Protocol of the Session on February 17, 2010

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Humke-Focks, ich glaube, der Rest des Hauses ist sich einig, dass Ihr Redebeitrag zu dieser Aktuellen Stunde der Frage, um die es hier geht, in keinster Weise gerecht geworden ist.

(Zustimmung bei der CDU und bei der FDP)

Ich möchte mich bei diesem Punkt der Aktuellen Stunde vor allem sachlich damit auseinandersetzen, was notwendig ist, um dem Verfassungsgerichtsurteil vom 9. Februar tatsächlich gerecht zu werden. Das Bundesverfassungsgericht hat dem Gesetzgeber aufgegeben, die Vorschriften zur Berechnung der Leistungen neu zu fassen. Wichtig ist: Nicht die Höhe der Regelsätze wurde beanstandet, wohl aber die Berechnungsgrundlage für die Regelsätze. Laut Bundesverfassungsgericht wurden die Regelsätze zum Teil „nicht in verfassungsgemäßer Weise ermittelt“. Insbesondere wurden sie nicht individuell genug für die jeweilige Situation von Familien mit Kindern berechnet.

Um es klar zu sagen, Herr Jüttner, Herr Wenzel: Dieses Urteil ist eine Ohrfeige für SPD und Grüne; denn das Bundesverfassungsgericht hat Ihnen ins Stammbuch geschrieben, dass Ihre Kollegen in Berlin dieses Gesetz schlicht schlampig formuliert und ausgestaltet haben.

(Zustimmung bei der CDU und bei der FDP - Hans-Henning Adler [LINKE]: Sie haben doch zugestimmt! - Ursula Helmhold [GRÜNE]: Wer war denn da dabei? - Wolfgang Jüttner [SPD]: Das war eine harte Nacht im Vermittlungs- ausschuss!)

- Ich komme gleich noch dazu. Dabei haben Sie, Herr Will, vorhin nämlich einen großen Irrtum begangen.

Aus der Sicht der CDU-Fraktion im Niedersächsischen Landtag möchte ich in diesem Zusammenhang zunächst eines feststellen: Wir sind sehr dankbar für das besonnene Vorgehen unserer Bundesministerin für Arbeit und Soziales. Ursula von der Leyen hat von Anfang an deutlich gemacht, dass das Urteil des Verfassungsgerichts zunächst in allen Teilen bewertet werden muss, dass dann Schlüsse gezogen werden und dass in diesem Urteil vor allem die Chance liegt, erkennbare Fehlentwicklungen der Hartz-IV-Gesetze, insbesondere für Kinder und Jugendliche, zu korrigieren. Meine Damen und Herren, das ist richtig so. Genau so muss man das machen.

(Zustimmung bei der CDU)

In einem ersten Schritt hat die Ministerin mit ihrem Ministerium eine Positiv-Negativ-Liste zu Härtefallregelungen für unumgänglich notwendige Ausgaben, die vom durchschnittlichen Bedarf abweichen,

herausgegeben. Damit hat sie gestern gemeinsam mit der Agentur für Arbeit in diesem Bereich für Klarheit gesorgt. Jetzt geht es darum, die Abschläge und Kürzungen bei einzelnen Positionen der Einkommens- und Verbrauchsstichproben künftig nicht mehr zu schätzen, sondern genau zu begründen. Des Weiteren hat das Gericht festgestellt, dass Regelsätze für Kinder nicht einfach prozentual von den Erwachsenenregelsätzen abgeleitet werden dürfen. Sie müssen eigenständig ermittelt werden und besondere Bedürfnisse von Kindern berücksichtigen. Außerdem müssen die jährlichen Anpassungen der Regelsätze neu berechnet werden. Diese Hausaufgaben sind jetzt zu erledigen, und zwar innerhalb eines sehr schmalen Zeitfensters; denn das Ganze muss zum 1. Januar 2011 in Kraft treten und umgesetzt werden können.

Die bisherige Höhe der Regelsätze - ich will das ausdrücklich noch einmal betonen; denn der Antrag zur Aktuellen Stunde, so wie sie angemeldet worden ist, zeigt, dass das offensichtlich nicht verstanden wurde - wurde nicht für unzureichend erklärt. Es ist völlig offen, ob die Regelsätze bei einem individuellen Berechnungsverfahren gravierend anders ausfallen als jetzt. Alle diejenigen, die jetzt herausposaunen, die Sätze würden steigen oder sinken, sind respektlos gegenüber dem Verfassungsgerichtsurteil.

(Zurufe von der LINKEN)

Denn das Urteil hat gezeigt, dass man nicht hastig rechnen darf, dass man in der Vergangenheit nicht genau hingeschaut hat. Jetzt muss dafür gesorgt werden, dass eine neue und vom Grundsatz her korrekte Berechnung erfolgt. Diese muss am Beginn stehen. Erst danach kann man sich über die Höhen unterhalten.

(Beifall bei der CDU)

Es wäre vermessen, wenn man jetzt schon sagen würde, was am Ende dabei herauskommt.

Ich möchte darauf hinweisen, dass beispielsweise die Länder Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen mit einem Entschließungsantrag vom 23. Mai 2008 im Bundesrat durchgesetzt haben, dass sich die Bundesregierung unverzüglich mit der Neubemessung der Regelleistungen für Kinder nach dem SGB II sowie die Regelsätze nach dem SGB XII befasst. Wir haben das hier im Landtag mehrfach diskutiert. Die Sozialministerin hat das in der Sozialministerkonferenz eingebracht. Es gab dazu zwei Bundesratsinitiativen des Landes Niedersachsen. Es ist also falsch, so zu tun, als wäre diese Lan

desregierung für die aktuelle Höhe der Regelsätze zuständig und verantwortlich gewesen. Vielmehr waren es waren die SPD-Sozialminister und -Arbeitsminister, die dieses Thema versemmelt haben - um das ganz deutlich zu sagen.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Für die Zukunft, für das, was jetzt zu tun ist, will ich für die CDU-Fraktion feststellen, dass wir dafür eintreten werden, dass besonders der Bedarf der Kinder im Bereich der Bildung bei der Neubemessung angemessen berücksichtigt wird. Das gilt u. a. für die Mittagsverpflegung, für die Beschaffung besonderer Lehrmittel, für Klassenfahrten usw.

(Kurt Herzog [LINKE]: Das war doch vorher schon klar!)

Unsere Kinder brauchen bessere Teilhabechancen. Genau das ist auch der Ansatz der Bundesratsinitiative dieser Landesregierung gewesen, Herr Herzog. Ich bitte Sie, das zur Kenntnis zu nehmen.

(Zustimmung bei der CDU)

Allerdings sage ich auch: Wir werden diejenigen Familien im Blick behalten, die trotz harter Arbeit mit einem niedrigen Einkommen zurechtkommen müssen. In diesem Zusammenhang wurde häufig die Frage gestellt, wie man das Problem lösen will, dass Hartz-IV-Familien zum Teil mehr Geld bekommen als andere, die für ihren Lebensunterhalt arbeiten. Daher muss gelten: Der Regelsatz für Kinder, der Kinderzuschlag und das Kindergeld müssen stets im Zusammenhang gesehen werden. Das Lohnabstandsgebot ist einzuhalten. Wir sind uns sicher, dass dieses Thema bei Ursula von der Leyen in den besten Händen ist.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Meine Damen und Herren, ich rufe jetzt Frau Helmhold von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dass die Regelsätze nicht ausreichen und insbesondere für Kinder falsch berechnet sind, ist seit Jahren bekannt. Im Kern ist das der historischen Ableitung aus den Erwachsenensätzen ge

schuldet. Seit Einführung des BSHG 1961 ist das so.

Was bei der Festlegung der Regelsätze im Verfahren der Hartz-IV-Gesetzgebung passiert ist, ist eine - das muss ich wirklich sagen - nicht rühmliche Gemeinschaftsleistung aller Parteien gewesen. Sie sind im Vermittlungsausschuss sehr wohl dabei gewesen. Aus Niedersachsen war Ursula von der Leyen dabei. Ihre Vertretung war Walter Hirche. Alle CDU-Ministerpräsidenten haben dort gesessen. Dieses Gesetzeswerk ist ein Gemeinschaftswerk gewesen. Ich erinnere insbesondere an die Stelle, an der Sie im Vermittlungsausschuss immer noch verschlechtern und verschlechtern wollten.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Im Gegensatz zu Ihnen haben wir allerdings aus den entsprechenden Veröffentlichungen der Statistiker und den Warnungen der Sozialverbände unsere Schlüsse gezogen.

(Zuruf von Norbert Böhlke [CDU])

Seit Jahren fordern wir Änderungen. Auch hier im Landtag haben wir in den Jahren 2007, 2008 und 2009 - Herr Thiele hat das eben gesagt - über dieses Thema diskutiert, und zwar auf Antrag der Grünen. Wir haben auf Abhilfe gedrängt. Sie haben sich dem Problem sehr lange verweigert und es dann im Bundesrat auf die lange Bank geschoben - einfach ausgesessen und gewartet, was das Verfassungsgericht sagt. Was jetzt passieren muss, hätte doch schon längst passieren können. Die Große Koalition und auch Schwarz-Gelb haben das Problem aber ausgesessen. In Ihrem Koalitionsvertrag - das hat mich wirklich erstaunt - steht zu diesem ganzen Thema nicht ein einziges Wort. Das ist ein wirkliches Armutszeugnis.

(Zustimmung bei den GRÜNEN)

Bei Ihren ersten Handlungen haben Sie den Betroffenen nicht einmal die Kindergelderhöhung gegönnt. Mit Ihrem 40-20-0-Programm - d. h. 40 Euro für die Kinder der Reichen, 20 Euro für die Kinder der anderen, 0 Euro für die Kinder der Armen - haben Sie wieder einmal gezeigt, wo Ihr sozialpolitischer Ehrgeiz liegt, nämlich bei null.

(Zustimmung bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Meine Damen und Herren, unter null - eigentlich im geistigen Nirwana, wie ich finde - liegen nun die Äußerungen des FDP-Vorsitzenden zum Urteil des

Bundesverfassungsgerichts. Dass er den Sozialismus dräuen sieht, mag man ja noch als Griff in die Mottenkiste hinnehmen. Aber Guido Westerwelle attackiert mit seinen unablässigen Pöbeleien gegen Transferempfänger doch wirklich den Sozialstaat selbst. Droht uns von Hartz-IV-Beziehern wirklich der Untergang? - Nein, meine Damen und Herren, ich sage Ihnen einmal, wer den Sozialstaat bedroht: Das sind Banker, die nach der Krise sofort wieder angefangen haben, sich fette Boni einzustreichen. Das sind die Steuerhinterzieher, die gerne die Infrastruktur des Staates benutzen, aber ungern einen Beitrag dazu leisten. Das sind Subventionsbetrüger und Arbeitgeber, die ihren Beschäftigten Hungerlöhne bezahlen.

(Zustimmung bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Davon allerdings sprechen die Liberalen hier im Land sehr ungern. Von geistig-politischer Leere sprach Bernd Ulrich in der Zeit. Das, finde ich, ist ein richtiger Befund.

Meine Damen und Herren, wenn ich mich zurzeit umsehe oder mir Talkshows ansehe, dann sehe ich Heerscharen von jungen und noch nicht alten Männern in der FDP, mit Laptops und anderer elektronischer Kavallerie ausgestattet, die über eine Leistung schwadronieren, die viele von ihnen in ihrem Leben selbst noch nicht abgeliefert haben,

(Lebhafter Beifall bei den GRÜNEN, bei der SPD und bei der LINKEN)

die aber leichtfertig den Sozialstaat attackieren und mit ihrem Bild vom gefräßigen Staat geradezu zur Steuerhinterziehung herausfordern. Ich, meine Damen und Herren, bin der festen Überzeugung, dass die wichtigste Verständigung über den Sozialstaat, die es in Deutschland jahrzehntelang gab, lautet: Starke Schultern können und müssen mehr tragen als schwache. - Das darf nicht leichtfertig aufgekündigt werden.

(Beifall bei den GRÜNEN, bei der SPD und bei der LINKEN)

Für eine geistig-politische und, wie ich finde, auch moralische Leere spricht auch, dass Teile von Union und FDP jetzt sogar die Regelsätze senken wollen und dabei mit dem Lohnabstandsgebot argumentieren. Das ist unglaublich.

(Zustimmung von Wolfgang Jüttner [SPD])

Mit Ihrer Verweigerung von Mindestlöhnen lassen Sie die Löhne ins Bodenlose fallen. Damit begrün

den Sie dann, dass die Transferleistungen aus Ihrer Sicht noch darunter liegen sollen. Das ist eine Verhöhnung der Betroffenen. Es ist auch eine Missachtung des höchsten Gerichts. Denn die uns gestellte Aufgabe lautet doch: Stellt in einem transparenten Verfahren die notwendige Höhe des soziokulturellen Existenzminimums fest. Auf dieser Grundlage müssen wir dann über das Lohnabstandsgebot reden.

In den letzten Tagen ist klar geworden, dass Ihre Träume, meine Damen und Herren von der FDP, jetzt ausgeträumt sind. Offensichtlich will eine Mehrheit in dieser Republik nicht zulassen, dass Steuersenkungen für Reiche Gerechtigkeit für Arme blockieren. Bei einem Festhalten an Ihren Plänen werden Sie wohl nicht auf die Null-, aber sicher unter die Fünfprozentlinie rutschen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei den GRÜNEN, bei der SPD und bei der LINKEN)