Tagesordnungspunkt 6: Erste Beratung: Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Rechte parlamentarischer Minderheiten in Niedersachsen - Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion der FDP - Drs. 18/646
Zu diesen Tagesordnungspunkten begrüße ich den Herrn Präsidenten des Staatsgerichtshofs, Herrn Dr. Herwig van Nieuwland, sehr herzlich, der hier in der Loge Platz genommen hat. Herzlich willkommen, Herr Dr. van Nieuwland!
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir beraten heute über einen Gesetzentwurf der AfD-Fraktion, der nur eine einzige Änderung in der Niedersächsischen Verfassung vorschlägt: einen Zusatz, lediglich aus fünf Worten bestehend, jedoch mit großer politischer Bedeutung.
Wir alle wissen, dass Artikel 54 Nr. 3 der Niedersächsischen Verfassung regelt, dass der Niedersächsische Staatsgerichtshof zuständig ist „bei Meinungsverschiedenheiten oder Zweifeln über die förmliche oder sachliche Vereinbarkeit von Landesrecht mit dieser Verfassung“. Lassen Sie mich das auf Deutsch übersetzen: Wenn wir vermuten, dass ein Gesetz rechtswidrig ist, dann können wir den Staatsgerichtshof bitten, diese Frage zu überprüfen und zu entscheiden.
Diese Bitte können aber bisher nur die Landesregierung oder ein Fünftel der Mitglieder des Landtags äußern. Diese Fassung stammt im Übrigen aus dem Jahre 1993; sie ist 25 Jahre alt. Vor 25 Jahren konnte niemand ahnen, dass wir im Jahre 2018 mit fünf Fraktionen im Landtag sitzen. 1993 konnte niemand vorhersehen, dass diese Regelung eines Tages dazu führt, dass der Parlamentarismus an einer wichtigen Stelle auf einmal nicht mehr so funktioniert, wie von den Vätern und Müttern der Verfassung ursprünglich gedacht.
Doch dieser Tag ist heute da. Denn die Klage vor dem Staatsgerichtshof, meine Damen und Herren, ist kein Mittel der Regierungsfraktionen; es ist ein klassisches Oppositionsmittel. Solange noch eine der großen Fraktionen in der Opposition war, war diese 25 Jahre alte Regelung völlig unproblematisch. Jetzt aber ist die Erfüllung der Voraussetzung für eine Klage vor dem Staatsgerichtshof, wonach ein Fünftel der Mitglieder des Landtages einen entsprechenden Antrag stellen muss, schlicht unrealistisch. Man bekäme ein Fünftel zusammen, ja, aber nur dann, wenn sich AfD, Grüne und FDP jeweils einig wären. An der AfD würde das natürlich nicht scheitern,
Nur: Wenn man eine Stärkung der Oppositionsrechte will - Herr Ministerpräsident Weil und auch Herr Minister Althusmann haben im Zusammenhang mit der Großen Koalition ja immer wieder davon gesprochen -, dann reicht es nicht aus, den Oppositionsfraktionen mehr Geld zu bewilligen - im Laufe des heutigen Tages werden wir das noch hören -, sondern dann müssen tatsächlich deren Rechte gestärkt werden.
Um das zu erreichen, meine Damen und Herren, gibt es zwei Mittel: Entweder, Herr Ministerpräsident, wir erweitern die parlamentarischen Mittel der Opposition, oder wir senken die Zulässigkeitsvoraussetzungen für solche Mittel ab.
In diesem Fall geht es um Letzteres. Es geht darum, dass es für jede Fraktion zulässig sein soll, den Staatsgerichtshof für eine Prüfung der Rechtmäßigkeit von Gesetzen anzurufen. Es geht also darum, das zu ermöglichen, was jedem Bürger bei einem Entscheid des Staates zusteht, nämlich diesen Entscheid von einem Richter überprüfen zu lassen. Das, meine Damen und Herren, ist nicht irgendetwas, das ist nicht beliebig. Nein, dieses Recht ist eine der Grundlagen unseres Rechtsstaates.
Und was für den Bürger gilt, das muss umso mehr für seine gewählten Vertreter und deren Zusammenschlüsse gelten. Es kann nicht sein, dass der Bürger jeden Bescheid von einem Richter überprüfen lassen kann, eine Fraktion aus frei gewählten Abgeordneten der Opposition aber nicht einmal ein ganzes Gesetz. Der Rechtsstaat lebt davon, dass Unrecht aus der Welt geschafft wird, dass Willkür in unserem Staatswesen keinen Platz hat und dass selbstverständlich die Arbeit unseres Gesetzgebers vor Gerichten überprüft werden kann. Da aber, wo die faktischen Hürden für eine solche Überprüfung so hoch sind, dass es diese Möglichkeit nur noch in der Theorie gibt, müssen diese Hürden schlicht und ergreifend gesenkt werden.
Alles andere würde das Parlament zu einer reinen Abnickbude degradieren. Es zieht der Opposition die Zähne und nimmt den Druck von den Regierungsfraktionen, anständige und nachhaltige Arbeit zu leisten.
Meine Damen und Herren, die Demokratie ist nur so stark wie die Oppositionsrechte. Stärken Sie gemeinsam mit uns die Demokratie! Stimmen Sie für unsere Gesetzesinitiative! Wenn Sie das nicht
tun mögen - Herr Nacke, Sie lachen -, weil Sie vielleicht denken, wenn Sie einen AfD-Vorschlag unterstützen, dann fällt Ihnen gleich der Himmel auf den Kopf oder wachsen Ihnen kleine Hörner oder so etwas, dann stimmen Sie wenigstens für den Vorschlag von Grünen und FDP, der im Kern dasselbe will! Ein paar Dinge dabei finden wir nicht so gut, aber im Kern bedeutet er dasselbe.
Eine solche Regelung ist vernünftig. Vernünftige Politik zu machen ist der Auftrag, mit dem wir alle hierhin entsandt worden sind.
Vielen Dank, Herr Wichmann. - Nun hat sich für Bündnis 90/Die Grünen Herr Helge Limburg zu Wort gemeldet.
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Landtagswahl 2017 in Niedersachsen hat eine Regierungskoalition im Niedersächsischen Landtag hervorgebracht, die in ihrer Übermacht eine Ausnahme darstellt. Sie ist kein völliges Novum, aber doch eine Ausnahme.
Diese zahlenmäßige Übermacht der Großen Koalition zusammen mit dem inhaltlich in der Tat sehr weiten Spektrum der Opposition - es ist gerade schon gesagt worden, dass es real nicht vorstellbar ist, dass Grüne und FDP gemeinsam mit der AfD eine parlamentarische Initiative ergreifen - führt dazu, dass die in einer parlamentarischen Demokratie so wichtige Kontrolle der Regierung durch die Opposition de facto ins Leere zu laufen droht.
Denn alle Rechte, wichtige parlamentarische Instrumente zu nutzen - das Recht auf Einsicht in Akten der Regierung, das Recht zur Einsetzung eines Parlamentarischen Untersuchungsausschusses zur Untersuchung von Vorgängen in der Regierung und das Recht zu einem Normenkontrollverfahren, also das Recht, ein Landesgesetz vor dem Staatsgerichtshof, dem Landesverfassungsgericht, in Bückeburg auf seine Vereinbarkeit mit der Verfassung überprüfen zu lassen -, sind vom Erreichen des Ein-Fünftel-Quorums abhängig: Ein Fünftel der Mitglieder des Landtages muss einen entsprechenden Antrag stellen. Dieses Fünftel - ich habe es eben gesagt - wird in der gegenwärtigen Konstellation nicht erreicht werden.
Nun könnte man sich natürlich zurücklehnen und sagen: Pech gehabt, das haben die Wählerinnen und Wähler halt so gewollt! Die Regierung kann de facto ohne Kontrolle machen, was sie will. - Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin mir sicher, dass die ganz große Mehrheit der Wählerinnen und Wähler so etwas nicht gewollt hat. Ich bin mir sicher, die große Mehrheit der Menschen in Niedersachsen weiß unser System mit Regierung und Opposition, Macht und Kontrolle zu schätzen.
Es ist die Existenz einer Opposition, ausgestattet mit effektiven Kontrollrechten, die den Unterschied zwischen einem totalitären Staat und einem liberalen demokratischen Rechtsstaat ausmacht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte an dieser Stelle einen berühmten niedersächsischen Staats- und Verfassungsrechtler zitieren. Dieser Staatsphilosoph aus dem Ammerland - gemeint ist der Kollege Jens Nacke -
hat in der letzten Legislaturperiode drüben im provisorischen Plenarsaal völlig zu Recht, Norbert Lammert zitierend, gesagt:
„Regiert wird überall auf der Welt, von wem und unter welchen Bedingungen auch immer. Was ein politisches System als Demokratie qualifiziert, ist nicht die Existenz einer Regierung, sondern die Existenz eines Parlamentes und seine gefestigte Rolle im Verfassungsgefüge wie in der politischen Realität.“
„Aber Opposition kann nur funktionieren, wenn sie feste Rechte hat, Minderheitenrechte eben. Eine Mehrheit in einem Parlament kann eben nicht machen, was sie will …“
Richtig, Herr Nacke! Darum müssen diese Minderheitenrechte festgeschrieben werden, damit die Große Koalition nicht machen kann, was sie will.
Ein Argument der Gegnerinnen und Gegner einer Verfassungsänderung, das öffentlich wiederholt vorgetragen wurde, war, dass man eine Verfassung nicht an tagespolitische Gegebenheiten anpassen dürfe, dass eine Verfassung länger Be
stand haben müsse. Dem kann ich grundsätzlich durchaus etwas abgewinnen. Die Ausdifferenzierung des politischen Systems ist aber aller Wahrscheinlichkeit nach keine tagespolitische Erscheinung, die wieder verschwindet, sondern sie wird aller Voraussicht nach länger bzw. dauerhaft anhalten. Darauf müssen dann eben auch die Strukturen politischer und parlamentarischer Kontrolle angepasst werden.
Im Übrigen, liebe Kolleginnen und Kollegen von SPD und CDU, ist es ja nicht so, dass Sie Verfassungsänderungen immer und überall ablehnen würden. Es ist Ihr CDU-Finanzminister, Herr Hilbers, der öffentlich erklärt hat, dass er unbedingt die seit 1993 in der Verfassung existierende Regelung zur Neuverschuldung, die sich in der Tat bewährt hat, durch ein De-facto-Verbot der Nettokreditaufnahme - genannt „Schuldenbremse“ - ersetzen möchte. Wo sind denn da die grundsätzlichen Bedenken von SPD und CDU gegen eine Anpassung der Verfassung an diese tagespolitischen Vorstellungen des CDU-Finanzministers, dem neuen Ausgabenkönig Niedersachsens? - Wenn Sie konsequent wären, hätte ein solcher Vorschlag doch nicht im Ansatz eine Chance, liebe Kolleginnen und Kollegen.
(Beifall bei den GRÜNEN - Christian Meyer [GRÜNE]: Er ist schon wieder nicht da! - Wiard Siebels [SPD]: Das ist gar nicht Gegenstand der Debatte!)
umso mehr, wenn ich Sie hier so fröhlich sitzen sehe. Insofern bin ich auch Optimist in dieser Frage.
Der Ministerpräsident und der stellvertretende Ministerpräsident haben öffentlich ihr Wort gegeben, dass sie die Minderheitenrechte im Parlament stärken wollen. Die Parlamentarischen Geschäftsführer von SPD und CDU, Herr Siebels und Herr Nacke, haben sich öffentlich ähnlich geäußert. Meine Herren, Sie haben mir bislang keinen Anlass gegeben, an Ihrem Wort zu zweifeln. Lassen Sie auch in dieser Frage jetzt keinen Zweifel daran aufkommen, dass Ihr Wort gilt!
Der gemeinsame Vorschlag von Grünen und FDP für eine Verfassungsänderung liegt nun vor. Wir haben damit eine konkrete Grundlage für unsere Gespräche und für die Beratung im Parlament. Wir
Klar ist aber, dass wir natürlich auch für andere Vorschläge offen sind, die effektive Oppositionsarbeit in gleicher Weise sicherstellen. Lassen Sie uns zeitnah eine Lösung finden! Damit dieses Parlament weiterhin so kraftvoll seiner Aufgabe gerecht werden kann, braucht Ihre Große Koalition auch eine effektive Opposition.