Protocol of the Session on June 17, 2009

(Beifall bei den GRÜNEN und Zu- stimmung von Jan-Christoph Oetjen [FDP])

Ich betone es noch einmal: Ich bin völlig bei Ihnen, dass wir die zivilgesellschaftlichen Aktivitäten stärken müssen. Wir brauchen lokale Initiativen und mobile Opferberatungsteams, die es zwar in den neuen Bundesländern, nicht aber in Niedersachsen gibt. Natürlich brauchen wir auch hier so etwas, gerade in den betroffenen Regionen. Aber wie gesagt: Die Polizei kann nicht immer das Allheilmittel vor Ort sein.

Zu den übrigen Punkten in dem Antrag, zum regelmäßigen Austausch der Ordnungsbehörden und zum Informationsaustausch möchte ich noch einen Aspekt anmerken: Wir haben in Deutschland aus gutem Grund eine föderalistisch organisierte Polizei. Natürlich ist es sinnvoll zu kooperieren. Aber durch die Hintertür einer immer engeren Vernetzung unserer organisatorischen Zusammenarbeit den Föderalismus schleichend auszuhebeln, halte ich auch vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte für eine sehr ungute Entwicklung, meine Damen und Herren.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei den GRÜNEN und Zu- stimmung von Jan-Christoph Oetjen [FDP])

Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor.

Ich schließe die Beratung.

Wir kommen zur Abstimmung.

Wer der Beschlussempfehlung des Ausschusses zustimmen und damit den Antrag der Fraktion DIE LINKE in der Drs. 16/1216 ablehnen möchte, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Das ist mit großer Mehrheit so beschlossen.

Meine Damen und Herren, ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 23 auf:

Zweite Beratung: Kinderarmut bekämpfen - Konkretes Handeln statt Ankündigungen und unverbindlicher Bundesratsentscheidungen - Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen - Drs. 16/429 - Beschlussempfehlung des Ausschusses für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit - Drs. 16/1357

Die Beschlussempfehlung lautet auf Annahme in geänderter Fassung.

Eine Berichterstattung ist nicht vorgesehen.

Wir kommen zur Beratung. Frau Helmhold von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat sich zu Wort gemeldet. Bitte, Frau Helmhold!

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Paritätische Wohlfahrtsverband hat es mit seinem Armutsatlas, der kürzlich veröffentlicht wurde, noch einmal auf den Punkt gebracht: Niedersachsen liegt, bezogen auf den bundesweiten Durchschnitt, mit einer Armutsquote von 15,5 % im oberen Drittel der westdeutschen Länder.

Unser heute abschließend zu behandelnder Entschließungsantrag zu diesem Thema ist schon ein paar Monate alt. In vielen Punkten mussten wir die Landesregierung und die Koalitionsfraktionen ein wenig zum Jagen tragen. Wir hatten, offen gesagt, eine Zeit lang das Gefühl, dass Sie das Problem aussitzen wollten. Aber Sie konnten es dann wohl doch nicht mehr ignorieren, insbesondere nach dem Urteil des Hessischen Landessozialgerichts, das unmissverständlich bekundet hat, dass die bisher willkürlich gesetzten Kinderregelsätze, die aus den Erwachsenenregelsätzen abgeleitet werden, mit den bestehenden Verfassungsgeboten nicht vereinbar sind. Dieses Urteil entspricht genau unserer langjährigen Forderung nach der längst überfälligen Neuberechnung der Regelsätze für Kinder und Jugendliche, die nicht mehr prozentual

weiter von Erwachsenenregelsätzen abgeleitet werden dürfen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Leider hat die Bundesregierung außer der Wiedereinführung der dritten Altersgruppe bei den Kinderregelsätzen bisher nichts getan, um diesem Urteil nachzukommen, sondern sie spielt auf Zeit. Das ist leider typisch für das Verhalten der Großen Koalition in dieser Frage. Somit wird bis zur Bundestagswahl wohl nichts mehr zu erwarten sein.

Aber auch die Landesregierung hat sich nicht zu einer eigenen Gesetzesinitiative im Bundesrat durchringen können. Es blieb bei dem schon bekannten kleinsten gemeinsamen Nenner, nämlich dem hier im Landtag bereits mehrfach erwähnten Entschließungsantrag vom 23. Mai 2008. Diese Entschließung hat der Bundesarbeitsminister aber schlicht ignoriert. Das kann er mit einer Entschließung machen. Deswegen haben wir immer gefordert - dies wäre noch immer ratsam -, eine Gesetzesinitiative im Bundesrat einzubringen. Diese würde den Bund nämlich zum Handeln zwingen. Auf eine Entschließung kann er sich, gelinde gesagt, ein Ei pellen.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der LINKEN)

Meine Damen und Herren, einiges von dem, was wir in unserem Entschließungsantrag gefordert haben, ist inzwischen umgesetzt worden. Darüber freuen wir uns natürlich; denn es bestätigt, dass es notwendig war, hier zu handeln, und dass wir mit unseren Forderungen richtig lagen. Ich erwähne die Fahrtkosten für bedürftige Schülerinnen und Schüler ab Klasse 11 und die Einführung des Schulstarterpakets durch die Bundesregierung. Ich erwähne auch, dass Sie den Mittagessenfonds im Haushalt 2009, nachdem Sie ihn erst herausgenommen haben, wieder hineingesetzt haben, zu unserem Leidwesen allerdings mit einer geringeren Summe. Wir hätten es gerne gesehen, wenn Sie unsere Anregung, den Zweck dieses Fonds zu erweitern und daraus auch die Kosten für aufwendige Lernmittel oder die Teilnahme an kulturellen Bildungsmaßnahmen zu ermöglichen, aufgegriffen hätten.

Meine Damen und Herren, Sie haben zu unserem Entschließungsantrag einen Änderungsvorschlag vorgelegt. Sie nehmen unsere Forderung auf, in das Sozialgesetzbuch II Öffnungsklauseln für besondere Bedarfe aufzunehmen. Das ist gut. Dann jedoch zählen Sie länglich alle möglichen Bündnis

se, Stiftungen und Programme auf, die auch nur entfernt irgendetwas mit Kindern oder Familien zu tun haben, u. a. das Programm „Familie mit Zukunft“, das sich mit Kinderbetreuung und Tagespflege beschäftigt. Das löst aber nicht das Grundproblem, auf das wir abstellen, nämlich dass Kinder ein Armutsrisiko sind, dass die Regelsätze zu niedrig sind und dass die Beibehaltung dieses Zustands immer mehr Kindern immer weiter ihrer Chancen beraubt.

Bezeichnenderweise haben Sie den im vergangenen Dezember aufgelegten Sonderfonds der Sozialministerin „DabeiSein!“ in Ihrer Aufzählung gar nicht erst erwähnt. Für jedes der über 200 000 in Niedersachsen in Armut lebenden Kinder unter 15 Jahren sind hier tatsächlich jährlich 1,25 Euro drin, allerdings erst nach einem bürokratischen Antragsverfahren. Es spricht für Sie, meine Damen und Herren Sozialpolitikerinnen und Sozialpolitiker der Koalitionsfraktionen, dass Sie dieses armselige Almosen in Ihrem Änderungsvorschlag schamhaft verschwiegen haben.

Darüber hinaus wollen Sie noch prüfen, ob Sachleistungen nicht besser geeignet sind, den Zweck zu erreichen, als Geldleistungen. Da sind wir bei Ihnen. Wir meinen aber, man muss das gar nicht prüfen. Wir wissen, dass ein pädagogisches Mittagessen, Lernmittelfreiheit und Ganztagsbetreuung in gut ausgestatteten Bildungseinrichtungen gut für die Entwicklung von Kindern sind. Darin sind wir mit Ihnen einig. Dies hätten wir mit Ihnen gerne schon sehr lange auch hier in Niedersachsen durchgesetzt.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Jedes fünfte Kind in Niedersachsen lebt in Armut. Die Tafeln schießen aus dem Boden, meine Damen und Herren. In Niedersachsen gibt es 90 Tafelvereine mit 57 Nebenstellen. Das heißt, es gibt 147 Ausgabestellen für Essen, ohne die insbesondere Bedürftige mit Kindern kaum noch über die Runden kommen würden. Denen hilft Ihr Änderungsvorschlag wenig. Deswegen werden wir ihm nicht zustimmen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der LINKEN)

Meine Damen und Herren, der nächste Redner ist Herr Humke-Focks von der Fraktion DIE LINKE. Bitte!

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mehr und mehr Kinder in Niedersachsen leben in bitterster Armut. Nach den jüngsten Angaben des Niedersächsischen Kinderschutzbundes sind es aktuell etwa 225 000 Kinder. Ich möchte Sie an dieser Stelle daran erinnern, was wir heute vor der Mittagspause mit der Verfassungsänderung beschlossen haben. Auch das hat etwas mit dem Schutz von Kindern zu tun, damit sie nicht in bitterste Armut abstürzen.

(Beifall bei der LINKEN)

Es ist schon zynisch: Wenn unter der Unterüberschrift des Änderungsvorschlags „Engagement fortführen, Chancengerechtigkeit verbessern“ geprüft werden soll, ob Sachleistungen und Gutscheinmodelle die Geldleistung ersetzen können, so lässt dies aus unserer Sicht tief blicken. Im „besten Fall“ bedienen Sie sich hier des populistischen Hebels des Bildes von Hartz-IV-Familien in schlechten Boulevardmagazinen, in denen Eltern rauchend und saufend vor ihren mit Krediten finanzierten Flachbildschirmen sitzen und dabei ihre Kinder vernachlässigen. Solch ein Bild zu vermitteln, ist aus unserer Sicht menschenverachtend.

(Beifall bei der LINKEN)

Nach Ihrer Logik würden Menschen, die in Armut leben, kostengünstig abgefüttert und eingekleidet werden, mehr nicht. Fest steht: Solche Politik will Armut nicht bekämpfen, sondern will sich mit der Armut längerfristig arrangieren. Diese Politik zeigt sich auch darin, dass Zigtausende von Euro in den Neubau von Gebäuden für die Tafeln gesteckt werden. Das heißt, Sie investieren mehr Geld in die Bekämpfung der Symptome als in die Bekämpfung der Ursache. Das lehnen wir ab.

(Beifall bei der LINKEN)

Damit haben Sie auch das Anliegen aus dem ursprünglichen Antrag von Bündnis 90/Die Grünen ad absurdum geführt. Nach einer ultimativen Lobhudelei kleinerer Sozialmaßnahmen in Niedersachsen wird die dringliche Forderung nach adäquaten Bedarfsbemessungen für Kinder und Jugendliche unter der Überschrift „Neue Grundlagen für eine verbesserte kinderspezifische Hilfe schaffen“ auf die Formulierung „Bedarfe gegebenenfalls anzupassen“ abgekürzt. Die Formulierung „gegebenenfalls“ ist völlig unangemessen, weil das Bundesverfassungsgericht im Januar dieses Jahres die Willkürlichkeit der bisherigen Bemessung der Regelsätze von Kindern gerügt und eine tatsächli

che bedarfsorientierte Neubemessung angeordnet hat.

Nach den bisherigen Regelsätzen stehen jedem Kind ganze 2 Euro für Schulmaterialien zur Verfügung. Der Deutsche Kinderschutzbund hat vorgerechnet, dass man davon genau einen Bleistift, vier Blatt Papier und einen Radiergummi kaufen kann.

Wir würden uns natürlich darüber freuen, wenn wir gemeinsam auch mit Ihnen als verantwortliche Parteien - schließlich haben wir heute eine Verfassungsänderung beschlossen, und immer wieder wird postuliert, die Kinderarmut ernsthaft bekämpfen zu wollen - endlich darangingen, an die Ursachen der stärker werdenden Armut heranzutreten und die Agenda 2010 zu Fall zu bringen, damit wir zu einer ernsthaften Armutsbekämpfung kommen können.

Die aktuelle Bilanz - ich komme gleich zum Schluss - der Kinderarmut in unserem Land ist dramatisch. Schon heute gehen Kinder trotz Fonds mit knurrendem Magen zur Schule. Bereits gestern wurden die Weichen zur Reproduktion von Armut gestellt, die nur unter größten Anstrengungen und unter der bedingungslosen Prämisse einer Umverteilung von oben nach unten wieder zu verändern sind.

(Glocke des Präsidenten)

- Ich komme zum Schluss. - Leider kann unsere Fraktion dem etwas seifigen Antrag der Regierungsfraktionen nicht zustimmen. Wir werden ihn ablehnen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)

Meine Damen und Herren, die nächste Rednerin ist Frau Meißner von der FDP-Fraktion.

(Dr. Manfred Sohn [LINKE]: Frau Meißner, ist das Ihre Schlussrede?)

Das ist die Drittletzte.

(Wolfgang Jüttner [SPD]: Bei der letz- ten Rede werden wir anstandshalber klatschen!)

- Ich finde es reizend, dass das jetzt schon in Aussicht gestellt wird.