Protocol of the Session on March 16, 2010

- letzter Woche -

„ein Programm zur Gewaltprävention an den Schulen des Landes. Die Zahl der Schulpsychologen wird von 100 auf 200 verdoppelt.“

(Zustimmung bei der SPD)

Dieser einhellige Beschluss des Landtages von Baden-Württemberg basiert auf dem Ergebnis eines fraktionsübergreifend gebildeten Sonderausschusses, der sich mit den Konsequenzen aus dem Amoklauf von Winnenden befasst hat. Die Vorschläge gehen sehr viel weiter und sind wesentlich umfassender, als ich hier darstellen könnte. Dieser Beschluss gibt auch uns in Niedersachsen Anlass zum Nachdenken, zunächst einmal darüber, ob es immer erst unter dem Eindruck massiv ausbrechender Gewalt möglich ist, einen solchen gemeinsamen Beschluss herbeizuführen. Wir wollen in unserem Land jedenfalls nicht erst ein Winnenden erleben, bevor Niedersachsen zu einem umfassenden Schulpsychologie- und Präventionskonzept kommt.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Und der Beschluss gibt Anlass, darüber nachzudenken, wie in Niedersachsen der Iststand aussieht und was aus welchen Gründen tatsächlich notwendig wäre, und Anlass, darüber nachzudenken, wie hier im Landtag mit dem Antrag der SPDFraktion zur Schulpsychologie und damit letztlich mit der schulpsychologischen Beratung insgesamt umgegangen worden ist und umgegangen wird.

Dem Kultusausschuss wurde vom Kultusministerium im September 2009 offiziell Folgendes mitgeteilt: Im Haushaltsplan 2009 sind im Kapitel 07 05 insgesamt 56 Stellen für die Schulpsychologie ausgewiesen. 42 Stellen sind besetzt (38,98 Voll- zeiteinheiten).

Der Vorschlag zur Neustrukturierung der Landesschulebehörde sieht für die Zukunft für Schulpsychologie 74 Stellen vor, von denen allerdings nur

51 echte Schulpsychologenstellen sind; denn bei der von der Regierung behaupteten Zahl 74 sind alle Verwaltungs- und Koordinierungsstellen bereits mitgerechnet. Tatsächlich haben wir es also nach den aktuellen Planungen mit einer Verringerung der Zahl der Schulpsychologenstellen zu tun, nicht mit einer Erhöhung. Was da den Schulen an Beratung und Unterstützung geboten wird, ist nachgerade lächerlich.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Damit ist und bleibt Niedersachsen Schlusslicht unter allen Bundesländern, und internationale Studien belegen, dass die Bundesrepublik Schlusslicht unter allen vergleichbaren europäischen Ländern ist. Es gibt bei uns ganze Landkreise ohne Schulpsychologen. Ich will die bekannten Vergleichszahlen an dieser Stelle nicht wiederholen, bis auf eine: Die anzustrebende und international oft erreichte Relation von Schulpsychologen zu Schülern liegt bei 1 : 5 000; in Niedersachsen steht diese Zahl bei 1 : 32 000.

(Frauke Heiligenstadt [SPD]: Unglaub- lich!)

Mir ist es wichtiger, die angeblichen Gegenargumente aufzugreifen, die immer wieder vorgetragen werden.

Da wird z. B. oft behauptet, dass durch die höhere Zahl von Beratungslehrern und Sozialarbeitern mehr Schulpsychologen überflüssig gemacht würden. Erstens ist auch die Zahl der Sozialarbeiter nach wie vor unzureichend. Zweitens gibt es in allen PISA-Siegerländern neben den Schulpsychologen auch Beratungslehrer. Niemand käme dort auf den Gedanken, eine Gruppe gegen die andere auszuspielen, da beide ganz unterschiedliche Kompetenzen einbringen und beide unverzichtbar sind.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN sowie Zustimmung bei der LINKEN)

Drittens reicht die gegenwärtige wie die geplante Zahl der Schulpsychologen in Niedersachsen nicht einmal aus, um die Zahl der bei uns vorhandenen Beratungslehrer durch Aus- und Fortbildung auf dem gegenwärtigen Stand zu halten - erst recht nicht dazu, sie auszubauen.

Und - ein weiteres Argument - lassen Sie doch den Kinderkram weg, uns vorzuhalten, die SPD-Regierung habe schon vor soundso vielen Jahren be

gonnen, die Psychologenstellen abzubauen! In Ordnung, zugestanden! Aber die gravierenden Einschnitte folgten in den letzten Jahren. Und jetzt geht es nicht um kleinkrämerisches Aufrechnen, sondern um eine große Herausforderung, die vor uns liegt.

(Beifall bei der SPD)

Im Lichte solcher Überlegungen ist der vorliegende Antrag einer, der mit der Forderung nach 60 zusätzlichen Stellen nur das absolute Minimum dessen will, was realistisch und schrittweise in überschaubarer Zeit erreicht werden kann.

Die ersten Beratungen im Ausschuss ließen Einsicht und Hoffnung auf Bewegung erkennen. Denn es lässt sich einfach nicht leugnen, dass die Problemfälle und Konfliktsituationen in Schulen zahlreicher und schwieriger geworden sind. Schulleiterinnen und Schulleiter berichten, dass es vermehrt Kinder mit erheblichen Aufmerksamkeitsstörungen gibt. Mobbing ist ein Problem, das sich oft zu gewaltsamen Übergriffen steigert. Bei dauerhaftem Schwänzen, auch Absentismus genannt, gibt es nicht nur schulische, sondern sehr häufig auch psychische und psychosoziale Hintergründe.

Einige solche Fälle, aber keineswegs alle, können durch erfahrene Lehrkräfte aufgefangen werden, andere durch Beratungslehrer. Entscheidend aber ist: Das frühzeitige Erkennen psychischer Auffälligkeiten kann eine Eskalation von Problemen verhindern. Und dafür brauchen wir Schulpsychologen, für systemische Beratung ebenso wie für ein Eingreifen in Notfällen.

Wenn an einer Schule z. B. durch den Selbstmord eines Schülers oder eines Kollegen oder durch den Unfalltod der Schulleiterin viele Menschen völlig aufgewühlt sind, dann gibt es von staatlicher Seite oft erst mit Klimmzügen jemanden, der den Betroffenen zur Seite steht. Die Kriseninterventionsteams jedenfalls sind chronisch unterbesetzt. Seelsorger und Psychologen vor Ort helfen aus. Niedersachsen ist nicht einmal auf diese Situationen ausreichend vorbereitet. Das ist uns in Gesprächen eindringlich vor Augen geführt worden.

(Zustimmung bei der SPD)

Umso entsetzter und bedrückter sind wir in der SPD-Fraktion über den Stimmungsumschwung in der letzten Ausschussberatung. Ohne jedes neue Argument wurde der vorliegende Antrag vom Tisch gewischt. Wir halten die Ablehnung des Antrags für in höchstem Maße unverantwortlich und den Betroffenen gegenüber für zynisch.

(Beifall bei der SPD)

Gehen Sie in sich und nehmen Sie sich an BadenWürttemberg ein Beispiel! Das sollte Ihnen politisch doch nicht allzu schwer fallen. Die Schulen brauchen auch in diesem Bereich die Gemeinsamkeit, die wir bei der Berufsbildung erreicht haben. Meine Damen und Herren, noch haben Sie die Chance, unserem Antrag zuzustimmen.

Danke schön.

(Beifall bei der SPD - Dr. Gabriele Andretta [SPD]: Nutzen Sie die Chan- ce!)

Jetzt spricht Frau Korter für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Ich erteile Ihnen das Wort.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In diesen Tagen liegt es nahe, an den Amoklauf von Winnenden zu erinnern. Am 11. März 2009 sind dort durch einen 17-jährigen Schüler 15 weitere Menschen ums Leben gekommen; mit dem Täter selber sind es sogar insgesamt 16 Menschen. Noch immer ist diese Tat für viele unfassbar.

„Was hier in Winnenden geschehen ist, geht unser ganzes Land an“, hat Bundespräsident Köhler bei der Gedenkstunde gesagt. Außer der Verschärfung des Waffenrechts müsse noch mehr geschehen. Dann hat Horst Köhler die Arbeit des Sonderausschusses des Stuttgarter Landtages gelobt, der u. a. mehr Schulpsychologen gefordert hatte. So berichtete die HAZ am 12. März 2010. Inzwischen sind diese Stellen für Schulpsychologen beschlossen worden. Herr Kollege Poppe hat gerade darauf hingewiesen.

Meine Damen und Herren von CDU und FDP, müssen eigentlich erst mehr Katastrophen solchen Ausmaßes geschehen, bis Sie verstehen, wie wichtig die psychologische Unterstützung unserer Schulen ist? Haben die Misshandlungen von Schülerinnen und Schülern durch andere Schüler in den vergangenen Jahren auch an niedersächsischen Schulen, die sogar gefilmt und ins Internet gestellt worden sind, nicht zu denken gegeben? Wissen wir etwa nichts über Essstörungen, über Aufmerksamkeitsdefizite, über Bauchschmerzen und Schulängste von Kindern, über autoaggressive Handlungen? Zeigen die täglich neuen Nachrichten über den sexuellen Missbrauch von Schülerinnen und Schülern nicht den dringenden Hand

lungsbedarf? Worauf wollen Sie eigentlich noch warten? Was tut denn die Landesregierung endlich?

(Reinhold Coenen [CDU]: Alles!)

Seit Jahren fordern wir Grüne, dass mehr Schulpsychologen eingestellt werden. Auf alle unsere Anfragen hat die Landesregierung geantwortet, man brauche erst ein neues Konzept für die Landesschulbehörde. Gleichzeitig wurde die Zahl der Schulpsychologen Jahr für Jahr abgebaut. De facto haben wir jetzt keine 40 mehr.

Nachdem sich die Kultusministerin nun endlich zu einem aus meiner Sicht völlig unzureichenden Neukonzept für die Landesschulbehörde entschlossen hat, ist zwar die Schulpsychologie mit Präsenz in den verbliebenen reduzierten Außenstellen eingeplant. Die Zahl der vorgesehenen Stellen entspricht aber nur knapp den 51 Stellen, die im Haushalt 2010 angedacht waren. Herr Kollege Poppe hat schon vorgerechnet, wie Sie rechnen. Verwaltungskräfte haben Sie auch noch mit in Ihrer Rechnung. Das bedeutet: ein Schulpsychologe für 25 000 bis 30 000 Schülerinnen und Schüler in Niedersachsen. Das ist viel zu wenig! Wieder einmal belegt Niedersachsen im Bundesvergleich die Schlussposition, in diesem Falle sogar weltweit.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor Kurzem hat Herr Professor Dollase in einem beeindruckenden Vortrag deutlich gemacht, dass wir in Niedersachsen mittelfristig mindestens 250 Schulpsychologinnen und -psychologen brauchen, damit wir zu einem zahlenmäßigen Verhältnis von Schulpsychologen zu Schülern kommen, wie es in Hamburg besteht, nämlich von 1 : 5 000. Das ist das Mindeste, was er für nötig und sinnvoll hält.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, zur wirksamen Unterstützung unserer Schulen brauchen wir diesen Dreiklang: Schulpsychologinnen und Schulpsychologen, Beratungslehrkräfte und Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter in ausreichender Zahl, auf die man sich verlassen kann und deren Verträge nicht ständig wieder gefährdet sind. Das eine gegen das andere auszuspielen, zeugt wirklich von völliger Unkenntnis. Beratungslehrkräfte, die Sie immer wieder anführen, brauchen die qualifizierte Schulpsychologie im Hindergrund. Beratungslehrkräfte, auch wenn sie eine aufwendige Ausbildung durchlaufen, sind keine billigen Ersatzpsychologen.

Mit der Reduzierung der für Beratung zur Verfügung stehenden Stunden von fünf auf drei Stunden, die Sie, glaube ich, 2004 vorgenommen haben, haben Sie einen riesigen Fehler gemacht, den Sie unbedingt korrigieren müssen. Fangen Sie wenigstens da an zu korrigieren!

Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Fraktion der Grünen hat zum Haushalt 2010 den Antrag eingebracht, die Zahl der Schulpsychologen auf mindestens 90 aufzustocken. Wir werden in den nächsten Jahren bis zu den angesprochenen 250 weitergehen müssen. Der Antrag der SPD-Fraktion für 60 neue Schulpsychologinnen und -psychologen ist ein erster richtiger Schritt in diese Richtung. Wir werden ihm deshalb zustimmen. Es gibt keine andere Wahl. Sie müssen dem eigentlich folgen.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Nächste Rednerin ist Frau Reichwaldt für die Fraktion DIE LINKE. Bitte sehr!

(Beifall bei der LINKEN)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In dem Antrag der SPD-Fraktion, über den wir heute zu entscheiden haben, werden Forderungen für die Schulpsychologie in Niedersachsen aufgestellt, um ein Mindestangebot an Schulpsychologie zu sichern. Niedersachsen verfügt gegenwärtig über 50 Planstellen, von denen allerdings nur 38 besetzt sind. Das heißt: Schulpsychologie ist de facto nicht vorhanden, da nicht spürbar.

Ich zitiere aus der Vorstellung des Gutachtens von Professor Dollase für die GEW im Februar dieses Jahres:

„Damit im Schulsystem die Arbeit der Schulpsychologie für Lehrkräfte, Schülerinnen und Eltern wirksam werden kann, ist eine … Mindestgröße an schulpsychologischer Versorgung notwendig.“

Das Gutachten empfiehlt eine Relation von 5 000 Schülern pro Schulpsychologen. Der Bundesdurchschnitt liegt bei 1 : 26 000. Niedersachsen ist dabei mit 1 : über 30 000 am Ende dieser Skala. Auch wenn man die Aufgaben der Schulpsychologie auf rein systemische Aufgaben reduzieren sollte, reicht eine Anzahl von 50 Stellen auf keinen

Fall aus, nicht einmal um z. B. die Qualifizierung von Beratungslehrerinnen und -lehrern zu sichern.

Handlungsbedarf besteht nicht erst seit heute. Die Klagen über den Zustand der niedersächsischen Schulpsychologie erreichen uns seit Beginn dieser Legislaturperiode.

Professor Dollase empfiehlt in seinem Gutachten 250 Schulpsychologen für Niedersachsen, die orts- und schulnah organisiert sein müssen. Wir gehen weiter. Langfristiges Ziel muss es sein, dass sich ein Schulpsychologe im Durchschnitt um etwa vier Schulen kümmert. Derzeit sind es fast 90. Hochgerechnet entspräche unsere Forderung 800 Psychologen.