Protocol of the Session on February 18, 2010

(Beifall bei den GRÜNEN)

Die pflegerische Versorgung ist ein selbstverantwortlicher und eigenständiger Bereich des Gesundheitswesens. Die in der Pflege Beschäftigten sind vielfältig qualifiziert und üben ganz neue, ganz andere Aufgaben als früher aus. Dennoch sind die Pflegeberufe noch immer nicht gleichberechtigt mit den akademischen Heilberufen in den gesundheits- und sozialpolitischen Diskurs eingebunden und an entsprechenden Entscheidungen beteiligt.

Meine Damen und Herren, die hohen Anforderungen, die sich aus der täglichen Pflegerealität ergeben, und die notwendigen Maßstäbe und Standards, die das Recht, die Würde und die Selbstbestimmung der zu pflegenden Menschen für die Arbeit vorgeben, finden kaum eine Entsprechung im rechtlichen und auch im gesellschaftlichen Status von Pflegekräften. Dabei hat sich die Pflege längst von der tradierten Unterordnung unter die Ärzteschaft emanzipiert. Längst ist die Pflege akademisiert. Seit Jahren sprechen sich alle pflegerischen Berufsorganisationen deutlich und kontinuierlich für eine pflegerische Selbstverwaltung aus.

Dies ist der Anlass, warum wir heute einen Gesetzentwurf vorlegen, mit dem eine Pflegekammer in Niedersachsen errichtet werden soll. Die Gründe, warum wir es für notwendig halten, den Pflegeberufen in Niedersachsen mehr Selbstständig

keit und eine eigene Berufsvertretung zu geben, sind vielfältig.

Die Pflegeberufe müssen endlich aus den tradierten Unterordnungsstrukturen gegenüber der Ärzteschaft herausgeführt werden.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Pflege hat heute eine eigene wissenschaftliche Grundlage, sodass pflegerisches und ärztliches Handeln gleichberechtigt zum Wohl der Patientinnen und Patienten nebeneinander zu stehen haben. In weiten Bereichen agiert die Pflege heute ohnehin völlig unabhängig von ärztlichen Vorgaben. Mit der Pflegeversicherung hat die Pflege sogar eine eigene finanzielle Grundlage erhalten. Heute gibt es Einrichtungen, die von Pflegekräften geleitet und eigenständig geführt werden. Pflegekräfte erbringen ihre Leistungen auf der Basis ihrer eigenen pflegewissenschaftlichen Grundlagen, und sie verantworten das, was sie tun, selbst. Darüber hinaus gibt es eine Reihe von Spezialisierungen in der Pflege, die nur in einem gleichberechtigten Kooperationsmodell sinnvoll umgesetzt werden können.

Meine Damen und Herren, nun gibt es Kritiker, die sagen: Kammern sind nicht mehr zeitgemäß. - Dieses Argument kann ich nur ernst nehmen, wenn diese Menschen gleichzeitig Initiativen ergreifen, um die bestehenden Kammern abzuschaffen; denn dann sind auch sie nicht mehr zeitgemäß.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Für einen anderen Berufsstand, der bis dato lediglich im Delegationsverfahren gearbeitet hatte, wurde übrigens noch im Jahr 2000 eine Kammer in Niedersachsen errichtet, nämlich für die Psychotherapeuten. Dieses Recht sollten wir der ungleich größeren Gruppe der Pflegenden nicht vorenthalten.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Kritik, meine Damen und Herren, gibt es auch von der Gewerkschaft. Aber aus meiner Sicht gibt es an dieser Stelle überhaupt keine Konkurrenz; denn die Pflegekammer erfüllt keine gewerkschaftlichen Aufgaben. Sie ist konzipiert - und nur da hat sie ihre Bedeutung - als eine Kammer, die die berufsrechtlichen Angelegenheiten des Berufsstands der Pflegenden regelt.

Schließlich gibt es diejenigen, die sagen, das mit einer Zwangsmitgliedschaft sei schwierig. So hat sich auch das Ministerium geäußert. Wenn, dann gilt das aber für alle Kammern und nicht nur für die Pflegeberufe. Darüber hinaus liegt eine ganze Reihe von verfassungsrechtlichen Gutachten vor, die diese Bedenken entkräften. Und - dies halte ich für wichtig; da wären wir auch nicht dabei - eine eigene Altersversorgung streben die Pflegeberufe ausdrücklich nicht an; sie wollen sich der Solidarität an dieser Stelle nicht entziehen.

Meine Damen und Herren, die Pflegeberufe wollen endlich ihre Angelegenheiten in die eigene Hand nehmen. Es wird Zeit, dass der Gesetzgeber es ihnen ermöglicht.

Die pflegerische Versorgung der Bevölkerung ist ein staatlicher Auftrag an die professionelle Pflege. Pflege ist gerade auch vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung ein zentraler und unentbehrlicher Faktor im Gesundheitswesen, nicht zuletzt um der in Zukunft mit Sicherheit zunehmenden Laienpflege Unterstützung und Anleitung zu geben.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Die Pflegekräfte in Niedersachsen, vertreten durch den Niedersächsischen Pflegerat und den Förderverein zur Errichtung einer Pflegekammer, deren Vertreterinnen ich hier im Hause sehr herzlich begrüße, sind bereit, diesen Auftrag anzunehmen. Sie sehen es als ihre Aufgabe an, die Bevölkerung vor gesundheitlichen Schäden und Nachteilen durch unsachgemäße Pflege zu schützen. Sie wollen bei allen Gesetzgebungsverfahren, die die Pflege betreffen, beteiligt werden. Sie wollen als Berufsstand selbst Sachverständige sein und Gutachtertätigkeiten ausführen. Sie wollen eine Berufsethik für die Pflegenden festlegen und durchsetzen. Sie wollen die berufliche Bildung und Weiterbildung der Pflegenden selbst regeln. Sie wollen die Pflegenden registrieren und die berufsfachliche Kontrolle der Kammermitglieder selbst durchführen. Damit wird der Berufsstand selbst die sachgemäße pflegerische Versorgung der Bevölkerung gewährleisten. Und wer sollte das eigentlich besser können als die Pflegekräfte selbst? - Es wird Zeit, dass die kompetenten Fachleute für Pflege endlich wahrgenommen werden und ihre Interessen selbst vertreten können.

Meine Damen und Herren, die Pflege braucht keine Imagekampagnen mehr. Sie braucht keine warmen Worte. Wenn Sie der Pflege Anerkennung und die ihr angemessene gesellschaftliche Stel

lung verschaffen wollen, dann unterstützen Sie unseren Gesetzentwurf!

Herzlichen Dank.

(Lebhafter Beifall bei den GRÜNEN)

Der Antrag mit dem Titel „Attraktivität der Pflegeberufe steigern - Pflegekammer einrichten“ wird von Herrn Schwarz von der SPD-Fraktion eingebracht. Herr Schwarz, ich erteile Ihnen das Wort.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die wachsende Zahl von älteren und irgendwann auch pflegebedürftigen Menschen ist Auftrag an uns alle. Für die Pflegebedürftigen benötigen wir gut ausgebildeten Pflegerinnen- und Pflegernachwuchs. Wir brauchen ein positives Bild von der älter werdenden Gesellschaft. - Dies schrieb die niedersächsische Sozialministerin in einer Pressemitteilung am 19. Dezember 2008. Ich finde, die Formulierungen der Pressestelle des Sozialministeriums sind zweifellos alle richtig. Leider hat der Pressesprecher an dieser Stelle aber wieder einmal die Rechnung ohne die Wirtin, sprich: die Ministerin, gemacht. Denn gerade bei dem Thema „Situation und Zukunft der Pflege“ versagen diese Landesregierung und dieses Sozialministerium seit Regierungsantritt vollständig.

(Beifall bei der SPD und Zustimmung bei der LINKEN)

Die Landesregierung hat in ihrer bisherigen Amtszeit beim Thema „Pflege“ überwiegend mit Kürzungen und leeren Ankündigungen geglänzt. Ich rufe in Erinnerung: 2003: Abschaffung von Investitionskosten in der stationären Pflege, 12 000 Pflegebedürftige wurden in die Sozialhilfe abgeschoben. 2010: Kürzungen im Bereich der ambulanten Pflege um 20 %. 2009: Kurz vor Toresschluss der auslaufenden Investitionsförderung für Pflegestützpunkte war diese Landesregierung eine der letzten unter den Landesregierungen, die Pflegestützpunkte auf den Weg gebracht haben. Ich nenne des Weiteren die Abschaffung der Umlagefinanzierung in der Altenpflegeausbildung. Aktuell sind Sie seit dem 1. Januar 2007, also seit mehr als drei Jahren, nicht in der Lage, dem Landtag endlich das in Ihrer Verantwortung liegende Heimgesetz vorzulegen. Ich finde, das ist eine Bankrotterklärung erster Güte.

(Beifall bei der SPD)

Dieses Heimgesetz soll wichtige Faktoren regeln: Fachkräftequote, alternative Wohnformen, Heimaufsicht und vor allen Dingen die Frage des Selbstbestimmungsrechtes für Pflegebedürftige. Nichts passiert!

(Norbert Böhlke [CDU]: Wir sind doch nicht in einem rechtsfreien Raum!)

Trotz dieser Negativbilanz erklärte die Ministerin im Dezember 2009: Das Thema Pflege wird eines meiner Schwerpunktthemen der nächsten Jahre. - Meine Damen und Herren, ich mag gar nicht darüber nachdenken, was eigentlich bei den Themen passiert, die die Ministerin nicht zur Herzensangelegenheit erklärt hat. Da kann einem eigentlich nur angst und bange werden.

(Beifall bei der SPD)

Niedersachsen ist bekanntlich seit Jahren bundesweit das Schlusslicht, wenn es um das Thema Altenpflege geht, und zwar zulasten der Pflegebedürftigen, der Einrichtungsträger und vor allem der Beschäftigten in den Pflegeberufen.

(Norbert Böhlke [CDU]: Das stimmt doch gar nicht!)

Seit Jahren werden wir darauf hingewiesen, dass wir auf dem letzten Platz stehen. Herr Böhlke, ich weiß, dass Sie lesefähig sind. Deshalb wissen Sie genau, dass das überall so beschrieben wird. Ich finde, es ist nicht länger zu akzeptieren, dass diese Position auf dem Rücken der zu Pflegenden und der Pflegenden in Niedersachsen ausgetragen wird.

(Lebhafter Beifall bei der SPD)

In Niedersachsen ist es bei dem Thema Pflege nicht fünf vor zwölf, sondern schon deutlich nach zwölf.

Die Realität in Niedersachsen ist geprägt durch einen dramatischen Mangel an Nachwuchskräften, Lohndumping, Tarifflucht sowie einen ruinösen Preiswettbewerb zwischen den einzelnen Trägern in der Pflege.

(Norbert Böhlke [CDU]: In den ande- ren Bundesländern nicht?)

- Nicht in diesem Ausmaß. Das habe ich gerade gesagt. Lesen Sie es doch einfach einmal nach! Es würde auch Ihnen helfen, ein bisschen mehr bei der Bildung voranzukommen.

(Norbert Böhlke [CDU]: Ich kann lesen und ich lese!)

Wenn Sie der Opposition schon nicht glauben - Sie glauben ihr ja nicht -, dann kann Ihnen aber doch nicht verborgen bleiben, dass die Unruhe in der Öffentlichkeit rasant zunimmt. Ich rufe in Erinnerung: 2008: Proteste der katholischen Bischöfe - diese müssten auch die Regierungsfraktionen erreicht haben -, Pflegealarm bei der Caritas, umstrittener Notverkauf von fünf Caritas-Einrichtungen in Hannover im Jahre 2009. 2009 und 2010: intensive Pflegekampagne der Diakonie, Hilferufe der Arbeiterwohlfahrt, Vorstöße der Sozialverbände, der Altenpflegeschulen und des Niedersächsischen Pflegerates. Sie haben alle genug von den bunten Bildern der Ministerin, von symbolischen Pflegepaketen in der Weihnachtszeit, die sich als Attrappe entpuppen. Sie wollen endlich arbeiten und Leistungen sehen.

(Beifall bei der SPD)

Seit der Vorlage des Landespflegeberichtes 2005 - das ist also auch schon fünf Jahre her - und des Abschlussberichtes der Enquetekommission „Demografischer Wandel“ liegen diesem Landtag alle Fakten über die Entwicklungen vor. Die Zahl der betroffenen Menschen in Niedersachsen wird von 220 000 Pflegebedürftigen im Jahre 2003 in den Jahren bis 2020 um über 25 % ansteigen. In der ambulanten Pflege wird sie übrigens um bis zu 80 % ansteigen.

Die Attraktivität und Akzeptanz der Pflegeberufe ist deutlich gesunken. Wir verzeichnen einen zunehmenden Fachkräftemangel. Pflegedienstleitungen sind in der Szene überhaupt nicht zu bekommen - und wenn, dann zu einem Preis, der durch noch schlechtere Bezahlung der anderen Pflegekräfte wieder eingespielt werden muss. Vor allem gibt es viel zu wenig Nachwuchs und Praxisplätze in der Altenpflegeausbildung. Laut Hinweis aller Fachverbände steuern wir nicht in einen Pflegenotstand, sondern wir sind schon mittendrin. Die Dramatik wird in den nächsten Jahren rasant zunehmen. Nur bei Frau Ross-Luttmann erscheint das Thema Pflege immer noch in Rosarot oder in Himmelblau, ganz wie es ihr beliebt.

Gleichermaßen entrückt fällt in dieser Situation, wie ich finde, der Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen aus. CDU und FDP stellen in dem zur Abstimmung anstehenden Antrag fest - ich zitiere -:

„Die Landesregierung wird gebeten, bis zum 01.11.2010 ein Konzept zur Weiterentwicklung der Pflegeausbildung vorzulegen...“

Wenn wir eines in Niedersachsen wirklich überhaupt nicht haben, so ist es ein Erkenntnisdefizit. Was wir hier haben, ist ein dramatisches Handlungsdefizit dieser Landesregierung.

(Lebhafter Beifall bei der SPD)

Ich finde, ein solcher Antrag, wie er heute hier vorliegt, kann bei großen Teilen der Beschäftigten und im Übrigen auch bei den Trägern von Pflegeeinrichtungen eigentlich nur wie eine Provokation wirken. Er wirkt übrigens auch so.

Es ist daher folgerichtig und nachvollziehbar, dass die 130 000 Beschäftigten in den Pflegeberufen in Niedersachsen jeden Glauben an die Ernsthaftigkeit der politisch Verantwortlichen verloren haben und mit Nachdruck die Einrichtung einer Pflegekammer fordern.

(Norbert Böhlke [CDU]: Das wün- schen Sie sich! Das ist nicht so!)