Protocol of the Session on May 30, 2013

- Frau Polat, lassen Sie mich doch einfach ausreden.

Man darf die Situation nicht unterschätzen. Es gibt quer durch alle Parteien den einen oder anderen Kollegen, der starke Befindlichkeiten hat, sodass es dann tatsächlich darum geht, wer eingeladen ist, wer mit aufs Podium darf, wer wie lange reden darf etc. Diese Befindlichkeiten gibt es durchaus. Das werden Sie nicht in Abrede stellen können.

Die Frage ist: Muss man die Schulen davor schützen oder nicht? Hierzu gibt es immer wieder unterschiedliche Auffassungen, im Übrigen auch in allen Fraktionen. Wir sagen: Nein.

(Filiz Polat [GRÜNE]: Ist er denn libe- ral?)

- Lassen Sie mich doch einmal ausreden! Frau Polat, wenn Sie jetzt dazwischenrufen: „Ist das ein Liberaler?“, ohne dass Sie mich ausreden lassen, dann ist doch genau das etwas, was politische Bildung nicht machen sollte, dann ist das doch gerade keine Demokratievermittlung.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU - Gerd Ludwig Will [SPD]: Ihnen fällt nur nichts ein!)

Demokratie bedeutet, einander zuzuhören und erst einmal abzuwarten, was der andere denn sagt. Ich wollte gerade den Satz zu Ende bringen und sagen: Aus unserer Sicht, aus der Sicht der FDPFraktion, können wir das auch vor den Wahlen zulassen.

Ich wollte Ihnen gerade in Aussicht stellen, Ihrem Antrag zuzustimmen. Sie machen jetzt mit Ihren Zwischenrufen meinen Versuch der gemeinsamen Meinungsbildung kaputt. Das kann ich wirklich nicht verstehen. Das ist auch keine Demokratiebildung.

(Zurufe von der SPD und von den GRÜNEN: Oh!)

Wir stimmen trotzdem zu,

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

aber Ihr Verhalten zeigt mitunter, dass wir eine starke politische Bildung brauchen.

(Beifall bei der FDP)

Vielen Dank, Herr Försterling. - Für die SPDFraktion hat sich der Kollege Christoph Bratmann zu Wort gemeldet. Sie haben das Wort, Herr Kollege.

(Beifall bei der SPD)

- Herr Bratmann, ist das Ihre erste Rede? Ich frage das wegen des Beifalls.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das ist meine erste Rede in diesem Hohen Hause. Ich freue mich, dass ich gleich in dieser ersten Rede über ein Thema reden darf, das mich jahrelang beruflich beschäftigt hat, nämlich über die politische Bildung an Schulen. Als Politiklehrer war ich jahrelang in der Praxis tätig, und ich will in meinen Ausführungen auch ein wenig auf die Pra

xis eingehen und schildern, wie es vor Ort aussieht.

Zunächst zur Kollegin Korter, die bereits den Bildungsauftrag aus § 2 des Niedersächsischen Schulgesetzes formuliert hat, der da lautet - ich zitiere -:

„Die Schülerinnen und Schüler sollen lernen, ihre staatsbürgerliche Verantwortung zu verstehen und zur demokratischen Gestaltung der Gesellschaft beizutragen.“

Frau Bertholdes-Sandrock hat schon angesprochen, dass dies im Rahmen von ein bis zwei Wochenstunden geschieht.

(Karin Bertholdes-Sandrock [CDU]: Aber über Jahre hinweg!)

Daran wird deutlich, wie dieses Lernziel überhaupt erreicht werden kann. Denn die Vermittlung hin zu einer demokratisch denkenden Persönlichkeit in den Schulen geschieht ja nicht über das Auswendiglernen von Texten, über Klassenarbeiten usw., sondern dazu bedarf es eines lebendigen Politikunterrichts, bei dem Schülerinnen und Schüler Politik direkt vor Ort erfahren.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN - Karin Bertholdes-Sand- rock [CDU]: Auf die Idee wäre ich gar nicht gekommen!)

Aus meiner Sicht gilt es auch, mit der Mär von der Politikverdrossenheit der jungen Leute von heute aufzuräumen. Es wird ja manchmal so dargestellt, als ob jetzt eine Generation heranwächst, die nur noch konsumorientiert ist und keine Interesse mehr an politischer Beteiligung und politischer Bildung hat. Das entspricht überhaupt nicht meinen Erfahrungen und entspricht auch nicht dem, was ich in den Jahren im Schuldienst erlebt habe. Wahrzunehmen ist also keine Politikverdrossenheit, sondern vielmehr das Interesse, zu partizipieren, teilzunehmen, mitzudiskutieren, sich zu informieren. Allerdings ist eine Art von Politiker- und Parteienverdrossenheit wahrzunehmen. Das betrifft uns alle, liebe Landtagskolleginnen und -kollegen, und das sollte uns alle umtreiben.

(Lebhafter Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Insoweit müssen wir überlegen, wie wir gegensteuern können. Das hat mit Sicherheit häufig mit Vorurteilen uns als Berufspolitikern gegenüber zu tun, und diese Vorurteile basieren zum großen Teil auch auf einer gewissen Unwissenheit über die

Funktion von politischen Ebenen, über politische Prozesse und über Zwänge, denen wir als Politikerinnen und Politikern alle unterliegen.

Bei dem Bildungsauftrag, der für die Schulen formuliert ist, geht es also um nicht mehr und nicht weniger als darum, Jugendliche an unsere Demokratie heranzuführen, ihnen Teilhabe zu ermöglichen und ihnen Mittel und Wege aufzuzeigen, sich einzubringen und, wie schon gesagt, nicht zuletzt auch eine demokratische Grundhaltung zu entwickeln. Die Praxiserfahrungen mit dem Politikunterricht zeigen, dass die Lebendigkeit dabei ein ganz entscheidender Faktor ist. Diese ist z. B. in solchen Veranstaltungen gegeben, wie sie Frau Kollegin Korter vorhin schon skizziert hat, nämlich bei Podiumsdiskussionen mit eingeladenen Politikern.

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegin Bertholdes-Sandrock, im Antrag steht nicht, dass wir das auf die letzten vier Wochen vor Wahlen beschränken wollen. Ganz im Gegenteil. Selbstverständlich muss das früher ansetzen, und selbstverständlich muss politische Bildung ein kontinuierlicher Prozess sein. Wir wollen dies aber auch in der zugespitzten Phase politischer Auseinandersetzung ermöglichen. Das ist das Entscheidende dieses Antrags, und nur darum geht es heute.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Ich will noch etwas zu dem Bild von politischer Bildung in Schulen sagen, das Sie hier dargestellt haben, gerade wenn es um die Anwesenheit von Mandatsträgern vor Ort geht, und dies insbesondere vor Wahlkämpfen. Sie haben das so dargestellt, als ob die Schule, mir nichts dir nichts, Raum politischer Einflussnahme werden könne und die Schulleitung und die Lehrer einfach zuschauten, wenn Politiker in den Schulen Phrasen dreschen und zu beeinflussen suchen. Das kann gar nicht so funktionieren, und das wird auch nicht so funktionieren. Ich denke, insoweit können wir auch ein gewisses Vertrauen in die Schulleitungen und in die Lehrkräfte haben.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Ich will einmal darstellen, auf welchen Grundlagen der Politikunterricht in den Schulen beruht. Nach langem Streit darüber, wie politische Bildung an Schulen überhaupt aussehen kann, haben sich die Politikdidaktiker schon im Jahr 1976 auf einen Konsens geeinigt. Schulfachkräfte werden ihn ken

nen. Das ist der sogenannte Beutelsbacher Konsens. In dem kleinen Städtchen Beutelsbach bei Karlsruhe hat man drei Grundsätze formuliert, die heute noch für den gesamten Bereich der politischen Bildung an Schulen bindend sind. Diese Grundsätze will ich Ihnen kurz darstellen.

Als erster Grundsatz gilt das sogenannte Überwältigungsverbot. Man nennt es auch Indoktrinationsverbot. Es besagt, dass die Schülerinnen und Schüler beispielsweise nicht mit der Meinung des Politiklehrers oder der Politiklehrerin überwältigt werden dürfen. Das heißt zu Deutsch: Ob ein Politiklehrer oder eine Politiklehrerin ein Parteibuch hat, selbst Mandatsträger ist, selbst die eine oder andere politische Meinung hat, spielt für den Unterricht überhaupt keine Rolle.

Der zweite ganz wichtige Grundsatz ist in diesem Zusammenhang: Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muss auch im Unterricht kontrovers sein. Die Frage beispielsweise, die vor der letzten Landtagswahl immer wieder aufkam, ob Studiengebühren sinnvoll und notwendig sind oder aber nicht, kann im Unterricht nicht abschließend behandelt werden. Ganz im Gegenteil. Den Schülerinnen und Schülern müssen Mittel und Wege aufgezeigt werden, sich zu dieser Fragestellung zu informieren. Zu welchem Schluss sie kommen, obliegt ihnen ganz allein. Das kann der Politiklehrer nicht aufzeigen.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Das können ihnen auch keine Mandatsträger aufzeigen, und zwar insbesondere dann nicht, wenn sie in größerer Anzahl in den Schulen sind und dort ihre diversen Positionen vertreten, liebe Landtagskolleginnen und -kollegen.

Der dritte wichtige Grundsatz des Beutelsbacher Konsenses lautet - ich zitiere wieder -: Der Schüler muss in die Lage versetzt werden, eine politische Situation und seine eigene Interessenlage zu analysieren und zu bewerten und schließlich - wie eben schon dargestellt - selbst zu einem Schluss zu kommen.

Dieser Beutelsbacher Konsens mit diesen drei entscheidenden Grundsätzen ist Grundlage jeglicher politischer Bildung an Schulen. Ich glaube, auf dieser Grundlage können wir den Schulleitungen und auch den anderen Lehrkräften zutrauen, dass sie in den Schulen keine einseitige Einflussnahme zulassen; auch nicht vier Wochen vor Landtags- oder Bundestagswahlen.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Ich möchte noch einen weiteren Aspekt hinzufügen. Der Erlass geht durchaus in die richtige Richtung. Das ist gar keine Frage. Der Erlass dient durchaus dem Zweck, einseitige Einflussnahmen zu verhindern. Er ist aber nicht mehr zeitgemäß; denn die Gefahr einseitiger politischer Beeinflussung besteht natürlich während des Wahlkampfes. Das ist ganz normal und auch legitim. Es ist ja Wahlkampf.

(Karin Bertholdes-Sandrock [CDU]: Das habe ich ja auch gesagt!)

In den vergangenen Wahlkämpfen - insbesondere im letzten Jahr - haben wir erlebt, dass alle Parteien und auch einzelne Mandatsbewerber besondere Mittel und Wege wählen, um an die Erstwählerinnen und -wähler heranzukommen. Da wird eine Art jugendspezifischer Wahlkampf gemacht. Mittlerweile spielen da auch soziale Netzwerke eine große Rolle. Zum Beispiel werden über Facebook und Twitter Freundschaftsanfragen an die potenziellen Erstwählerinnen und -wähler versandt. Es werden Veranstaltungen wie z. B. Kinovorführungen durchgeführt, zu denen insbesondere Erstwählerinnen und -wähler eingeladen werden.

Vielleicht haben einige von Ihnen, liebe Landtagskolleginnen und -kollegen, auch auf den klassischen Erstwählerbrief gesetzt - es ist ja legitim, so etwas zu machen -, um sich an die Jungwählerinnen und -wähler zu wenden. Das heißt: Eine Beeinflussung gerade in der heißen Phase des Wahlkampfes findet ohnehin statt. Als Politiklehrer habe ich die Erfahrung gemacht, dass die Jugendlichen dies auch thematisieren und im Wahlkampf auch ansprechen. Sie haben durchaus den Wunsch, diejenigen, von denen sie angeschrieben werden, die Kontakt zu ihnen suchen und von denen sie beworben werden, auch einmal im Unterricht kennenzulernen und mit ihnen in einem moderierten Gespräch zu diskutieren. Ich glaube, dass solche Gespräche besser im pädagogisch geschützten Rahmen der Schule stattfinden als nur einseitig bei Veranstaltungen der Parteien, liebe Landtagskolleginnen und -kollegen.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Von daher komme ich zu dem Schluss: Trauen wir den Schulleitungen zu, solche Veranstaltungen vor Wahlen eigenverantwortlich planen zu können. Trauen wir auch den Lehrkräften zu, dass sie ver

hindern können, dass die Schule Raum einseitiger Parteieneinflussnahme wird. Und trauen wir - und das ist ganz entscheidend - nicht zuletzt den niedersächsischen Schülerinnen und Schülern zu, sich selbst ein kritisches Bild machen und einseitige Einflussnahmen selbstkritisch hinterfragen zu können. Ich bitte um Unterstützung für diesen Antrag.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)