„Über alle Studien hinweg zeigen sich im Durchschnitt Vorteile der versetzten Schüler im Vergleich zu den nicht versetzten... Besonders ausgeprägt sind die Unterschiede bei den Schulleistungen. Der Vergleich sitzengebliebener Kinder mit gleich leistungsschwachen, aber versetzten Schülern zum gleichen Alterszeitpunkt ergibt deutliche Leistungsunterschiede zuungunsten der Sitzenbleiber“.
Während andere Bundesländer die Klassenwiederholung längst abschaffen, reduzieren - von der freiwilligen Wiederholung hat hier niemand gesprochen; die kann man immer noch machen - oder neue Modelle finden, wird in Niedersachsen unbeirrt an dieser überholten und pädagogisch längst widerlegten Maßnahme festgehalten.
So, meine Damen und Herren von CDU und FDP, werden Sie sitzenbleiben. So werden uns andere Länder überholen, die viel klüger in Bildung investieren und die ohne Scheuklappendenken auskommen.
Nächste Rednerin ist Frau Reichwaldt von der Fraktion DIE LINKE. Ich erteile Ihnen das Wort, Frau Reichwaldt.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Manchmal lohnt es sich, an Altbewährtem festzuhalten, manchmal hat sich Altes schlicht und einfach nicht bewährt. So scheint mir das mit dem Verfahren des Sitzenbleibens in unseren Schulen der Fall zu sein. Viele von uns haben doch selbst erlebt, dass mit Klassenwiederholungen in der Regel nicht das erreicht wurde, was eigentlich erreicht werden sollte. Die Neuen, die Wiederholer gehörten eben nicht automatisch zu den Leistungsstärkeren. Manchmal ging es für sie noch weiter nach unten.
Die Zahlen sind frappierend: 23,1 % der im Jahr 2003 PISA-getesteten 15-jährigen Schülerinnen und Schüler hatten mindestens einmal eine Klasse wiederholt. Und nun also eine Studie der Bertelsmann Stiftung - ausgerechnet Bertelsmann! -, die besagt: Sitzenbleiben ist nicht nur unwirksam, es kostet auch eine Menge Geld. - Die Studie zeigt, dass in Deutschland Jahr für Jahr ca. 930 Millionen Euro für Klassenwiederholungen ausgegeben werden. Für Niedersachsen gibt die Studie einen Betrag von mehr als 50 Millionen Euro an.
Wir haben diesen Antrag im Kultusausschuss ausführlich behandelt. Professor Klemm wurde zur Vorstellung seiner Studie persönlich eingeladen. Mich haben sein Vortrag und die Studie überzeugt.
Durch Klassenwiederholung entsteht kein zusätzlicher Lerneffekt, sondern die Lernentwicklung wird im Gegenteil erheblich beeinträchtigt. Man sollte doch meinen, dass dieses Ergebnis alle Ausschussmitglieder zumindest zum Nachdenken über dieses angeblich pädagogische Mittel bringen würde. Aber dem war nicht so. Es wurde deutlich, dass diese Studie von einem Teil des Ausschus
ses nicht akzeptiert wurde - mit den entsprechenden Auswirkungen auf das Interesse an diesem Vortrag. Ich fand ja die Atmosphäre Herr Professor Klemm gegenüber dadurch etwas unfreundlich; da täuschte mich aber sicherlich nur meine Wahrnehmung.
(Karl-Heinz Klare [CDU]: Er war auch viel differenzierter als Sie jetzt! - Ge- genruf von Dr. Manfred Sohn [LINKE]: Hören Sie doch erst einmal zu Ende zu!)
(Beifall bei der LINKEN, bei der SPD und bei den GRÜNEN - Dr. Manfred Sohn [LINKE]: Man bleibt sitzen, wenn man nicht zuhört!)
Eines ist natürlich klar: Auf Klassenwiederholungen zu verzichten, ist nur möglich, wenn leistungsschwache Schüler individuell gefördert werden können. Das ist bei unseren hohen Klassenfrequenzen und der mangelnden Unterrichtsversorgung natürlich schwierig. Liegt hier der Grund für Ihre Ablehnung? - Ich sage es noch einmal: Sie sparen Geld, da wären vielleicht Umverteilungen möglich.
Noch zwei weitere Anmerkungen. Erstens wird nirgendwo in diesem Antrag die Behauptung aufgestellt, dass durch den Verzicht auf das Sitzenbleiben keine freiwilligen Wiederholungen mehr möglich wären. Zweitens haben wir hier eine Schulform, die weitgehend auf Sitzenbleiben verzichtet. Sie wissen schon, was kommt: Es sind die Gesamtschulen, und ein großer Teil der Gesamtschüler macht trotzdem erfolgreich das Abitur.
(Beifall bei den GRÜNEN und bei der LINKEN - Karl-Heinz Klare [CDU]: Auch da bleiben manche sitzen!)
Warum also nicht auf etwas Altes, nicht Bewährtes verzichten und dabei auch noch Geld sparen? - Unsere Fraktion wird für diesen Antrag stimmen. Ich fürchte, auf der rechten Seite dieses Hauses hat diese vernünftige Idee keine Chance.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Tatsächlich hat uns dieses Thema „Fördern statt Sitzenbleiben“ schon eine geraume Zeit beschäftigt. Heute, denke ich, kommen wir einmal zu einem Schlusspunkt. Ich habe unsere Position schon im letzten Jahr an dieser Stelle erläutert. Ich möchte einiges wiederholen. Aber ich möchte vor allen Dingen eine andere Überschrift über dieses Thema setzen, nämlich: „Sitzenbleiben nicht abschaffen, aber möglichst vermeiden“.
Aber trotzdem, und das vergessen Sie: Immer noch 65 % der Bevölkerung befürworten das. Es ist nicht das Ziel des Unterrichts; das Ziel des Unterrichts ist, Wissen zu vermitteln. Aber es ist auch das Ziel, dieses Wissen systematisch aufzubauen, damit nachhaltiges Weiterlernen erfolgen kann.
Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Zu dem, was ich eben in Bezug auf die Vorstellung von Professor Klemm im Ausschuss gehört habe, bin ich völlig anderer Meinung; denn diese Vorstellung war für mich völlig enttäuschend.
(Claus Peter Poppe [SPD]: Herr Klare hat gerade gesagt, dass es differen- ziert war! - Gegenruf von Karl-Heinz Klare [CDU]: Dass wir unterschiedli- che Meinungen haben!)
Dabei ist nichts Neues herübergekommen. Er hat seine Studie so, wie wir sie auch lesen konnten, vorgestellt. Er hat selbst zugegeben - das ist der
entscheidende Punkt -, dass es keine, aber auch wirklich keine neueren Untersuchungen gebe. Alle Untersuchungen, liebe Frau Korter, auf denen diese Studie basiert, sind sehr alt und von daher heute überhaupt nicht mehr relevant.
Sie haben gesagt, Sitzenbleiben sei eine Bankrotterklärung. Das sehe ich anders; denn, meine Damen und Herren, wenn Schüler eine Klasse wiederholen, dann kann es auch ein Neuanfang sein, eine Chance sein, dass sie dann im nächsten und übernächsten Schuljahr dem Unterricht besser folgen können und ihre Leistungen so wirklich verbessern.
Ich höre hier immer wieder Kritik an der Unterrichtsversorgung. Ich weiß nicht, wie oft wir Ihnen das noch sagen sollen: So viele Lehrer wie zurzeit hat Niedersachsen überhaupt noch nicht gehabt.
Die Unterrichtsversorgung ist - bis auf Ausnahmen, die es nun einmal gibt - in der Regel optimal. Sie schwankt zwischen 98 % und über 100 % in den Grundschulen. Besser kann es doch gar nicht sein!
Ich habe Ihnen schon bei der letzten Debatte zu diesem Thema gesagt, dass wir Etliches getan haben, um unseren Kinder von klein auf mehr Bildung zu ermöglichen. Dazu gibt es ein Bündel von Maßnahmen - ich will nicht alle wiederholen -: Orientierungsplan, Sprachförderung, Bildungsstandards, Kerncurricula, Verbleiben in der Eingangsstufe, Sozialpädagogen, Unterstützungs- und Beratungssysteme - darüber haben wir schon beim vorherigen Tagesordnungspunkt gesprochen -, Nachprüfungen usw.
Vor allem eines ist mir wichtig - und ich finde es sehr bedauerlich, dass das hier so untergeht -: Wir vertrauen auf das pädagogische Können unserer Lehrerinnen und Lehrer und auch auf die Entscheidungen der Klassenkonferenzen, die sie sich wahrhaftig nicht leicht machen.
Auch familiäre oder andere außerschulische Hintergründe, die dazu führen, dass ein Schüler das Klassenziel nicht erreicht oder schlechte Noten hat, werden mit großer Genauigkeit untersucht. Es wird von vornherein versucht, zu helfen und eine individuelle Förderung für die Schüler zu ermöglichen. Ich meine, die pädagogischen Fähigkeiten unserer Lehrer und ihr Bemühen, von Anfang an zu helfen und zu unterstützen, sollten im Vordergrund stehen.