Protocol of the Session on February 20, 2009

(Beifall bei der LINKEN)

Bevor Sie uns hier wieder Europafeindlichkeit vorwerfen, möchte ich Ihnen Folgendes sagen. Ein solcher Vorwurf wäre in etwa so zu bewerten wie die Situation, dass ich Ihnen ein Auto verkaufen will, das in Kinderarbeit hergestellt wurde aber einen schönen ökologischen Antrieb hat, und Ihnen dann, wenn Sie dieses Auto nicht kaufen wollen, vorwerfen würde, Sie seien umweltfeindlich und hätten generell etwas gegen Autos. Genauso blödsinnig ist das, was Sie uns vorwerfen, wenn wir auf sozialen Grundrechten in der EU bestehen.

(Beifall bei der LINKEN)

Lassen Sie das! Das ist unlauter, das ist absurd und das ist ganz schlechter politischer Stil.

In Ihrem Antrag steht übrigens noch mehr Falsches. Die Behauptung, dass Niedersachsen bei den erneuerbaren Energien in Deutschland an der Spitze steht, ist falsch. Herr Dürr hat diese Behauptung hier im letzten Jahr schon einmal aufgestellt. Sie wird nicht dadurch richtiger, dass sie hier wiederholt wird. Auch die von Ihnen erwähnte „20-20-20-Strategie“ ist bei Weitem nicht ausreichend, um der Klimakatastrophe gegenzusteuern. Alles in allem muss ich festhalten: Ihr Antrag ist nicht mehr wert als der Speicherplatz, den das entsprechende Textdokument kostet.

(Beifall bei der LINKEN)

Ob der erste Punkt in Ihrem Antrag, der sich auf ein soziales Europa bezieht, ernst gemeint ist oder ob es sich dabei nur um schöne Worte und Makulatur handelt, können Sie bei Ihrem Verhalten zu unserem Antrag zeigen, auf den ich jetzt zu sprechen komme. Der Titel unseres Antrages lautet „Für ein Europa der Menschen - Armut konsequent bekämpfen“. Dass Armut auch in wirtschaftlichen starken EU-Staaten ein wachsendes Problem ist, wissen wir alle.

(Vizepräsident Dieter Möhrmann übernimmt den Vorsitz)

Allein in den Jahren von 2001 bis 2005 ist die Zahl der Menschen, die in Europa in Armut leben oder von Armut bedroht sind, von 55 auf 78 Millionen gestiegen. Das ist von verschiedenen Regierungen der europäischen Einzelstaaten immer wieder thematisiert worden. Auch von EU-Gremien ist Armutsbekämpfung als politisches Ziel erklärt worden. Konkretisiert wurde das bisher aber leider nicht. Deswegen war es gut und richtig, dass sich das Europäische Parlament mit dem „Bericht über die Förderung der sozialen Integration und die Bekämpfung der Armut, einschließlich der Kinderarmut, in der EU“, dem sogenannten ZimmerBericht, beschäftigt hat. Dieser Bericht konkretisiert auf 37 Seiten das politische Ziel, Armut zu bekämpfen. Es geht dabei u. a. um Mindestlöhne und Mindesteinkommen. Ich freue mich sehr, dass dieser Bericht meiner Parteikollegin Gabriele Zimmer im Europaparlament eine beeindruckende Mehrheit gefunden hat.

(Beifall bei der LINKEN)

Von 629 abgegebenen Stimmen entfielen 540 auf diesen Bericht. 540 Abgeordnete haben mit Ja, also für diesen Bericht, gestimmt. Neben den Abgeordneten der Linken waren das auch die Abgeordneten von Bündnis 90/Die Grünen und von der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands im Europaparlament. Auch die Mehrheit der Abgeordneten Ihrer Partei, meine Damen und Herren von der CDU, hat für diesen Bericht gestimmt. Das finde ich äußerst erfreulich.

(Zuruf von der LINKEN: Es geht doch!)

Diejenigen, die dafür gestimmt haben, sind Ihnen weit voraus. Sie haben sich daran gewöhnt, dass von den Linken durchaus vernünftige Vorschläge kommen können. Auch Sie lernen das noch.

(Beifall bei der LINKEN)

Im Ausschuss für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten stimmten 46 von 48 Abgeordneten dafür. Ich stelle also eine erfreulich große Einigkeit im Hinblick auf die Inhalte des Zimmer-Berichtes fest, wobei ich die FDP natürlich nicht einbeziehen kann.

Wir haben eine Wirtschaftskrise. Das ist Grund genug, nicht zu warten, bis der Zimmer-Bericht vom Rat in konkrete Vorgaben umgesetzt wird. Auf solche Vorgaben muss man auf EU-Ebene

manchmal etwas länger warten. Es sollten auf der Grundlage dieses Berichts schon jetzt Maßnahmen ergriffen werden. Weil ich weiß, dass es Teilen dieses Hauses immer noch schwerfällt, auf uns zu hören, zitiere ich einmal aus der Financial Times Deutschland. In dem Artikel geht es um das deutsche Modell in der Krise. Am Schluss wird folgendes Fazit gezogen: Die Deutschen müssen ihr Wirtschaftsmodell dringend überholen. Wäre in den vergangenen Jahren nicht so vieles getan worden, was über Einkommensverzicht, Praxisgebühren oder Mehrwertsteuerrekordanhebungen die inländische Konjunkturdynamik gebremst hat, wären die Deutschen heute zwar etwas weniger wettbewerbsfähig. Sie hätten dafür aber eine viel solidere Binnenwirtschaft, um globale Schocks wie diesen abzufangen. Die Krise würde mit hoher Wahrscheinlichkeit deutlich weniger und nicht stärker reinhauen als bei anderen.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich komme zu der ersten Maßnahme, die wir in unserem Antrag vorschlagen. Die Landesregierung soll eine Bundesratsinitiative für einen gesetzlichen Mindestlohn ergreifen, der mindestens 60 % des nationalen Durchschnittslohns beträgt. Das ist eine Forderung aus dem Zimmer-Bericht, dem im Europaparlament fast alle zugestimmt haben.

(Zuruf von der CDU: Nein, das steht nicht darin!)

Was das für Deutschland in Zahlen bedeutet, will ich hier zur Orientierung einmal auf der Grundlage der Zahlen des Statistischen Bundesamtes aus dem Jahr 2006 abschätzen. Wir müssen uns hier über ein paar Euro nicht streiten. Es sind pro Monat um die 1 800 Euro für eine Vollzeitstelle. Das entspricht einem Stundenlohn von gut 10 Euro. Wir können im Ausschuss aber auch über die 9,71 Euro reden, die die Linke zurzeit fordert.

(Beifall bei der LINKEN)

Zweitens schlagen wir eine weitere Bundesratsinitiative vor, die Mindesteinkommenssysteme und beitragspflichtige Ersatzeinkommenssysteme auf ein Mindesteinkommen von 60 % des nationalen Medianäquivalenzeinkommens festlegt. Das betrifft das, war man umgangssprachlich Sozialhilfe, Arbeitslosengeld und Rente nennt. Nach dem sozioökonomischen Panel des DIW, das keine linke Kampforganisation ist, wären das ungefähr 880 Euro monatlich. Hier gilt analog zur ersten Maßnahme, untere Einkommen zu erhöhen. Das fördert direkt die Konjunktur; denn diese Menschen

geben dieses Geld direkt aus. Sie konnten sich schon bisher keine neue Schultasche für ihre Kinder leisten oder einmal im Restaurant essen oder ein paar Winterstiefel kaufen. Dieses Geld fließt direkt in die Wirtschaft.

Drittens fordern wir die Landesregierung auf, sich nachhaltig für die Beseitigung der Kinderarmut einzusetzen. Auch hierzu soll sie eine entsprechende Bundesratsinitiative ergreifen, damit Kinderarmut bis zum Jahr 2012 - wie im ZimmerBericht gefordert - um 50 % reduziert wird. Darüber hinaus wollen wir gewährleistet wissen, dass bis zum Jahr 2015 90 % aller Kinder bis zum Beginn der Schulpflicht in Betreuungseinrichtungen untergebracht werden können.

Weiterhin beantragen wir, dass sich die Landesregierung auch gegen die strukturellen Benachteiligungen von Frauen einsetzt. In den sozialen Sicherungssystemen werden sie nach wie vor benachteiligt. Seit Jahrzehnten stabil ist das deutlich schlechtere Lohngefüge der Frauen. Auch dagegen muss etwas getan werden.

In Anlehnung an Ziffer 44 des Zimmer-Berichts soll die Landesregierung die Abschaffung der EinEuro-Jobs in Niedersachsen umsetzen und sich auf Bundesebene entsprechend engagieren.

Meine Damen und Herren, ich möchte noch einmal betonen, dass mich sehr freut, welch große Einigkeit dieser Zimmer-Bericht zu den Themen Mindestlohn, Mindesteinkommen, Kinderarmut und Geschlechtergerechtigkeit im Europäischen Parlament hervorgerufen hat. Die Wirtschaftskrise ist da, es gibt dringenden Handlungsbedarf. Nach dem breiten Konsens im Europaparlament, der auch die Mehrheit der CDU-Abgeordneten umfasst, können wir die Dinge nun ja zusammen anpacken.

Im Sozialausschuss wird sicherlich eine konstruktive Debatte geführt. In der abschließenden Beratung hier im Plenum wird es dann sicherlich auch eine deutliche Mehrheit für diesen Antrag geben. Das ist gut für Niedersachsen, gut für Deutschland und gut für Europa.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der LINKEN und bei den GRÜNEN)

Herr Dr. Matthiesen hat das Wort zu einer Kurzintervention. Bitte!

Nur zu einem Punkt. - Vieles von dem, was Sie, Frau Flauger, hier zum Zimmer-Bericht vorgetragen haben, ist schief und krumm. Insbesondere gilt das für Ihre Anmerkungen zum gesetzlichen Mindestlohn. Sie haben hier eben gesagt, dass die Forderung nach einem nationalen gesetzlichen Mindestlohn beschlossen worden sei. Das aber trifft nicht zu. Vielmehr wird zwischen den unterschiedlichen Mindestlohnmodellen unterschieden. In dem besagten Bericht heißt es ausdrücklich, dass unser deutsches Modell, das wir mit dem Arbeitnehmerentsendegesetz gerade fortentwickeln, in Ordnung sei und dass die Regelung, nach der die von den Tarifparteien festgelegten Löhne durch die Bundesregierung per Rechtsverordnung für allgemein verbindlich zu erklären sind, im Sinne des Europäischen Parlaments sei. Insofern müssen Sie etwas besser aufpassen, wenn Sie hier über das reden, was vom Europaparlament beschlossen worden ist.

(Beifall bei der CDU)

Frau Flauger möchte antworten. Bitte!

Herr Dr. Matthiesen, wir können das gleich noch einmal im Detail nachlesen; denn ich habe den Bericht hier. Wir haben lediglich einen nationalen Mindestlohn gefordert. Wir haben uns aber nicht dazu geäußert, in welcher Form er eingeführt werden soll. Wir haben auch nicht gesagt, dass er bundesweit einheitlich sein soll. Das habe ich an dieser Stelle ausdrücklich nicht gesagt. Wir können aber gern über die Gestaltung reden. Unsere Forderung ist klar. Wir haben unsere Forderungen am Zimmer-Bericht orientiert. Wenn Sie jetzt aber sagen, dass wir es auch irgendwie anders hinkriegen können, dass hier in Deutschland alle Menschen mindestens 60 % des nationalen Durchschnittseinkommens aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erhalten, dann können wir gern darüber diskutieren. Mir scheint die beste Möglichkeit allerdings immer noch die zu sein, einen nationalen, bundesweit einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn zu schaffen. Für Alternativvorschläge sind wir an dieser Stelle aber offen.

(Beifall bei der LINKEN)

Meine Damen und Herren, nächste Rednerin ist Frau Polat von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionen! Herr Hogrefe, zunächst möchte ich auf den Antrag der Fraktionen von CDU und FDP „Eine Region stellt sich vor“ eingehen. Zum Thema Europa und Soziales liegen inzwischen drei Anträge vor, über die wir im Europaausschuss und im Sozialausschuss noch diskutieren werden.

Zunächst möchte ich mich bei Ihnen ausdrücklich für Ihren Entschließungsantrag bedanken. Wir haben uns wirklich köstlich amüsiert.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der LINKEN - Wilhelm Hogrefe [CDU]: Wir erfreuen Sie immer gern!)

Meine Damen und Herren, die Regierungsfraktionen, Herr Hogrefe, haben es wieder einmal geschafft, sich schon vor dem Ende der Karnevalszeit zum Jecken zu machen. Das meine ich jetzt aber freundschaftlich. Das neu gewählte Europäische Parlament als Adressat dieses Antrags wird sich ebenfalls freuen. Eines muss ich Ihnen zugestehen: Das Ziel, Niedersachsen mit diesem Text in Brüssel als Region unvergessen zu machen, werden Sie sicherlich erreichen.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der LINKEN)

Es wird aber so sein wie bei „Deutschland sucht den Superstar“: Es gibt diejenigen, die unvergesslich bleiben, weil sie ziemlich schräg sind, und es gibt diejenigen, die unvergesslich bleiben, weil sie ziemlich gut sind. Mit Ihrem Büttenantrag - es tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen - werden wir im Europäischen Parlament als schrägste Region in der Europäischen Union unvergessen bleiben.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der LINKEN)

Meine Damen und Herren, Sie werden nicht ernsthaft erwartet haben, dass wir diesen Antrag mittragen. Ihr Ziel - Herr Hogrefe hat das ausgeführt -, ein positives Bild von Europa ins Land zu bringen und an die Menschen heranzutragen und so für die Wahl im Juni zu werben, werden Sie damit, glaube ich, nicht erreichen.

Lassen Sie mich das anhand eines thematischen Bereiches darstellen: Wenn Sie sich für ein soziales Europa aussprechen, lassen Sie offen, was Sie denn unter einem angemessenen Sozialschutz verstehen. Sie sagen nicht, wie erreicht werden soll, dass die EU nicht nur als Wirtschaftsgemeinschaft, sondern auch als sozialer Binnenmarkt wahrgenommen wird. Welche Antworten geben Sie in Ihrem Antrag auf die Fragen des Mindestlohns, der Freizügigkeit des europäischen Arbeitsmarktes, der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und deren Schutz?

Es ist erstaunlich, was hinter der Maske der Europafreundlichkeit zum Vorschein kommt, wenn die Stunde der Wahrheit schlägt. Was Sie von Europa wollen, zeigt der letzte Spiegelstrich. Sie treten für den - ich zitiere - dauerhaften Rückfluss an EU-Mitteln auch in die Nettozahlerstaaten ein und begründen das mit dem folgenden bemerkenswerten Satz:

„Nur so können langfristig eine hohe Europaakzeptanz in allen EU-Mitgliedstaaten gesichert werden und mit Europa verbundene Projekte für eine positive Wahrnehmung der EU sorgen.“

Meine Damen und Herren, „kleine Geschenke erhalten die Freundschaft“ nennt man so etwas. Eine gute Europäische Union im Sinne von CDU- und FDP-Fraktion ist also eine EU, die zahlt und sich ansonsten aus der Politik heraushält. Das, meine Damen und Herren, verstehe ich allerdings nicht unter „Haus Europa“.

(Beifall bei den GRÜNEN)