Protocol of the Session on October 23, 2008

Antrag der Fraktion der SPD Drucksache 14/7664

Ich eröffne die Beratung und erteile für die antragstellende Fraktion Bündnis 90/Die Grünen dem Herrn Abgeordneten Becker das Wort. Bitte schön.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Preise für Mobilität sind in den letzten Jahren extrem gestiegen. Sie sind, das sagt das Statistische Bundesamt jetzt just für den Monat September, in den letzten acht Jahren im ÖPNV mehr gestiegen als in der automobilen Welt.

Das wird von manchen gerne übersehen. Es wird gerne übersehen, dass die Preise in den letzten acht Jahren im Durchschnitt aller Tickets um mehr als 35 % erhöht wurden. Bei den verschiedenen Tickets stellt sich das im Einzelfall noch einmal unterschiedlich dar. So sind zum Beispiel die Preise für Jobtickets, aber auch für die Einzeltickets, um die es heute unter anderem in diesem Zusammenhang geht, teilweise noch stärker gestiegen.

Meine Damen und Herren, im VRR sind – bezogen auf die letzten drei Jahre – die Preise im Durchschnitt aller Tickets um knapp 13 % und im VRS sogar um über 15 % gestiegen.

Die Menschen, die sich diese Preise nicht mehr leisten können, werden immer mehr. In NRW erhalten nach dem Armutsbericht der Landesregierung inzwischen fast 2 Millionen Menschen Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch.

Der Anspruch aber genau an diese Menschen, mobil zu sein, ist eher gewachsen. Das gilt für die Suche nach dem Arbeitsplatz. Das gilt ebenso bei

einem sich verändernden Lebensmittelhandel beim Einkauf, bei einem sich verändernden Einzelhandel für die Randbereiche der großen Städte. Mobilität ist eine Grundbedingung für die Teilhabe an unserer Gesellschaft.

Wenn man diese Fakten zur Kenntnis nimmt, kommt man an die Schnittstelle von Daseinsvorsorge, Umweltpolitik und ÖPNV-Politik zwangsläufig zu der Frage: Wie bekommen wir diese Menschen, wie bekommen wir die Frauen und Männer und teilweise auch die Familien bei diesen gestiegenen Preisen wieder zurück in den ÖPNV?

Wer sich anschaut, was dazu in den letzten Jahren an Antworten gegeben worden ist – es gibt einige Antworten –, der kann Folgendes finden: In Köln hat man das Köln-Ticket eingeführt, in Dortmund das Sozialticket. In Unna übrigens wird mit einer Mehrheit aus CDU, Grünen und FDP – nicht mit Mehrheiten aus SPD und Grünen wie in den beiden anderen Städten – das Ticket für Unna ins Leben gerufen – erstmalig in Nordrhein-Westfalen für einen Landkreis.

Man nimmt sich also in unterschiedlichen Farbkombinationen in unterschiedlichen Gebietskörperschaften der eben von mir erörterten Fragestellung an. Ich finde, auch wir sollten uns diesem Themenkomplex zuwenden und Antworten geben. Wir sollten auch deswegen Antworten geben, weil die Kommunen, die diese Antworten geben wollen, und weil die Verkehrsverbünde, die diese Antworten geben sollten, sich aber noch teilweise dagegen wehren, unsere Hilfe brauchen.

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

Nun will ich an dieser Stelle mit der Mär aufräumen, dass es gigantische Mehrkosten für die Verkehrsverbünde geben würde. Wer sich die Nutzer- und Nutzerinnengruppen anschaut, der sieht, dass diese Nutzer- und Nutzerinnengruppen in der Regel eben nicht in den Hauptverkehrszeiten, insbesondere am Morgen in diesem Stoßverkehr, zu den Schulzeiten und zu den Arbeitszeiten fahren, sondern dass sie in der Regel dann fahren, wenn die Busse und Bahnen nicht voll ausgelastet sind. Wer das zur Kenntnis nimmt, der muss zur Kenntnis nehmen, dass wir uns bei dem Satz, den wir diesen Menschen abverlangen sollten, an dem orientieren sollten, was die Hartz-IV-Gesetzgebung für ihre Mobilität vorsieht, nämlich knappe 15 € im Monat.

Auch wenn wir in unserem Antrag keine Vorgabe für die Bepreisung gemacht haben – denn das wollen wir schon den Kommunen überlassen, und in Köln ist das anders als in Dortmund und in Unna –, wollen wir, dass wir in gleicher Höhe bezuschussen, wie wir das an anderen Stellen tun, zum Beispiel beim Semesterticket.

(Beifall von den GRÜNEN – Zuruf von Bodo Wißen [SPD])

Wenn man das will, meine Damen und Herren, dann muss man auch die entsprechenden Haushaltsmittel in die Hand nehmen. Nach unseren Berechnungen aus den Erfahrungen in Dortmund und an anderen Stellen kommen wir tatsächlich zu einem Betrag von 30 Millionen € im Jahr. Darüber werden wir uns im Ausschuss unterhalten und streiten können.

Das ist übrigens bei ansonsten großer Nähe und großer Einigkeit ein Punkt, den wir im Zusammenhang mit unseren Anträgen unter uns ausdiskutieren müssen. Denn wenn die SPD das tatsächlich auf 40 % deckeln wollte, lägen Sie oberhalb der heutigen Sätze in Köln und Dortmund. Das wollen wir nicht. Ich meine, darüber müssten Sie zusammen mit uns und anderen noch einmal nachdenken.

Meine Bitte an CDU und FDP ist also: Lehnen Sie unseren Antrag nicht ab, sondern kommen Sie zusammen mit uns in den Beratungen des Ausschusses zu einem guten Ergebnis für die Menschen, die das brauchen, und für eine vernünftige, auch zugunsten der Umwelt ordentlich organisierte Mobilität. – Schönen Dank.

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

Vielen Dank, Herr Kollege Becker. – Für die SPD-Fraktion erhält Herr Abgeordneter Wißen das Wort.

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dr. Jürgen Rüttgers gibt ja gerne den HerzJesu-Ministerpräsidenten und legt sich so ein Möchtegern-Mutter-Theresa-Image zu. Aber dass Theorie und Praxis weit auseinandergehen, das merken die Menschen bei der Schließung der Arbeitslosenzentren, bei der Streichung der Obdachlosenhilfe und nicht zuletzt – wir haben heute Morgen darüber gesprochen – bei der Diskussion um die Sparkassenprivatisierung.

Aber nicht nur als Verkehrspolitiker sage ich Ihnen, dass die Menschen hier im Lande längst wissen: Rüttgers blinkt links und fährt nach rechts.

Ein wichtiges Grundbedürfnis des menschlichen Lebens hat die Imageagentur von Herrn Rüttgers allerdings völlig aus dem Blick verloren. Das ist das Bedürfnis der Menschen nach Mobilität.

Sehr geehrte Damen und Herren, die Bundesländer erhalten seit dem Jahr 2007 einen größeren Anteil an der Mehrwertsteuer. Für Nordrhein-Westfalen bedeutet allein dies eine Mehreinnahme von 1,35 Milliarden €. Darüber hinaus gibt es ja beachtliche Konjunkturgewinne, jedenfalls noch.

Laut niedersächsischem Wirtschaftsministerium – nicht besonders SPD-nah, nehme ich an – gleichen aus ihrem Landeshaushalt heraus folgende Länder die Kürzungen ganz oder teilweise aus: Berlin,

Brandenburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein. Diese Bundesländer gewährleisten, dass Busse und Bahnen, obwohl die Mittel des Bundes gekürzt wurden, wie gewohnt weiterfahren können, indem sie eben eigene Mittel zur Verfügung stellen.

Aber was macht die Landesregierung in NordrheinWestfalen? – Nichts, nothing, niente, nada.

In der Folge waren hierzulande die Verkehrsverbünde gezwungen, die Ticketpreise mehrfach anzuheben. Vom VRR wissen wir, dass er das gleich zweimal tun musste. Im größten Verkehrsverbund, eben dem VRR, mussten dann Ticketpreiserhöhungen bis zu 18 % hingenommen werden. Beim VRS waren es etwa 15 %.

Das ist eine unsoziale Politik, die von diesen Regierungsbänken,

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

die allerdings im Moment ziemlich leer sind – es ist schon bezeichnend, dass sie bei solchen Debatten immer so leer sind –, ausgeht. Die Täter sind hier auf den Regierungsbänken zu finden. Die Preiserhöhungen sind also eine direkte Folge der ÖPNVfeindlichen Politik dieser schwarz-geführten Landesregierung.

Sehr geehrte Damen und Herren, unser Antrag zielt darauf ab, den Menschen wieder ein Grundmaß an Mobilität zu garantieren, die am stärksten unter dieser Politik leiden.

Sozialdemokraten wissen: Mobilität ist eine Grundvoraussetzung für die Teilhabe der Menschen am gesellschaftlichen, kulturellen und sozialen Leben. Nicht zuletzt ist sie eine Grundbedingung für die Teilnahme am Arbeitsmarkt. Mobilität ist für alle Menschen wichtig. Sie ist ein Grundrecht. Ein Mindestmaß an Mobilität ist für den gesellschaftlichen Zusammenhalt enorm wichtig.

Deswegen darf eben Mobilitätspolitik auch keine Klientelpolitik sein. Die Politiker vor Ort in den Kommunen wissen das. Sie wissen, was es bedeutet, wenn die Menschen nicht mehr in der Lage sind, ihr Stadtviertel zu verlassen oder vom Dorf in die nächste Stadt zu kommen. Ich bin Kreistagsabgeordneter des Kreistages Kleve und weiß sehr genau, wie wichtig Mobilität auch auf dem Lande ist.

Sie wissen: Wer nicht mobil sein kann, wird dadurch ausgegrenzt. Dem müssen wir hier entgegenwirken.

Denn Tatsache ist, dass Mobilität heute nicht mehr von jedem Menschen bezahlt werden kann. Wir haben gerade gehört – das ist auch nach meinen Recherchen so –, dass zwei Millionen Menschen in Nordrhein-Westfalen auf staatliche Transferleistungen angewiesen sind. Denen stehen 15 € pro Monat für die Mobilität zur Verfügung. Ein Vierfahrtenticket der Preisstufe A im VRR, also im größten Ver

kehrsverbund, kostet aber schon 7,70 €. Es ist, glaube ich, allen klar, wie oft damit ein ALG-IIEmpfänger fahren kann.

Zahlreiche Kommunen bundesweit und auch in NRW – darunter Köln, Dortmund und, so wie ich gehört habe, Bielefeld – wollen auch diesen Menschen ein Grundmaß an Mobilität garantieren. Sie haben Sozialtickets eingeführt oder prüfen die Einführung von Sozialtickets.

Jede Kommune muss das für sich alleine regeln. Jede Kommune muss schauen, wie sie dieses System ausgestaltet und wie sie es finanziert.

Aber das Land kann einen Rahmen setzen. Wir wissen natürlich, dass die Kommunen es unter dieser schwarz geführten Landesregierung enorm schwer haben, denn diese verfolgt eine außerordentlich kommunalfeindliche Politik.

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Umso mehr dankt die SPD- danken sicherlich auch die Grünen – den Kommunen, die sich trotzdem für die Einführung eines Sozialtickets stark gemacht haben, denn diese beweisen mit ihrem Engagement, dass sie der kommunalfeindlichen und mobilitätsfeindlichen Haltung der Landesregierung etwas entgegensetzen wollen.

(Beifall von der SPD)

Der praktische Einsatz für die Mobilität der Menschen, die auf Unterstützung angewiesen sind, wird die Nagelprobe für Ministerpräsident Rüttgers sein, der sich so gern als das soziale Gewissen der CDU darstellt. Die Kommunen – wir haben es gehört – tun das ihnen Mögliche, um den Menschen zu helfen. Die Landesregierung tut nichts. Sie lässt die Kommunen und sie lässt die Menschen alleine.

Wir haben mit unserem Antrag bewusst einen Vorschlag unterbreitet, der sehr pragmatisch ist und sich an der Förderung orientiert, die das Land anderen Zielgruppen – beispielsweise Schülern und Studenten – zukommen lässt. Im Fall von Schülern und Studenten beteiligt sich das Land bekanntermaßen mit 4 € an den Ticketkosten. Das ist auch gut so und wird von uns gar nicht infrage gestellt. Es ist aber nicht nachzuvollziehen, warum das Land bei der Gruppe der Menschen, die auf Transferleistungen angewiesen sind, völlig anders verfährt.

Die SPD und die Gewerkschaften sind der Ansicht, dass wir ein Sozialticket brauchen, dass wir einen entsprechenden Rahmen setzen müssen und dass das Land in der Pflicht ist.

Wir, die SPD, wissen, dass Sozialschauspieler Rüttgers nur dann sozial ist, wenn es ihn nichts kostet; das haben wir bei ganz vielen Beispielen erlebt. Er ist immer dann großzügig bei der Verkündung sozialer Leistungen, wenn er selbst nichts zu ihrer Finanzierung beitragen muss; das haben wir schon häufig erlebt.

(Beifall von der SPD)

Wir, die SPD, sind gespannt, wie sich die schwarzgelbe Koalition verhalten und welche Ausreden sie parat haben wird. Ich kann mir schon ungefähr vorstellen, welche Ausreden kommen werden, und will der Koalition deshalb einmal etwas vorgreifen.

Wahrscheinlich wird sich die Landesregierung darüber beschweren, dass die Hartz-IV-Regelsätze zu niedrig sind, und anmerken, dass man mit den Verkehrsbetrieben besser verhandeln könnte. Außerdem wird sie sich vermutlich beschweren mit dem Argument, dass das kein landespolitisches, sondern ein kommunalpolitisches Thema sei.

Aus den Augen, aus dem Sinn – das ist die typische Haltung der Landesregierung. Erst macht sie ein ÖPNV-Gesetz, dann kümmert sie sich um nichts mehr. Die Ticketpreise steigen um 18 %, während auf der Regierungsbank nur mit dem Blackberry herumgespielt wird.