Protocol of the Session on June 5, 2008

Damit es sich einprägt: Die Klassenstufe 10 gehört zur Oberstufe und muss entsprechend behandelt werden, auf Dauer und nicht per Gnadenakt der Gutsherrin.

Unserer zweiten Forderung nach Verstetigung der stundenmäßigen Unterstützung der betroffenen Klassen - nennen wir es einmal einen Differenzierungsbonus - sind Sie immerhin ein kleines Stück entgegengekommen - ein kleines Schrittchen mit einer Zusage nur für ein weiteres Jahr, so, als ob die Folgejahrgänge keine Probleme mehr hätten.

Wir fordern drittens ein Programm für echte Ganztagsschulen, gerade auch bei den Gymnasien. Was diese brauchen, ist nicht das freiwillige Nachmittagsanhängsel von Arbeitsgemeinschaften, sondern die Möglichkeit zur Rhythmisierung des Schulalltags, der Verteilung der schon längst über den Vormittag hinausgehenden Pflichtstunden über den ganzen Tag in angepassten Räumlichkeiten. Wie die Schulen das allerdings in ihr Schulprogramm einbauen wollen, sollen sie nach unserer Überzeugung in eigener Verantwortung selbst entscheiden können.

(Wolfgang Jüttner [SPD]: Sehr gut!)

Insofern sind wir gegen das detaillistische KleinKlein des Grünen-Antrags. Wer selbstständige Entscheidungen der Schulen fördern will, der darf ihnen nicht auch noch solche Einzelheiten wie Pflichtdoppelstunden vorschreiben, sondern muss ihnen bezüglich der pädagogischen Konzeptionen Vertrauen schenken.

(Beifall bei der SPD und bei der LIN- KEN)

Doppelstunden sind keine neuen Erfindungen. Längst gibt es viel weiter gehende Konzepte: Projektarbeit und Wochenpläne. Schauen Sie sich einmal in den ausgezeichneten Reformschulen um. Bitte keine neuen Teilregulierungen mit minimaler Wirkung!

Wir denken über den Tag hinaus und erheben viertens die Forderung, die Grundsatzerlasse und Verordnungen so umzugestalten, dass eine flexible Verbindung der Sekundarstufen I und II möglich ist. Zugegeben: Das ist zwar erst längerfristig wirksam, aber es ist notwendig. Sie haben auch in diesem Punkt inzwischen zugegeben, dass es Ungereimtheiten gibt. Zu den sinnvollen Ergebnissen des runden Tisches gehört, dass der Übergang von der Klasse 9 des Gymnasiums in Fachgymnasien und damit in die Oberstufe ermöglicht werden soll. Aber das kann und darf nicht alles sein. Das ist Kleinkram. Auf Dauer darf es nicht dabei bleiben, dass z. B. Realschulabsolventen nach Klasse 10 formal den gleichen Abschluss erhalten wie Gymnasiasten nach Klasse 10, dass aber unterschiedliche Berechtigungen daraus abgeleitet werden.

Die Erlasse und Verordnungen, meine Damen und Herren, müssen weiter verändert und angeglichen werden. Es gibt langsamere und schnellere Lernerinnen und Lerner. Das Prinzip der individuellen Förderung macht es nötig, sich überall darauf einzustellen. Dies kann, wie ausgeführt, durch eine flexible Vergabe von Abschlüssen und zusätzlich durch eine flexible Oberstufenzeit erfolgen. Derzeit geschieht es leider ausschließlich durch ein demotivierendes Auslesesystem. Dieses muss überwunden werden!

(Beifall bei der SPD und bei der LIN- KEN - Karl-Heinz Klare [CDU]: Das ist eine tolle Aussage!)

Zusammengefasst, Herr Klare: Wer die Schulzeit bis zum Abitur - ich spreche von Gymnasien, Herr Klare - erfolgreich verkürzen will, muss wirklich

individualisieren, muss die Hektik herausnehmen sowie konsequent auf Ganztag setzen und muss alle Schulen mitnehmen auf einem Weg weg vom Pauken und hin zu einem anderen Verständnis von Lernvorgängen. Selbstbestimmtes, selbsttätiges, interessegeleitetes und aktives Lernen ist zu entwickeln, anstelle von folgenloser Stoffvermittlung, von reinem „Learning to the test“. Von all dem sind wir in Niedersachsen weit entfernt.

(Beifall bei der SPD und bei der LIN- KEN)

Meine Damen und Herren, ein Aussitzen gibt es in dieser Frage nicht. Die Probleme des verfehlten Übergangs zum Abitur nach zwölf Jahren bleiben Ihnen und uns erhalten. Sie sind nicht weg, nur weil Reinhold Beckmann in den letzten Tagen einmal nicht seinem Zorn freien Lauf gelassen hat.

Es gilt, durchaus einmal einen Schritt Abstand zu nehmen und es nicht bei den tagespolitischen Aufgeregtheiten zu belassen. Das sage ich, Herr Klare, durchaus mit einem Schuss Selbstkritik und mit dem Blick auf andere Bundesländer. Auch wir nehmen für uns nicht in Anspruch, die eine und einzige Lösung zu haben, sondern wir stellen sie ernsthaft zur Diskussion.

In der Folge von PISA und anderen Untersuchungen hat es in manchen Bereichen geradezu panische Reaktionen gegeben, was alles geändert werden müsste. Der gemeinsame Nenner - ich nehme keine Partei aus - war häufig: früher, schneller, mehr Kontrolle, vom Wickelkind bis zum Studenten. - Nicht immer wurde genügend bedacht, was der ganzheitlichen Entwicklung - nicht nur der intellektuellen, sondern auch der sozialen und persönlichen - von Kindern und Jugendlichen am ehesten gerecht wird. Das Wort der Ministerin von der Entdeckung der Langsamkeit in der letzten oder vorletzten Plenarsitzung erscheint in diesem Zusammenhang allerdings leider als hohle Phrase.

„Die Entdeckung der Langsamkeit“ ist auch der Titel eines wunderschönen Buches. Der Autor heißt Sten Nadolny. Ich lege es Ihnen allen ans Herz. Es handelt von einem großen Entdecker namens John Franklin, der als Kind in der Schule sehr langsam lernt, aber hartnäckig bleibt und später große Expeditionen leitet.

(Zuruf von Björn Försterling [FDP])

Ein Buch auf historischer Grundlage. Im streng gegliederten Schulsystem unserer grauen Damen und Herren, Herr Försterling, wäre dieser Entdecker wohl untergegangen.

(Hans-Werner Schwarz [FDP]: Wieso das denn?)

Sorgen Sie gemeinsam mit uns dafür, dass es jungen Talenten in Niedersachsen in Zukunft besser geht.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und bei der LIN- KEN)

Danke schön, Herr Poppe. - Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat Frau Kollegin Korter das Wort. Bitte schön!

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gestern haben wir über die Absenkung des Wahlalters auf 14 Jahre debattiert. Wenn Sie schon heute die Schülerinnen und Schüler als Wähler ernst nehmen müssten, hätten Sie uns wohl nicht so erbärmliche Ergebnisse Ihres runden Tisches zum Turboabitur präsentiert.

(Beifall bei den GRÜNEN - Zuruf von Björn Försterling [FDP])

Ich habe den Eindruck, dass Sie noch immer nicht begriffen haben, meine Damen und Herren von CDU und FDP und auch Frau Kultusministerin, was wirklich an den Mittelstufen unserer Gymnasien los ist. Mit dem Aktionsplan für das Turbogymnasium, den Sie vorgestern vorgelegt haben, Frau Heister-Neumann, werden die Schülerinnen und Schüler der Klassen 5 bis 10 kaum entlastet. Sie zählen darin einige Punkte auf, die überhaupt nichts Neues bringen. In der Oberstufe soll die Zahl der Klausuren verringert werden. Das ist richtig, aber keine Entlastung für die Mittelstufe. In der Sekundarstufe I soll der Nachmittagsunterricht in die 5. und 6. Klasse vorverlegt werden. Die Kinder sollen nach dem Übergang von der Grundschule auf das Gymnasium, wenn sie mit der neuen Schulform erst einmal klar kommen müssen, Wochenstundentafeln von 30 und 32 Stunden haben; Nachmittagsunterricht in der 6. Klasse. Vor der Einführung des Turbogymnasiums hatten sie 28 und 29 Stunden. Das verschiebt die Belastungen von den Pubertierenden auf die Jüngeren, auf die 10- bis 11-Jährigen. Was bedeutet das für die Durchlässigkeit? - Sie wird noch schlechter.

Beim warmen Mittagessen schiebt die Kultusministerin das Problem weiterhin völlig auf die Kommunen ab. Sie wolle einmal mit den Schulträgern

reden, heißt es. Nach dem Motto „wer bestellt - nämlich den Nachmittagsunterricht an den Schulen -, muss auch zahlen“ ist auch das Land in der Pflicht. Legen Sie endlich einen Investitionsplan vor, Frau Heister-Neumann, damit an allen Schulen ein warmer Mittagstisch angeboten werden kann.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der LINKEN)

Meine Damen und Herren, nichts getan hat die Kultusministerin bei den Klassengrößen. Bis zu 32 Schülerinnen und Schüler sitzen heute in den Gymnasialklassen, manchmal auch noch mehr und häufig in viel zu kleinen Klassenräumen. Es ist beschämend, dass Sie nicht einmal in den künftigen 10. Klassen, der Eingangsstufe der künftigen Oberstufe, generell die Klassenfrequenz herabsetzen wollen.

Meine Damen und Herren, die Landesregierung tut nicht einmal dort etwas, wo es nichts kosten würde. Bayern und Hessen haben die Regelung eingeführt, dass es an Tagen mit Nachmittagsunterricht nicht auch noch Hausaufgaben zum nächsten Tag geben darf. In Niedersachsen - Fehlanzeige. Eigenverantwortliche Schule - ja. Aber muss das Land nicht auch die Kinder und Jugendlichen vor unzumutbaren Belastungen schützen? Von einem Ausbau der Gymnasien zu echten Ganztagsschulen, zu denen selbstverständlich auch ein entsprechendes Personalbudget gehören müsste, ist bei Ihnen keine Rede. Stattdessen wollen Sie uns Schulen, in denen nur wenige Klassen Nachmittagsangebote haben und die noch nicht einmal über eine Mensa verfügen, als Ganztagsgymnasien verkaufen.

(Beifall bei den GRÜNEN - Karl-Heinz Klare [CDU]: Das entscheiden doch die Schulen selbst!)

Das ist nur Etikettenschwindel. Zu einer pädagogischen Weiterentwicklung der Gymnasien würde auch gehören, dass sie die Schülerinnen und Schüler je nach ihrem individuellen Lerntempo in unterschiedlicher Zeit zum Abitur kommen lassen. Sie sind nicht einmal bereit, den eigenverantwortlichen Schulen selbst zuzugestehen, die Entscheidung zu treffen, ob sie das Abitur nach Klasse 12 oder generell nach Klasse 13 vergeben wollen. Frau Heister-Neumann, da ist Ihr hessischer Kollege schon viel weiter.

Meine Damen und Herren, bei der ersten Beratung unseres Antrages habe ich hier zwei Schülerinnen

der 8. und der 9. Klasse zitiert. Herr Klare hat damals mehrfach dazwischengerufen. Er wollte wohl nicht wahrhaben, wie der Schulalltag aus Sicht der Schülerinnen und Schüler aussieht. Heute möchte ich aus einem Brief zitieren, den mir der Vater einer 13-jährigen Schülerin vor ein paar Tagen geschrieben hat. Zitat:

„Unsere Tochter ist in der 8. Klasse. Ich glaube kaum, dass die Kolleginnen und Kollegen an ihrer Schule ahnen, welcher Belastung die Kinder ausgesetzt sind: 35 Stunden Schule, locker drei Stunden Hausaufgaben am Tag, Samstag und Sonntag jeweils vier bis sechs Stunden Schularbeiten… Meines Erachtens“

- so schreibt der Vater -

„macht unser Schulsystem aus frohen, lernfreudigen, wissbegierigen Kindern überangepasste Lernmaschinen, die dann spätestens im oder nach dem Studium ausgebrannt sind.“

Meine Damen und Herren von CDU und FDP, unseren Antrag gegen den Turbostress am Gymnasium mit einem Entlastungspaket haben Sie im Kultusausschuss abgelehnt. Sie wollten nichts darüber hören, was unsere Vorschläge der kleineren Klassen und der Umwandlung der Gymnasien in Ganztagsschulen denn kosten würden oder welche Entlastungsmaßnahmen andere Bundesländer eingeleitet haben. Deutlicher kann man es eigentlich nicht machen, dass man gar nicht an wirklichen Lösungen interessiert ist.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Die SPD hat unsere Vorschläge zum Teil kritisiert, bislang aber keine eigenen vorgelegt. Jetzt, wo das Schuljahr fast abgelaufen ist, kommen Sie, Herr Poppe, mit einer Neuauflage unseres Antrags, in dem Sie einige Punkte unserer angeblichen Schnellschüsse herausgreifen. Die sind alle richtig. Ich frage mich nur: Wann hatten Sie gedacht, dass der Landtag die Beschlüsse fasst und umsetzen soll? - Für das nächste Schuljahr ist das nicht mehr zu schaffen.

Es geht hier auch nicht um angebliche Schnellschüsse, sondern darum, dass die Schülerinnen und Schüler extrem belastet sind und dass Handlungsbedarf besteht, sowohl kurzfristig als auch für ausgewogene langfristige Maßnahmen, die nachhaltig sein müssen. Aber vielleicht begreifen die Regierungsfraktionen den SPD-Antrag ja als zwei

te Chance, sodass wir doch noch gemeinsam zu Maßnahmen kommen, die tatsächlich Entlastungen für die Schülerinnen und Schüler auch in der Sekundarstufe I bringen.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Herzlichen Dank, Frau Korter. - Für die CDUFraktion hat Frau Kollegin Bertholdes-Sandrock das Wort. Bitte schön!

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Uns liegen heute zwei Anträge vor, mit denen die Schulzeitverkürzung deutlich kritisiert wird. Der SPD-Antrag, auf den ich zunächst eingehe, behauptet, dass es in vielen Bundesländern - das ist auch vorhin schon angeklungen - „massive Proteste“ gegen die Schulzeitverkürzung gebe. Ich hatte kürzlich einmal Gelegenheit, an einer bildungspolitischen Tagung von Sprechern aller deutschen Landtagsfraktionen teilzunehmen. Ich habe mich doch sehr gewundert, dass mir dort ein ganz anderes Bild vermittelt wurde. Die einen kannten nichts anderes als zwölf Jahre, die anderen haben längst umgestellt, und die, die jetzt umstellen, tun dies, liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Niedersächsischen Landtag, deutlich geräuschloser, als dies hier der Fall ist. Ich sehe das Problem: Sie nutzen berechtigte Ängste und Sorgen der Eltern, um sie politisch zu instrumentalisieren.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Hätten Sie jetzt die Schulzeitverkürzung eingeführt, wäre die Tonart eine ganz andere, und Wörter wie „schizophren“ und „mangelnde Menschlichkeit“, die Herr Poppe eben verwendet hat, kämen überhaupt nicht vor. Ich verstehe aber: Sie sind immer noch sauer. Es hat bei der Wahl wieder nicht geklappt.

Die CDU und die FDP sind diejenigen, die den wichtigen Schritt der Schulzeitverkürzung gehen. Das, was Sie von der SPD hier „hektische Maßnahmen“ und auch „Schnellschüsse“ nennen - so netterweise gegenseitig dann auch noch im Clinch -, läuft jetzt in Hessen ganz anders. Dort werden die Vorschläge des CDU-Kultusministers, die unseren gar nicht so unähnlich sind, als „Sofortprogramm“ anerkannt. Sie werden aber nicht als „Schnellschüsse“ oder ähnliches bezeichnet.