Protocol of the Session on May 15, 2014

(Zustimmung bei der SPD)

Es gibt ein grundsätzliches und deutliches Ja - das haben wir sowohl vom Ministerpräsidenten als auch vom Fraktionsvorsitzenden der CDU gehört, und ich bin mir sicher, dass auch die anderen Fraktionen es sagen werden - zur Europäischen Union, zu ihrem Ausbau und ihrer Weiterentwicklung. Auch vor dem Hintergrund der Erfahrung zweier Weltkriege und des Nationalsozialismus in Deutschland mit seinen barbarischen Verbrechen und dem Zivilisationsbruch des Holocaust gibt es diesen Grundkonsens.

Meine Damen und Herren, es bleibt aber eine Frage: Warum gelingt es uns eigentlich nicht, wieder mehr Begeisterung für die europäische Integration zu wecken? Es ist doch eine paradoxe Situation. Europa ermöglicht uns Reisefreiheit und Freizügigkeit auch bei der Suche und Annahme von Beschäftigung. Europa unterstützt über die Förderpolitik den regionalen Strukturwandel. Europa fördert wichtige Projekte; einige sind genannt worden. Ich könnte aus meinem Wahlkreis den Windpark Borkum und den Küstenkanal vom Dortmund-EmsKanal zur Weser nennen; die Uni Oldenburg ist schon genannt worden. Ich glaube, alle Kolleginnen und Kollegen könnten riesige Listen zu Projekten in ihren Wahlkreisen vorlegen, bei denen die Europäische Union mitgeholfen und eine Förderung bereitgestellt hat.

(Zuruf von Ronald Schminke [SPD])

- Natürlich auch in Südniedersachsen.

In der vergangenen Förderperiode von 2007 bis 2013 hat die Europäische Union die Regionalentwicklung im Land Niedersachsen mit insgesamt fast 2,7 Milliarden Euro unterstützt. Europa hat in der Vergangenheit wichtige Impulse für den Klimaschutz und den Umweltschutz gegeben und den Verbraucherschutz gestärkt. Immerhin 80 % aller Umwelt- und Verbraucherschutzstandards gehen auf die EU-Gesetzgebung zurück. Für mich persönlich ist der entscheidendste Aspekt: Europa ist ein weltweit einmaliges Friedensprojekt.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Das, meine Damen und Herren, sollten wir niemals vergessen.

Gleichzeitig stellen wir aber fest - darauf sind beide Vorredner eingegangen -: Die Skepsis an der Ausgestaltung der europäischen Integration nimmt weiter zu. Zur Ehrlichkeit gehört, dass die nationale Politik an einem mangelnden Verständnis für die europäische Politik nicht unschuldig ist. EuropaBashing ist weit verbreitet und hilft manchmal auch, von der eigenen Verantwortung abzulenken.

(Zustimmung bei der CDU und bei den GRÜNEN)

Natürlich schütteln wir den Kopf, wenn es um den Krümmungsgrad von Gurken und Bananen, die Maße von Sitzen auf Traktoren geht oder andere skurrile Regelungen vorgenommen werden. Vergessen und verschwiegen wird dabei aber oft, dass es wirtschaftliche Interessen an einer Normie

rung waren, die, unterstützt von der nationalen Politik, zu entsprechenden Initiativen und Regelungen geführt haben.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Der Kern der Europaskepsis speist sich aus meiner Sicht aber noch aus einer anderen Quelle. Die Europäische Gemeinschaft ist als Wirtschaftsgemeinschaft gestartet; aber die Bürgerinnen und Bürger haben andere, weiter gehende Ansprüche an sie. Die Menschen erleben die Europäische Union in erster Linie als Schutzgemeinschaft für Wirtschaft und Finanzmärkte, nicht als Schutzgemeinschaft für ihre Belange. Sie erwarten, dass Europa auch ihre soziale und wirtschaftliche Basis sichert und weiterentwickelt und sie nicht unter die Räder von Wirtschafts- und Finanzmarktkrisen gerät. Meine Damen und Herren, auch deshalb brauchen wir ein soziales Europa.

(Beifall bei der SPD und Zustimmung bei den GRÜNEN)

Die Bürgerinnen und Bürger erleben das im täglichen Leben. Sie machen Erfahrungen und werden durch die Aussagen führender politischer Repräsentanten bestärkt, die sagen, „die Demokratie ist zu langsam“ - so Manuel Barroso. Wir erinnern uns auch an Frau Merkel, die von einer „marktkonformen Demokratie“ sprach - ein Rückgriff auf antidemokratische Denkmuster, der mich erschreckt hat und den wir nicht zulassen dürfen.

(Beifall bei der SPD und Zustimmung bei den GRÜNEN - Klaus Krumfuß [CDU]: Das ist ja unglaublich!)

Meine Damen und Herren, Europa bedarf einer Neuausrichtung der Politik. Europa muss mehr sein als eine Wettbewerbsgemeinschaft. Meine Partei will eine EU, die gute Arbeit und Ausbildung sichert.

(Unruhe)

Frau Modder, einen Moment, bitte! - Meine Damen und Herren, diese Geräuschkulisse ist nicht zumutbar. Ich möchte darum bitten, dass die Gespräche - auch am Rande des Raums - eingestellt werden. Das gilt auch für Kameraleute. - Wir setzen fort.

Noch immer gibt es Dumpingwettbewerb um die niedrigsten Löhne in Europa. Das muss sich ändern.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Darum wollen wir existenzsichernde Mindestlöhne in allen EU-Mitgliedstaaten, von denen die Menschen vor Ort leben können.

Die Arbeitslosigkeit, besonders unter Jugendlichen, hat in etlichen europäischen Ländern dramatische Höhen erreicht. In der gestrigen Debatte in diesem Hause wurde das und wurden die Auswirkungen aufgezeigt. Ich empfehle jedem, die Rede unseres Kollegen Erkan nachzulesen.

Wir dürfen diese jungen Menschen nicht im Stich lassen. Die Zukunft unseres Kontinents und die Akzeptanz der europäischen Integration hängen auch davon ab, ob die nächste Generation die Chance auf Bildung, Ausbildung und Jobs haben wird. Unser Ziel muss sein, die Jugendarbeitslosigkeit in Europa deutlich zu verringern. Es darf nicht sein, dass für die Rettung von Banken gigantische Milliardensummen zur Verfügung stehen, aber nicht genügend Geld im Kampf gegen Jugendarbeitslosigkeit.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Frau Modder, einen Moment noch einmal, bitte! Es tut mir leid, wenn ich Sie unterbreche. - Ich darf den Kameramann bitten, nicht in private Unterlagen der Abgeordneten hineinzufilmen.

(Zustimmung bei der CDU)

Bitte sehr!

Danke schön. - Es war eine Initiative der europäischen Sozialdemokraten, die die europäische Jugendgarantie durchgesetzt hat. Jetzt muss diese Garantie schnell in den EU-Staaten umgesetzt werden.

In den Zusammenhang einer Neuausrichtung der Wirtschafts- und Wettbewerbspolitik gehört auch der Stellenwert der öffentlichen Daseinsvorsorge. Meine Fraktion und meine Partei haben diesen Stellenwert immer betont. Nationale, regionale und lokale Besonderheiten müssen erhalten und geschützt werden. Auf europäischer Ebene muss

sichergestellt werden, dass Kommunen selbst entscheiden können, wie sie ihre öffentlichen Aufgaben erbringen.

(Zustimmung bei der SPD)

Wir wollen, dass alle Menschen den gleichen Zugang zu Gütern und Leistungen der Daseinsvorsorge haben. Aber wir erleben, dass dieser Anspruch immer wieder verteidigt werden muss.

Der Bereich der Wasserversorgung ist hierfür ein gutes Beispiel. Die Europäische Kommission hat Ende 2011 einen Vorschlag für eine Richtlinie über die Konzessionsvergabe veröffentlicht, welche einheitliche, europaweite Vorgaben vorsieht. Wir alle wissen um die Bedeutung einer guten, funktionierenden Wasserversorgung. Wir haben diese Frage auch hier im Niedersächsischen Landtag öfter diskutiert. Der Vorschlag der Kommission wäre in seiner ursprünglichen Form einem Einfallstor für die Privatisierung der Wasserversorgung gleichgekommen. Die bewährten kommunalen Strukturen wären massiv unter Beschuss geraten.

Nicht umsonst haben die Pläne zu starken Protesten und zur Gründung - das finde ich ganz bemerkenswert - der ersten Europäischen Bürgerinitiative „Wasser ist ein Menschenrecht“ geführt.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

1,6 Millionen Bürger haben mit ihren Unterschriften gefordert, den Wassersektor aus dem Anwendungsbereich der Richtlinie herauszunehmen und auf die Privatisierung des Wassersektors zu verzichten. Right2water war die erste Bürgerinitiative ihrer Art, eine europaübergreifende Initiative, die erst mit dem Vertrag von Lissabon möglich geworden ist.

Vor der demokratischen Macht der insgesamt 1,6 Millionen Unterzeichner musste die Kommission kapitulieren. Sie hat den Richtlinienvorschlag geändert und die öffentliche Wasserversorgung davon ausgenommen - ich finde, ein großartiger Erfolg für die europäische Zivilgesellschaft.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, zukünftig muss klar sein: Öffentliche Daseinsvorsorge gehört in die öffentliche Hand, unter dem Gesichtspunkt des gleichen Zuganges, aber auch unter dem Gesichtspunkt einer demokratischen Gestaltung und Teilhabe.

In diesen Zusammenhang gehört auch die Auseinandersetzung um die Verhandlung des Freihandelsabkommens zwischen der EU und den USA. Wir hatten die Debatte bereits gestern in der Aktuellen Stunde, und wir haben, glaube ich, heute Nachmittag zwei Anträge auf der Tagesordnung. Ich will der Beratung nicht vorgreifen. Aber die Debatte über dieses Abkommen zeigt, dass entsprechende Verhandlungen kritisch begleitet werden müssen. Demokratische Strukturen und Maßnahmen der Daseinsvorsorge bleiben manchmal auf der Strecke.

Zu verteidigen sind auch demokratische und rechtsstaatliche Strukturen. Das Freihandelsabkommen, wie es jetzt verhandelt wird, sieht Sonderschutzrechte für Großinvestoren vor. Ein Staat muss Sorge haben, nach der neuen Regelung verklagt zu werden, wenn Investoren ein möglicher Gewinn durch die Lappen geht.

Der Journalist Heribert Prantl hat dieses „Supergrundrecht“ in der Süddeutschen Zeitung folgendermaßen formuliert:

„‚Die ungestörte Investitionsausübung ist gewährleistet. Kein Großinvestor darf gegen seine Interessen zum Umweltschutz, Kündigungsschutz, Datenschutz, Verbraucherschutz und zu sozialer Verantwortung gezwungen werden’. Das ist“

- wie Prantl schließlich ausführt -

„ein Eingriff in die Rechtssetzungshoheit der Rechtsstaaten (und) ein Eingriff in die Rechtsstaatlichkeit“.

Ich füge hinzu: Es ist auch ein Angriff auf die demokratischen Errungenschaften.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, mein Politik- und Demokratieverständnis sieht anders aus. Deswegen lohnt es sich allemal, für ein anderes, ein sozialeres Europa zu streiten. Deshalb bin ich der Meinung, dass der Investorenschutz in einem möglichen Abkommen nichts zu suchen hat.

Ich will ein weiteres Thema anschneiden. Zur Frage der gesellschaftlichen Teilhabe gehört für mich auch ein verantwortungsvoller Umgang mit Flüchtlingen. Wir brauchen eine europäische Lösung. Ich erinnere an die Bilder vor Lampedusa: die Boote, die Menschenleichen, die im Meer treiben. - Ich sage: Italien wird dieses Problem, diese Frage