Natürlich erschrecken uns Untersuchungen, nach denen das Wissen vieler Jugendlicher über die jüngste deutsche Geschichte äußerst lückenhaft ist. Es ist nicht hinzunehmen, dass Schülerinnen und Schüler die DDR verklären, Honecker für einen Musiker halten und nicht wissen, weshalb der 3. Oktober ein Feiertag ist. Aber was ist die Konsequenz daraus?
In Ihrem Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU und FDP, fordern Sie genügend Zeit für die Schulen, um dieses Thema vertieft und fächerübergreifend zu behandeln, um Fahrten zu Gedenkstätten zu unternehmen sowie Kontakte zur Bürgerrechtsbewegung zu knüpfen.
Sie sind uns aber eine Antwort auf die Frage schuldig geblieben, wie die Schulen das leisten sollen. Sie haben ein Schuljahr weniger durch G8, und in die verbleibende Schulzeit muss viel Stoff eingearbeitet werden: Wirtschaftswissen, Schüler
firmen, Gesundheitserziehung, Rechtsgrundlagen, Wettbewerbe aller Art, Vergleichsarbeiten - diesen ganzen Stoff müssen unsere Schülerinnen und Schüler in einer Stunde Geschichte und einer Stunde Politik pro Woche bewältigen, wenn es denn Lehrer dafür gibt.
Wir haben keine Antwort auf die Frage erhalten, warum dieses wichtige Thema nach sechs Jahren CDU/FDP-geführter Landesregierung nicht explizit aufgeführt wird, z. B. im Kerncurriculum Geschichte für Gymnasien. Sie hatten Zeit genug dafür.
Warum haben Sie uns eigentlich nicht die Formulierungen für das ab dem 1. August 2010 geltende Kerncurriculum für den zehnten Jahrgang vorgelegt, Frau Ministerin? Eine Bestandsaufnahme des Geschichts- und Politikunterrichts zu diesem Thema wäre interessant gewesen.
Die Landeszentrale für politische Bildung wollen Sie nicht wieder einführen, obwohl es Ihnen zu denken geben müsste, dass Ihnen kein anderes Bundesland bei der Abschaffung dieses wichtigen Bildungsinstituts gefolgt ist. Die Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit bietet beispielsweise zusammen mit Thüringen Lehrerseminare mit der Möglichkeit zum Austausch von Erfahrungen an - eine sehr gute Idee, wie ich meine.
Wer unterstützt eigentlich die Schulen beim Aufbau von Kontakten zur Bürgerrechtsbewegung oder beim Aufbau von Klassenpartnerschaften zu Schulklassen in den neuen Bundesländern?
Antworten auf diese Fragen sind Sie schuldig geblieben, meine Damen und Herren. Entschließungsanträge dieser Art dienen vielleicht der persönlichen Darstellung, aber helfen den Schulen nicht weiter.
Zu einer Kurzintervention hat sich Frau Kollegin Bertholdes-Sandrock von der CDU-Fraktion gemeldet. Sie haben exakt anderthalb Minuten.
Liebe Kollegin Weddige-Degenhard, ich kann damit leben, dass Ihnen meine Rede nicht gefällt. Ich stehe hier auch nicht in erster Linie, damit Sie mir applaudieren, sondern um mich ganz bestimmten Fragen zu widmen. Aber wenn Sie diese Sache als „Psychohygiene“ abtun und diskriminieren, dann wird ihr das nicht gerecht.
Ich habe sehr viele Fakten genannt, und Sie konnten nicht ein Faktum aus den Angeln heben. Der Kollege Bachmann war da sehr viel ehrlicher.
Ich sage Ihnen: Bei dem Thema geht es nicht nur um die Landeszentrale für politische Bildung, um Organisationsfragen, um die theoretische und praktische Rolle von Parteien, sondern es geht um die Frage, wie die Existenz der DDR das Leben und Schicksal von Millionen von Menschen über Jahrzehnte beeinflusst hat.
Politik ist mehr als das Trockene und Theoretische, was Sie anbieten. Ich möchte nicht, dass die Erfahrungen von Menschen verloren gehen, sondern ich möchte, dass die künftige Generation weiß, welchen Unrechtsstaat es auf deutschem Boden gab.
(Klaus-Peter Bachmann [SPD]: Sag ihr mal, dass ihr Lob mich in keinster Weise trifft! - Heiterkeit bei der SPD)
Frau Präsidentin! Liebe Kollegin BertholdesSandrock, ich erinnere noch einmal an den Titel Ihres Antrages. Wenn es Ihnen wirklich darum geht, was in den Schulen passiert, dann hätten wir darüber im Ausschuss diskutieren sollen. Ich stimme mit Ihnen in vielen Dingen, die Sie gesagt haben, überein. Aber die Aufarbeitung der DDRGeschichte ist nur das eine. Wie sie in den Schulen aufgearbeitet wird, ist das andere. Dazu brau
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ausgangspunkt des Entschließungsantrages ist eine Untersuchung der Freien Universität Berlin über das Wissen von Jugendlichen über die Zeit zwischen 1949 und 1989 - speziell über die DDR. Sie bezieht sich auf die sogenannte Schroeder-Studie. Dazu gibt es eine interessante Ausarbeitung von Professor Bodo von Borries, der diese Studie mit anderen Studien verglichen hat - er hat selbst auf diesem Gebiet geforscht - und der zu der Erkenntnis kommt, dass die Ergebnisse der Schroeder-Studie gar nicht so spektakulär sind, wie sie kommuniziert wurden. Ich zitiere von Seite 33:
„Das Wissen von Jugendlichen über ‚DDR-Geschichte’ und ‚BRD-Geschichte’ ist ziemlich gering … Das wäre allerdings bei anderen Themen (selbst NS, erst recht Kolonialge- schichte und Dekolonisation, Franzö- sische Revolution oder USA als Weltmacht) höchst wahrscheinlich nicht besser. Jedenfalls legen das alle älteren Befragungen nahe.“
„Mit einer gewissen Empörung nimmt die Studie von … Schroeder zur Kenntnis, dass Demokratie und Diktatur keine wirklich geläufigen und gefüllten Begriffe sind … Der bisherige Forschungsstand hätte - bei näherer Kenntnis … - genau das hergegeben. Seit den 60er-Jahren“
„ist bekannt, dass von gefestigter Demokratie-Überzeugung nicht die Rede sein kann. Gerade bei Hauptschülern fehlten die elementarsten Kenntnisse und Konzepte.“
„Übrigens gibt es auch in weiten Kreisen im Westen ein anhaltendes Desinteresse am Osten … und einen anhaltenden Überlegenheitsdünkel über die ostdeutschen Mitbürger(innen). Eben deshalb muss man die gerade getroffene Feststellung zunächst ergänzen, dass gleichzeitig mit der DDR-Aufarbeitung - in der Grundlage, nicht in den Durchführungsdetails - symmetrisch dazu auch die Aufarbeitung der BRD-Vergangenheit zur Debatte steht.“
Das, was in der DDR an Unrecht geschehen ist, soll nach unserer Auffassung nicht relativiert werden. Wir sind aber für ein vollständiges Bild. Dazu will ich Ihnen einige Punkte nennen:
Schon vor dem KPD-Verbot wurden in der westdeutschen Bundesrepublik Kommunisten wegen ihrer Betätigung für die KPD in Gefängnisse eingesperrt. Das hat das Bundesverfassungsgericht später als verfassungswidrig gegeißelt. Da waren die Haftzeiten aber schon abgesessen, und eine Haftentschädigung gab es nicht. Nach dem KPDVerbot wurden politische Betätigungen kriminalisiert. Zum Beispiel wurde eine Umfrage zur Remilitarisierung verboten und unter Strafe gestellt, und Kinderferienfahrten in die DDR zu organisieren, war höchst gefährlich. Man konnte dafür ins Gefängnis kommen.
Als die Generation der 68er-Studentenrevolte ins Berufsleben eingetreten war, gab es Berufsverbote, den bekannten Radikalenerlass. Unter anderem war dafür auch Bundeskanzler Brandt verantwortlich. Das hat er aber später als Fehler eingeräumt. Es gab die Regelanfrage auch in Niedersachsen, die eine ganze Generation verunsichert und eingeschüchtert hat. Es gab politische Verhöre hier im Innenministerium - ich habe sie selbst miterlebt. Die legale politische Betätigung wurde sanktioniert: die Teilnahme an Wahlen und Demonstrationen, die Unterschriften unter Friedensaufrufe. Wer Mit
glied der DKP war, sollte nicht Briefträger, Lokomotivführer, Lehrer oder - das kann ich für meine eigene Person bestätigen - Notar werden dürfen. Ministerpräsident Schröder hat diesen Spuk Gott sei dank beendet, als er hier Regierungsverantwortung übernommen hat.
Ich habe das alles angesprochen, um ein Bild der Vollständigkeit herzustellen; denn zu der Realität der DDR gehörte immer auch ein gewisses Gegenseitigkeitsverhältnis im Kalten Krieg.
(Ulf Thiele [CDU]: Sie haben zur DDR bisher nichts gesagt! - Das habe ich gesagt. (Ulf Thiele [CDU]: Sie haben über die Stasi-Verbrechen kein Wort verloren!)
Die Deutung der Vergangenheit - das muss ich in der kurzen verbleibenden Redezeit noch unterbringen -, dazu gehört auch die Bildung von Legenden, hat immer etwas mit Gegenwärtigem zu tun.
Wenn Sie - darauf hat auch Professor Borries hingewiesen - eine DDR-Nostalgie verhindern wollen, dann müssen Sie in erster Linie für soziale Gerechtigkeit eintreten und Sozialabbau bekämpfen.
Herzlichen Dank. - Zu einer Kurzintervention rufe ich Frau Kollegin Bertholdes-Sandrock von der CDU-Fraktion auf. Frau Bertholdes-Sandrock, Sie haben für anderthalb Minuten das Wort.