reden, dann waren Sie gerade ein Musterbeispiel für radikale Vereinfachung. Das ist der freundlichste Begriff, der mir zu Ihrer Rede einfällt.
Meine Damen und Herren, es sind drei Bestandteile, die die SPD fordert. Ich will sie der Reihe nach bearbeiten.
Zunächst einmal die Frage der Stichwahl. Die Redner der Koalition, die die Stichwahl abgeschafft und ins Feld geführt haben, dass im zweiten Wahlgang – der Stichwahl – die Wahlbeteiligung niedriger läge, übersehen etwas, und zwar – wie ich meine – aus durchsichtigen Gründen. Denn wenn man sich die Statistik 1999 und 2004 ansieht, wird man feststellen, dass diejenigen, die im ersten Wahlgang vorne lagen und bis auf eine Ausnahme in der Stichwahl verloren haben, immer CDU-Bürgermeisterkandidaten waren,
also das Motiv sehr klar ist. Sie übersehen, dass die Menschen, die in der Stichwahl die Möglichkeit hatten, zwischen den beiden im ersten Wahlgang vorne liegenden Kandidaten zu wählen, in der Regel mehr waren, als die Menschen, die nur diese beiden im ersten Wahlgang gewählt haben.
Soll heißen: Von denen, die vorher andere Kandidaten gewählt haben, haben längst nicht alle, aber eine relevante Anzahl von Menschen die Gelegenheit wahrgenommen, sich sehr wohl zu der Auswahl zwischen diesen beiden vorne liegenden Kandidaten zu äußern.
Mithin kommt es dann zu den Erscheinungen, dass hin und wieder der im ersten Wahlgang vorne liegende Kandidat im zweiten Wahlgang nicht vorne liegt, weil eine Mehrzahl der Bürgerinnen und Bürger zwar jemand anderes im ersten Wahlgang präferierte, nämlich einen der vielen anderen Kandidaten, aber sich bei der Auswahl auf nur zwei Kandidaten dann sehr wohl festgelegt hat. Soll heißen,
Sie haben diesen Menschen eine weitere demokratische Mitwirkungsmöglichkeit genommen. Das war auch gewollt – ich habe es eben schon gesagt – anhand der damaligen statistischen Erhebungen für die Wahlen 2004 und 1999. Ich glaube, damit haben wir Thema deutlich abgearbeitet.
Beim zweiten Thema geht es um die Entflechtung der Wahlen. Man kann es ganz deutlich sehen und sich sehr einfach machen. Wir brauchen uns nur das Gehampel um die Zusammenlegung der Wahlen anzusehen. Da wurde ganz deutlich: Sie wollen keine Zusammenlegung der Wahlen, weil Sie keine hohe Wahlbeteiligung wollen, weil Sie wissen, dass bei einer hohen Wahlbeteiligung nicht die FDP und auch in der Regel nicht die CDU, sondern eher die SPD profitiert. Bei uns Grünen ist es ziemlich gleich. Wir sind davon so oder so relativ wenig betroffen.
Das war Ihr Motiv, warum Sie das durchgesetzt haben. Sie wollten das zuerst mit der Europawahl koppeln; die war in der Wahlbeteiligung auch niedrig genug. Das hat Ihnen das Verfassungsgericht aus – wie ich finde – nachvollziehbaren Gründen nicht erlaubt. Das Verfassungsgericht hat Ihnen dann allerdings den Trick erlaubt, vier Wochen vor der Bundestagswahl zu wählen. Ich glaube, das war ein durchsichtiger Trick. Juristisch war er erlaubt, aber er war ganz offensichtlich von dem Ziel geprägt, das Sie hatten, nämlich niedrige Wahlbeteiligung. Diese niedrige Wahlbeteiligung wollen Sie auch durch die Entflechtung und Entkopplung der Wahlen haben. Das ist ganz offensichtlich.
Ich sage Ihnen voraus: Sie werden bei der nächsten Kommunalwahl so, wie Sie es anstellen, unter 50 % landen. Deswegen, Herr Lux, ist es wirklich etwas scheinheilig, wenn Sie hier sagen, wir sollten alle überlegen, wie wir die Wahlbeteiligung steigern.
Das haben wir getan. Wir haben Ihnen Vorschläge gemacht: Koppeln Sie die Wahl mit der Bundestagswahl; da wäre der Termin eigentlich gewesen. Die Kommunalwahl wäre genau zur gleichen Zeit fällig gewesen. Sie haben die Wahl vier Wochen vorgezogen.
Der zweite Tipp: Entflechten Sie die Wahlen nicht, führen Sie sie wieder zusammen! Auch das machen Sie nicht. Also, dann auch keine Krokodilstränen wegen der Wahlbeteiligung!
Kommen wir zur Sperrklausel! Damit kann man sich nicht à la „Villa Kunterbunt“ – wenn man das Wort überhaupt gebrauchen kann – auseinandersetzen: Ist es verfassungsgemäß oder ist es nicht verfassungsgemäß? Ich glaube, das ist nicht das Thema.
Ich will es mir auch etwas komplizierter machen. Zunächst einmal ist festzustellen: Ja, es ist richtig; es sind sogar übertrieben hohe Ansprüche, wie ich finde. Aber es gibt hohe Ansprüche an die Frage
der Einführung einer Sperrklausel, und zwar vom Verfassungsgericht insbesondere die, die sich mit der Frage der Funktionsstörung der kommunalen Parlamente beschäftigt.
Zunächst einmal muss man zur Kenntnis nehmen, dass die Ansprüche hoch sind und man sie nur nach den Maßgaben des Gerichts überprüfen kann, wenn man es empirisch untersucht. Eine empirische Untersuchung macht man nicht in vier Wochen. Insofern geben ich denen Recht, die dann sagen, dass man das nicht heute entscheiden könne.
Wir haben deswegen einen Entschließungsantrag eingebracht, weil wir erneut – wie wir es schon mit der SPD vor der Kommunalwahl gefordert hatten – sagen: Der Innenminister ist aufgefordert, jetzt wirklich über einen längeren Zeitraum – das geht ja auch vor der nächsten Kommunalwahl; das ist fünf Jahre hin – ordentlich zu untersuchen, ob es eine Funktionsstörung gibt.
Auf einen zweiten Punkt will ich deutlich hinweisen, der mir in der Debatte immer zu kurz kommt. Es gibt nämlich den Punkt der ungleichen Erfolgswerte der abgegebenen Stimmen.
Aus dem Punkt heraus sind früher Sperrklauseln gescheitert, weil es tatsächlich einen ungleichen Erfolgswert zulasten der kleinen Parteien gab. In NRW haben wir die Besonderheit der extrem vielen großen Kommunen, weshalb es überhaupt keine Vergleichbarkeit mit anderen Bundesländern gibt. Sie wissen, es gibt nicht ansatzweise so viele große Kommunen in allen anderen Bundesländern.
Jetzt haben wir jedoch durch die völlige Schrankenlosigkeit die besondere Situation, dass hier mit extrem niedrigem Stimmenanteil Sitze zu erreichen sind und damit der Erfolgswert der Stimmen umgekehrt ungleich ist, also für die Kleinstgruppen viel günstiger ist, als zum Beispiel für die, die hinterher Fraktionen oder auch Gruppen wie die Linke bilden. Selbst für die trifft das zu; die müssen ungleich mehr Stimmen aufwenden.