Protocol of the Session on March 16, 2010

(Zustimmung bei der CDU)

Die Entscheidung, einen Schüler eine Klasse wiederholen zu lassen, ist eine pädagogische Ermessensentscheidung. Ich sage es noch einmal: Ich vertraue darauf, dass die Lehrer im Interesse der Schüler handeln.

(Zustimmung bei der CDU und bei der FDP)

Schule - besonders die Eigenverantwortliche Schule - muss flexibel sein. Es gibt für die Lehrer bzw. die Klassenkonferenzen genügend Spielräume, um den Schülern zu helfen und ihnen eine weitere Chance zu geben. Darauf vertrauen wir.

Ich betone es noch einmal: Wiederholen ist eine der letzten Möglichkeiten, um erfolgreiche Lernprozesse zu gewährleisten. Wer das Sitzenbleiben abschafft, der nimmt den Pädagogen den Spielraum und gibt keine Möglichkeit zu einer pädagogischen Ermessensentscheidung. Das kann nicht sein.

(Zustimmung bei der CDU und bei der FDP)

Es gibt noch nicht so viele Länder, die das Sitzenbleiben abgeschafft haben. Ich habe schon bei der letzten Debatte über diesen Antrag darauf hingewiesen. Sie können es nachlesen, das ist bewiesen: Experten bestätigen, dass in England und Finnland, die das Sitzenbleiben abgeschafft haben, die hohe Arbeitslosigkeit - sie liegt in diesen Ländern bei ca. 20 % - darauf zurückzuführen ist, dass Schüler, denen das Lernen schwerfällt und die nie die Chance hatten, eine Klasse zu wiederholen und ihren Wissensstand zu festigen, die Schulen mit schlechten Zensuren oder ohne Abschluss verlassen und geringe Chancen haben, einen Ausbildungs- oder Studienplatz zu erhalten.

Meine Damen und Herren, es kann auch nicht dem Belieben der Schule überlassen werden, ob ein Schüler versetzt wird oder nicht. Denn dann wer

den die Richtlinien verletzt, und vergleichbare Erfahrungen, die wir brauchen, fehlen.

Ich wiederhole es noch einmal: Wiederholen sollte vermieden werden. Es darf nicht das Mittel, sondern muss ein Mittel sein. Aber Wiederholen bedeutet immer auch einen neuen Anfang und eine neue Chance.

Zu der Studie von Professor Klemm kann ich nur sagen: Auch seine finanziellen Berechnungen sind für mich nicht nachzuvollziehen. Diese Kostenrechnungen sind fragwürdig und entbehren meiner Meinung jeder vernünftigen Grundlage. Die Kosten, die durch in ihrem Bildungsgang fehlgeleitete Schülerinnen und Schüler oder durch künftige Ausbildungsversager oder Studienabbrecher entstehen, sind ungleich höher. Ich wiederhole: Das bestätigen die Expertenaussagen über England oder Finnland. Die Schule steht, Lehrer und Verwaltung sind vorhanden. Der Fall - dieses Argument haben Sie vorgebracht -, dass Klassen geteilt werden müssen, weil sie Wiederholer aufnehmen müssen, kommt äußerst selten vor.

Zum Schluss kann ich als Fazit nur noch sagen: Fördern, fördern, fördern! Sitzenbleiben möglichst vermeiden, aber nicht abschaffen. Wir vertrauen auf die pädagogische Kompetenz unserer Lehrer und Klassenkonferenzen, individuell und zum Wohle der Schüler zu entscheiden und im Vorfeld alles zu tun, um Schülern die Chance zu geben, ihren Leistungsstand zu steigern. Sitzenbleiben per Vorschrift abzuschaffen, hilft den Schülerinnen und Schülern nicht. Das ist Augenwischerei. Daher lehnen wir diesen Antrag ab.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Herzlichen Dank. - Nun hat sich für die SPDFraktion Herr Kollege Poppe zu Wort gemeldet. Bitte schön!

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Ernst, Sie haben Sitzenbleiben als pädagogisch vorbildliche Maßnahme dargestellt. Das ist schon eine ziemlich wilde These.

(Zustimmung bei der SPD und bei der LINKEN - Ursula Ernst [CDU]: Das habe ich nicht gesagt!)

Ich fange einmal etwas anders an: Es ist offenbar gedanklich so schwer, von der Idee des Sitzenbleibens wegzukommen, weil das Sitzenbleiben und die Angst davor zur kollektiven Schulgeschichte der Deutschen gehören. Immer weiß jemand irgendeine Geschichte mit der Unterzeile zu erzählen, er oder sie sei auch sitzengeblieben.

(Ursula Helmhold [GRÜNE]: „Und es hat nicht geschadet!“ - Dr. Gabriele Andretta [SPD]: Herr Bartling!)

Parlamentarier, Minister, Filmsternchen brüsten sich geradezu damit - immer mit dem Unterton: Und es hat mir nicht geschadet.

Wenn dann noch die Schulprobleme von Thomas Mann oder Albert Einstein erwähnt werden, wird daraus oft geradezu eine Heroisierung des Sitzenbleibens. Dann ist eine unvoreingenommene Betrachtung fast unmöglich. Das können wir so nicht mitmachen.

(Zustimmung bei der SPD und bei der LINKEN)

Trotzdem, sagen wir, muss nach dem pädagogischen Sinn des Sitzenbleibens, nach dessen Nutzen und Wirksamkeit immer wieder neu gefragt werden. Darum ist das Anliegen des GrünenAntrags berechtigt.

(Zustimmung von Ina Korter [GRÜ- NE])

Denn es geht um Lebensjahre, um Ängste und um Tränen und nicht um Erinnerungen an die „Feuerzangenbowle“.

(Zustimmung bei der SPD, bei den GRÜNEN und bei der LINKEN)

Schließlich gibt es pro Jahr etwa 250 000 direkt betroffene Schülerinnen und Schüler in Deutschland. Die Zahl derjenigen, die gewarnt werden - offiziell durch einen Blauen Brief der Schule oder inoffiziell in der Familie -, ist um ein Vielfaches höher. Besonders gravierend wirken sich Häufungen von Negativerlebnissen aus. In höheren Hauptschulklassen hat über ein Viertel der Schülerinnen und Schüler schon Erfahrungen mit Zurückstellungen, Überweisungen an eine andere Schule oder mit dem Sitzenbleiben gemacht. Allein solche Zahlen belegen im Grunde bereits das Scheitern des Konzepts Sitzenbleiben.

„Teuer und unwirksam“ lautet daher das Urteil der Studie der Bertelsmann-Stiftung von Professor Klemm, auf die sich der Antrag der Fraktion der

Grünen bezieht. Nun wird man über die Höhe der zusätzlichen Kosten lange streiten können. Dass aber höhere Kosten entstehen, darf ruhig als gesichert gelten, auch wenn die Vertreter von CDU und FDP bei der Befragung im Ausschuss alles versucht haben, das infrage zu stellen.

(Zustimmung von Ina Korter [GRÜ- NE])

Es ist seltsam: Wo sonst Wissenschaftsgläubigkeit herrscht, gerade bei Veröffentlichungen aus dem Hause Bertelsmann, dominiert plötzlich die Skepsis - wohl weil Ihnen das Ergebnis nicht passte.

(Zustimmung bei der SPD, bei den GRÜNEN und bei der LINKEN)

Über die fehlende Wirksamkeit des Sitzenbleibens gibt es in der pädagogischen Fachliteratur weitgehendes Einvernehmen. Das hat für den Praktiker einleuchtende Gründe: Wiederholer haben oft den Eindruck, in der neuen Klasse alles schon zu kennen, und neigen in der Folge zu Oberflächlichkeit. Die Schwächen, die sie haben, sind für eine Zeit zu beheben. Aber wenn grundlegende Verständnisprobleme nicht gelöst worden sind, bleibt es später beim Durchwursteln, und meistens entstehen erneut Probleme.

Ganz offensichtlich lassen sich auch ohne Sitzenbleiben positive Ergebnisse erzielen - zum Teil deutlich bessere.

Ich muss Ihnen widersprechen: Nur wenige andere Länder kennen die Vorstellung, man könne durch Wiederholen eines Jahres Teilschwächen aufholen. Länder, die auf das Sitzenbleiben ganz verzichten, bringen ihre Schülerinnen und Schüler nachweislich im internationalen Vergleich auf ein Niveau, das im Durchschnitt weiter über dem der deutschen Schulen liegt. In Niedersachsen gibt es eine Schulform - Frau Reichwaldt hat darauf hingewiesen -, zu deren Grundprinzipien es gehört, ohne Sitzenbleiben auszukommen. Das ist zum einen die IGS und sind zum anderen übrigens die Waldorfschulen.

(Karl-Heinz Klare [CDU]: Das hat Herr Klemm etwas differenzierter darge- stellt!)

Meistens folgt in ernsthaften Diskussionen allerdings die berechtigte Frage: Bietet die Wiederholung eines Jahresgangs nicht auch Chancen? Eröffnet sie nicht die Möglichkeit, Schwächen aufzuarbeiten, Versäumtes nachzuholen? - Antwort: Die gibt es - in Einzelfällen. Im Regelfall ist allerdings

eher das Gegenteil zu beobachten; ich habe es beschrieben. Niemand sollte und niemand will eine freiwillige Klassenwiederholung unmöglich machen.

Vorsichtige Veränderungsansätze gibt es in vielen Bundesländern, auch in Niedersachsen. Beispielsweise werden unter eng umrissenen Bedingungen Überprüfungen am Ende der Sommerferien zugelassen. Im Erfolgsfall wird dann der Konferenzbeschluss der Nichtversetzung zurückgenommen. Dieses Beispiel und solche aus anderen Bundesländern legen nahe, dass überall die Ministerien am Sinn der Klassenwiederholung zweifeln.

Darum wird als nächster Schritt eine andere Möglichkeit gefordert, nämlich der Förderunterricht. Wenn im Lauf eines Schuljahres Schwächen erkannt werden, werden Schülerinnen und Schüler individuell beraten, oder es wird in Kleingruppen dafür gesorgt, dass sie wieder Anschluss finden.

Im Rahmen des Konzepts der Selbstständigen Schule in Nordrhein-Westfalen hat sich schon eine Reihe von Schulen dafür entschieden, zugunsten solcher Maßnahmen auf das Sitzenbleiben zu verzichten.

(Beifall bei der SPD)

Wer solche Überlegungen nicht einseitig ideologisch verfolgt, sondern offen darüber nachdenkt, der muss zu dem Ergebnis kommen, dass der Antrag der Grünen eine ernsthafte Auseinandersetzung verdient, aber kein plumpes Abbügeln.

(Beifall bei der SPD, bei den GRÜ- NEN und bei der LINKEN)

Die SPD-Fraktion wird jedenfalls weiter an realistischen Alternativen zum Sitzenbleiben arbeiten, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD)

Herzlichen Dank, Herr Poppe. - Für die FDPFraktion hat sich Herr Försterling zu Wort gemeldet. Bitte schön!

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Hier davon zu sprechen, dass CDU und FDP diesen Antrag abbügeln würden, ist

(Kreszentia Flauger [LINKE]: Zutref- fend!)

schlichtweg falsch. Nicht ohne Grund haben wir uns im Kultusausschuss sehr ausführlich mit diesem Antrag beschäftigt und auch Herrn Professor Klemm eingeladen, um uns insbesondere seine Studie einmal vorstellen zu lassen, weil diese Studie ja Grundlage des Antrags der Fraktion Die Grünen gewesen ist.

Das war in der Tat sehr spannend. Natürlich kommt man zu unterschiedlichen Einschätzungen dessen, was Herr Professor Klemm dort ausgeführt hat.