Aber wir müssen endlich den Versuch unternehmen, uns mit Maßnahmen, von denen wir glauben, dass sie mehr Erfolge und mehr Perspektive als konzeptionsloses Zuwarten bieten, um Zielgruppen zu kümmern. Wir müssen deshalb auch neue Wege gehen.
Unser Ansatz als Koalition ist es deshalb, dass wir niemanden zurücklassen wollen. Wir wollen jedem in dieser Gesellschaft eine Perspektive bieten und vor allem auch den jungen Menschen, die am Beginn vieler weiterer Entwicklungsprozesse stehen. Das ist auch unser Ansatz in der Sozial- und in der Arbeitsmarktpolitik. Unser Sozialstaatsverständnis ist es nämlich nicht, dass man Leute möglichst lange in institutionellem Leistungsbezug hält, sondern Hilfe zur Selbsthilfe anbietet, Unterstützung gibt und Perspektiven bietet. Man erwartet dann natürlich auch, dass Leute für sich selber einen Beitrag leisten und Verantwortung übernehmen, um für sich eine Perspektive zu erschließen.
Ein Blick auf die rot-grünen Hinterlassenschaften hilft schon weiter, um zu erklären, wo wir heute stehen. Wir haben seit Beginn des Ausbildungskonsenses NRW die schlechteste Versorgungslage auf dem Lehrstellenmarkt - von Ihnen so hinterlassen. Wir haben die größte Anzahl arbeitsloser Jugendlicher: 1 Million insgesamt, 100.000 im Bereich U25. Das haben Sie uns so hinterlassen. Da hatten Sie einmal andere Ziele. Es ist von RotGrün viel über Zielsetzungen und Versprechungen in der Vergangenheit gesprochen worden. Ich darf Sie erinnern, dass Harald Schartau zu Beginn der letzten Legislaturperiode hier angekündigt hat, er wolle die Jugendarbeitslosigkeit abschaffen. Das war das Versprechen, was er bis 2005 erreicht haben wollte. Heute haben wir über 100.000 Jugendliche unter 25, die perspektivlos auf der Straße stehen. Das Ganze ist kombiniert
mit den Bildungsproblemen in diesem Land zu sehen, Stichwort: Pisa-Risikogruppe. Ich weiß nicht, ob jedem bewusst ist, welchen Sprengstoff das zukünftig birgt, wenn 25 % bis 30 % der Jugendlichen, bezogen auf die Kernkompetenzen Lesen in der Sprache Deutsch und mathematische und naturwissenschaftliche Grundlagen so große Defizite haben, dass sie entweder in Fragen ihrer persönlichen Lebensführung oder auch für den späteren beruflichen Bezug starke Einschränkungen und Defizite mit sich bringen. Das Ganze ist dann auch noch mit dem in NordrheinWestfalen - wie nirgendwo sonst in Deutschland - so stark ausgeprägten Zusammenhang von Bildungschancen und sozialer Herkunft verbunden. Das ist die Lage, wo wir heute stehen.
Wenn die neue Koalition neue Wege geht und sich Gedanken macht, wie sie der Zielgruppe, über die wir reden, neue Perspektiven bieten kann, und neue Ansätze wählt, auch wenn wir vielleicht nachher nicht auf 100 % Erfolgsquote kommen, um mehr Jugendliche in eine regelmäßige Lebensführung und in eine berufliche Perspektive zurückzuholen, dann sollten wir, meine ich, diesen Versuch alle gemeinsam unternehmen.
Wie sehen ansonsten die Karrieren der Problemgruppen aus, über die wir hier sprechen? Kollege Stefan Romberg hat darauf hingewiesen, welche Konsequenzen das auch außerhalb des direkten Arbeitsmarktbezuges für die persönliche Lebensführung und für Gesundheitfragen hat. Ich kann den Ball auch aufnehmen, dass diejenigen, die sonst Jahre perspektivlos auf der Straße sitzen, anfälliger für Kriminalität und andere Karrieren sind.
Wir müssen deshalb dringend die Schulmüden abholen. Wir müssen den jungen Menschen Erfolgserlebnissen vermitteln, die in den letzten Jahren bislang in den klassischen Ausbildungsgängen zu wenig gehabt haben. Deshalb sagen wir als neue Koalition: Praxis statt Warteschleifen ist der richtige Ansatz.
Meine Damen und Herren, ich möchte ausdrücklich hinzufügen: Es ist nicht das einzige Instrument, das wir uns zur Modernisierung der Ausbildung vorstellen. Wir haben Ihnen bereits in der letzten Legislaturperiode einen umfangreichen Antrag vorgelegt. Weitere Punkte, wie Sie wissen, haben wir in der Koalitionsvereinbarung fixiert, die wir umsetzen wollen.
Wir müssen perspektivisch natürlich auch an anderen Stellen neu über theoriegeminderte Kurzausbildungsgänge und über eine stärkere
Modularisierung der Berufsausbildung nachdenken, damit wir auch Leistungseingeschränkten zumindest Teilqualifikationen zertifizieren können und sie im Rahmen eines lebenslangen Lernens, einer Strategie fortlaufenden Lernens auch in späteren Lebensphasen Inhalte nachholen können. All das sind Themen, über die müssen wir im Gesamtpaket noch einmal beraten. Das hier ist aber ein sehr wichtiger und richtiger Einstieg.
Herr Bischoff, gestatten Sie mir angesichts Ihrer Skepsis, die Sie zwischendurch geäußert haben, noch einen klaren Hinweis. Sie haben Ihre Bedenken geäußert, ob das in der Praxis auch wirklich angenommen wird und ob das die richtige Maßnahme für die Zielgruppe und dieser Jugendlichen ist. Ich bin der festen Überzeugung und sage Ihnen ganz offen: Genauso wie der Staat in der Verantwortung steht, für Problemgruppen neu nachzudenken und neue Angebote zu machen, genauso sehe ich die Jugendlichen in der Verantwortung, dass sie, wenn sie diese Perspektive, diesen Mix aus unterschiedlichen Komponenten in der Praxis geboten bekommen, dann auch gewissenhaft die Angebote annehmen, sich einbringen, sie als neue Chance für sich erkennen, an den Maßnahmen regelmäßig teilnehmen und auch selber aktiv den Erfolg wollen.
Ich glaube, dass der Staat diesen Anspruch den Jugendlichen gegenüber auch artikulieren kann und sollte. - Herzlichen Dank.
Vielen Dank. - Um das Wort hat jetzt der Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales, Herr Minister Laumann, gebeten. Bitte schön.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nachdem die Opposition auch ihre Meinung zu dem Werkstattjahr gesagt hat, möchte ich gerne die eine oder andere Anmerkung machen:
Der erste Punkt ist, dass man ganz ruhig feststellen muss, dass die alte Landesregierung fast die gesamte Arbeitsmarktpolitik eingestellt hat, als die Hartz-Gesetzgebung kam mit der Begründung: Dafür seien jetzt die ArGen und die Optionskommunen zuständig.
Man war immer weniger in der Lage, die Kofinanzierung für die Europamittel, die immer schon eingesetzt wurden, aus dem Landeshaushalt zur Verfügung zu stellen. Das ist doch die Wahrheit.
Und dass ich in der Lage bin, dieses Werkstattjahr hier anzubieten, liegt einzig und allein daran, dass wir die Idee hatten, hinsichtlich der Kofinanzierung durch die Europäische Union vorzuschlagen, dass die Kofinanzierung in den zwei Berufsschultagen liegt, die wir heute schon finanzieren. Das war die Grundidee für das Werkstattjahr.
Frau Steffens, ich kann mir auch viele andere Maßnahmen vorstellen. Aber das Problem hat nun einmal mit dem Landeshaushalt zu tun - das war bei Ihnen so, das ist bei uns so -: In diesem Land ist nun einmal 40 Jahre lang mehr Geld ausgegeben worden als eingenommen wurde. Deswegen können wir immer weniger gestalten. Das ist die Wahrheit.
Ich kann mir noch so viele Programme ausmalen: Ich brauche aber eine Idee zur Kofinanzierung. Sie müssen mir schon Recht geben, dass diese Grundidee eine klasse Idee ist. Darauf lege ich schon einmal Wert.
Ein zweiter Punkt ist mir auch sehr wichtig. Wir sollten uns hier im Hohen Haus darüber im Klaren sein, worüber wir reden, über welche Menschen wir reden. Als ich vor über 30 Jahren in der Berufsschule war - ich bin noch einer der seltsamen Menschen, die eher einen Gesellenbrief hatten als einen Führerschein, was nicht daran lag, dass ich zu doof war, einen Führerschein zu machen -, da gab es diese Klassen auch schon. Sie hießen damals Jungarbeiterklassen. Die Schüler gingen ein oder zwei Tage zur Berufsschule, sie hatten aber einen Arbeitsplatz, weil sie - wie wir damals im Volksmund sagten - eine Stelle als Hilfsarbeiter - später nannte man es angelernte Kräfte - in der Industrie gefunden hatten. Es waren junge Leute, die kamen mit 14, 15 Jahren aus der Schule. Sie hatten einen Arbeitsplatz und machten keine Lehre. Damals gab es diese Arbeitsplätze noch.
Deshalb hatte man gesagt: Es muss eine Schulpflicht bis zum 18. Lebensjahr geben. Sie sollen auch weiterhin zwei Tage - oder damals einen Tag - in der Woche zur Berufsschule gehen. Diese Klassen gibt es - sie nannten sich immer mal wieder anders; man fand immer modernere Ausdrücke, die sich etwas besser anhörten - auch heute noch, aber im Grundsatz handelt es sich um das gleiche Klientel.
Aufgrund der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen der letzten 30 Jahre ist Folgendes passiert: Die Arbeitsplätze für junge Leu
te, die keine Lehre machen wollen, keine Lehre machen können, gibt es nicht mehr. Aber dieser Berufsschulanteil ist geblieben. Dann fehlte eben die berufliche Betätigung.
Ja. - Dann hat sich jahrelang niemand um diese Frage gekümmert. Als ich Ende Juni ins Amt kam und mir in den ersten Tagen vorstellen ließ, was wir denn in der Arbeitsmarktpolitik und was wir denn im Ausbildungskonsens machen, sagte mir die Fachabteilung: Herr Laumann, da ist noch ein Problem. Es gibt in diesem Land 17.000 oder 20.000 Leute, um die sich seit Jahren niemand, ja niemand gekümmert hat. - Das ist die Wahrheit.
Dann habe ich gesagt: Dann lasst uns doch einmal schauen, wie wir etwas hinkriegen. Wie sieht es denn mit der Kofinanzierung aus? Und denkt daran, dass wir ja die Berufsschule haben. - So ist das entstanden.
Jetzt hätte ich sagen können: Lasst uns das alles in Ruhe vorbereiten. Wir werden es mit allen Leuten in den Regionen in Ruhe besprechen und hin und her wälzen. Dann führen wir es zum 1. August nächsten Jahres ein. - Das hätte ich machen können. Ich habe aber gesagt: Nein, jetzt gebt einfach einmal Gas.
Nun will ich Ihnen etwas Weiteres vortragen, was man zur Beurteilung dieser Sache ebenfalls wissen muss. Wir haben in der Landesregierung vor, dieses Werkstattjahr nicht ein Programm sein zu lassen, das wir jetzt mal durchführen. Vielmehr sind die Schulministerin, Frau Sommer, und ich uns sehr einig darin, dass dieses Werkstattjahr ein kontinuierliches Angebot sein soll, das wir Jahr für Jahr wiederholen.
Es soll sich auch einbürgern, dass es neben dem einen Tag oder den zwei Tagen Berufsschule auch die Werkstatt gibt.
Das Angebot - das sage ich Ihnen auch - muss aber freiwillig bleiben, weil Sie es sonst nicht über ESF-Mittel finanzieren können. Überall dort, wo es in diesem Land in der Gestaltung der Leistungsgesetze einen Rechtsanspruch gibt, können Sie nämlich keine ESF-Mittel einsetzen. Das ist der Punkt. Das müssen Sie in Bezug auf die Systematik, wie sie nun einmal ist, einfach wissen.
Es ist auch neu, dass wir als Land NordrheinWestfalen allen unter 18 Jahren, die keine Lehrstelle und keinen Arbeitsplatz haben - egal, ob es 17.000 oder 23.000 sind -, ein Angebot machen, neben Schule auch ihre praktischen Fähigkeiten zu entwickeln. Jedem machen wir dieses Angebot. Das hat es hier noch nie gegeben.
Das sollte man auch einmal so zur Kenntnis nehmen. Ich kann mir schon vorstellen, was bei Ihnen vorgeht. Sie sind einfach ein bisschen sauer über sich selber, dass Sie diese Idee nicht gehabt haben. Das ist der ganze Punkt.
Frau Steffens, zu Recht haben Sie einen Punkt angesprochen, über den ich mir auch Gedanken mache. Ich bin auch persönlich sehr gespannt darauf, wie viele Jugendliche wir in diesen Klassen haben werden. In ein paar Wochen werden wir das ja wissen. Die Jugendlichen werden zurzeit ja wie in jedem Jahr gezählt. Dann werden wir sehen, wie viele das machen. Darauf bin ich selber gespannt. Wenn es dann weniger als 10.000 sein sollten, werfen Sie mir das bitte nicht vor. Es ist für unsere Gesellschaft aber ja einmal eine Erkenntnis, wenn man weiß, wie denn die Motivation ist, ein solches sinnvolles Angebot, das man den Leuten macht, anzunehmen. Darauf bin ich selber ein Stück weit neugierig.
Ich sage Ihnen auch ganz offen Folgendes: Meine Fachabteilung hat sich auch in Berufskollegs in die Klassen gesetzt, um ein bisschen ein Gespür zu bekommen, was das denn für Jugendliche sind, über die wir reden. Es gibt ein Zitat von einem sehr erfahrenen Lehrer in diesem Bereich, der gesagt hat: Seid nicht so sauer, wenn nicht alle kommen; denn in den Klassen gibt es auch das Problem, dass viele Gutwillige deswegen nicht gut lernen können, weil es einige gibt, die den Unterricht fast unmöglich machen.
lich zufrieden. So muss man es auch angehen, glaube ich. Es ist klar, dass wir uns dann ansehen müssen, wie das läuft, wo wir es noch ergänzen und wo wir den Berufsschulunterricht im Werkstattjahr inhaltlich unter Umständen ein bisschen verändern müssen. Das wird auch ein Prozess sein, den man schlicht und ergreifend entwickeln muss.
Noch eine Antwort auf die Frage: Woher kriegt ihr die Praktikumsplätze? - Wir haben ja ganz bewusst gesagt, dass wir dieses Werkstattjahr mit wirtschaftsnahen Trägern machen wollen. Dort werden vor allen Dingen die HBZ des Handwerkes und auch anderer Kammern eine Rolle spielen. Und Folgendes ist eine ganz klare Sache: Wir werden die Entscheidung, ob die Träger dies im nächsten und übernächsten Jahr wieder machen dürfen, entscheidend davon abhängig machen, wer die Praktikumsplätze gebracht hat. Das wissen die Träger auch. Die Träger können nicht einfach sagen: Wir machen jetzt die Werkstatt und kümmern uns nicht um die Praktikumsplätze. - Es ist die Aufgabe der Träger, die wir mit diesem Programm auch dafür bezahlen, sich auch um die Praktikumsplätze zu kümmern. Ich habe meiner Fachabteilung gesagt: Diejenigen Träger, die die Praktikumsplätze nicht hinkriegen, werden eben irgendwann aus diesem Programm ausscheiden müssen, und wir nehmen Träger, die es besser hinkriegen. - Es wird eine entscheidende Voraussetzung sein, dass die Dinge auch einigermaßen funktionieren.
Wir haben das Ganze sehr flexibel ausgestaltet. Wir sagen nicht stur: Wir wollen einen Tag Werkstatt, also Praktikum, sondern es können auch Blöcke sein, die etwa in den Ferien liegen, um das vernünftig hinzukriegen.
Deswegen möchte ich Sie alle - auch die Abgeordneten der Oppositionsfraktionen, unabhängig von dem, was sie hier im Parlament dazu sagen - wirklich bitten, dass Sie in Ihren Wahlkreisen, in den Kreisberufsschulen Werbung für dieses Ausbildungsjahr machen, damit es bei den jungen Leuten bekannt wird, dass es dieses Angebot gibt.