Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Adler, der 70. Jahrestag der Reichspogromnacht, der wir am Mittwoch im Plenum gedacht haben, hat einmal mehr gezeigt, wie wichtig eine aktive und auch kritische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus ist. Dabei ist es von elementarer Bedeutung, ein umfassendes und auch differenziertes Bild der Vergangenheit zu zeichnen.
Ich wiederhole in diesem Zusammenhang nachdrücklich meine Aussage, die ich im Rahmen einer Feierstunde zum 60. Jahrestag der Staatsgründung Israels gemacht habe: Es ist unsere historische Verantwortung und Pflicht, allen Versuchen der Geschichtsklitterung und der Geschichtsverdrehung schon im Ansatz wirkungsvoll zu begegnen.
Der Landtag wird seine vielfältigen Anstrengungen zur Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus weiterführen. Er wird sich auch der Frage zuwenden, wie die Zeit des Nationalsozialismus in
den Aufbau eines neuen demokratischen Deutschlands und insbesondere in die Geschichte des Niedersächsischen Landtags hineingewirkt hat.
Erstens. Die Fraktion DIE LINKE hat ihrem parlamentarischen Antrag eine Pressekonferenz vorausgeschickt, in der sie die Studie des Historikers Dr. Klausch vorstellte. Diese Studie trägt - in großer und fettgedruckter Schrift - die Überschrift „Braune Wurzeln“. Dann - immer noch im Fettdruck -: „Alte Nazis in den niedersächsischen Landtagsfraktionen von CDU, FDP und DP.“ Und schließlich folgt in kleiner, etwas magerer Schrift der Hinweis: „zur NS-Vergangenheit von niedersächsischen Landtagsabgeordneten in der Nachkriegszeit.“
Meine Damen und Herren, diese Aufmachung suggeriert - oder kann zumindest so verstanden werden -, dass es eine ununterbrochene Linie des Einflusses des Nationalsozialismus bis heute auf die Politik zweier hier im Landtag vertretener Fraktionen gäbe.
In einem Presseartikel ist dies auch noch prompt mit der diffamierenden Überschrift „Wulffs braune Ahnen“ aufgegriffen worden. Ich glaube, zumindest für die übergroße Mehrheit dieses Hauses zu sprechen, wenn ich solche Verdächtigungen und Unterstellungen auf das Schärfste zurückweise.
Ich stelle mich auch als Präsident des Landtages ausdrücklich vor dieses Haus und erkläre: Eine solche Kontinuität gibt es nicht.
Zweitens. Die Studie des Historikers Dr. Klausch genügt keinesfalls den hohen Ansprüchen, die wir an die Aufarbeitung der Vergangenheit stellen müssen. Die Untersuchung ist auch nach eigener Einschätzung der Fraktion DIE LINKE nicht vollständig und in ihrer Einseitigkeit methodisch nicht haltbar.
Nachwirkungen des Nationalsozialismus neue Erkenntnisse gewinnen will, so muss der Historiker selbstverständlich alle Fraktionen und Abgeordnete der Nachkriegszeit in den Blick nehmen, zumal auch sonst der Eindruck entstehen kann, Parlamentarier des politisch linken Spektrums wären generell nicht in den Nationalsozialismus verstrickt gewesen. Es darf auch nicht ausgeblendet werden, dass sich niedersächsische Parlamentarier im lebensbedrohenden Widerstand gegen Hitler eingesetzt haben.
(Beifall bei der CDU und bei der FDP und Zustimmung von Heiner Bartling [SPD] und Hans-Henning Adler [LIN- KE])
Ebenso haben Abgeordnete den niedersächsischen Parlamentarismus der Nachkriegsjahre nachhaltig mitgeprägt, die aufgrund ihrer demokratischen Gesinnung aus Ämtern enthoben wurden oder sogar die Schrecken der Konzentrationslager überlebt haben. All das muss zusammen gesehen und auch differenziert gewürdigt werden.
Ebenso ist es völlig unzureichend, sich mehr oder weniger mit der Feststellung der früheren Mitgliedschaft einzelner Abgeordneter in einer NS-Organisation zu begnügen, um hieraus „braune Wurzeln“ abzuleiten. Dazu müsste man mehr über die Hintergründe und das weitere Wirken im sogenannten Dritten Reich wissen.
Nach gut 70 Jahren können allerdings nur noch die Wenigsten direkt gefragt werden, aus welchen Gründen sie sich damals für eine Mitgliedschaft in nationalsozialistischen Institutionen oder Parteien entschieden haben. Waren es opportunistische Motive? War es die Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren und damit die Existenzgrundlage für die eigene Familie? Oder war es die eigene Überzeugung, die zur Unterstützung der menschenverachtenden Ziele Hitlers und seiner Schergen führte?
Noch wichtiger ist aber die Analyse des weiteren Wirkens in der Nachkriegszeit und in der folgenden Phase der sich stabilisierenden Demokratie. Wenn wir genau hinsehen, werden wir alle Seiten des menschlichen Verhaltens, auch des Fehlverhaltens, finden. Wir werden den Unbelehrbaren und den stets Angepassten finden, der sein Fähnlein in den Wind gehängt hat. Wir werden auf Personen stoßen, die ihre Vergangenheit mit Scham, manche aber auch ohne schlechtes Gewissen, ver
drängt haben. Wir werden diejenigen Abgeordneten in Erinnerung rufen, die Widerstand geleistet und für ihre Überzeugung gelitten haben. Und wir werden diejenigen finden, die aus der Geschichte gelernt und sich zu überzeugten Demokraten gewandelt haben.
Es war Aufgabe der jungen Demokratie, diese Menschen für die Demokratie zu gewinnen und sie einzubinden.
Meine Damen und Herren, ich komme auf die Frage zurück, wie die Nachwirkungen der nationalsozialistischen Zeit auf den Nachkriegsparlamentarismus erforscht werden können. Eines geht nach meiner festen Überzeugung nicht: dass eine parlamentarische, möglicherweise gemäß d’Hondt nach Fraktionsstärken besetzte Kommission Geschichte erkundet und bewertet. Über geschichtliche Wahrheit lässt sich nicht mit politischen Mehrheiten befinden.
Gefragt ist vielmehr eine wissenschaftlich und methodisch saubere, aber auch unabhängige Erforschung der zu stellenden Fragen. Es verbietet sich auch, die Unabhängigkeit der Forschung durch eine politische Begleitung infrage zu stellen.
Damit stellt sich erstens die Frage, wer den Landtag sachkundig beraten kann. Ich werde die Historische Kommission für Niedersachsen und Bremen um Unterstützung bitten. Sie ist in ihrer fachlichen Breite und Pluralität besonders geeignet, dem Landtag fundierte Vorschläge dazu zu unterbreiten, mit welchen Methoden und Fragestellungen Erkenntnisse über Einwirkungen und Nachwirkungen des Nationalsozialismus auf den Niedersächsischen Landtag und seinen Weg zu einer stabilen, auf Werte verpflichteten Demokratie gewonnen und wie die Biografien der Abgeordneten der Nachkriegszeit vervollständigt und in den Erkenntnisprozess einbezogen werden können.
Ist mithilfe der Historischen Kommission ein Arbeitsauftrag sachverständig formuliert, stellt sich zweitens die Frage, wer diesen Forschungsauftrag erfüllen könnte. Meine Absicht ist, einen Auftrag an eine wissenschaftliche Forschungseinrichtung zu vergeben. Auch hierzu werde ich den Rat der Historischen Kommission einholen.
Meine Damen und Herren, wenn wir uns auf diesen Weg verständigen können, bin ich guter Hoffnung, dass wir zu neuen Erkenntnissen gelangen, die die Vergangenheit in ihrer ganzen Differenziertheit und Vielfältigkeit abbilden, und dass durch die gewonnen Erkenntnisse im Ergebnis auch der niedersächsische Parlamentarismus gestärkt wird. Dann, aber erst dann wird auch die Zeit gekommen sein, über die gefundenen Antworten im parlamentarischen Raum zu diskutieren und die Ergebnisse politisch zu bewerten.
So weit mein Vorschlag. Ich würde mich freuen, wenn er die breite Zustimmung des Hauses fände. Mein Rat an die Antragsteller lautet, zu überdenken, ob sie die weitere Beratung aussetzen oder eventuell sogar den Antrag zurückziehen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin über die Ausführungen des Herrn Landtagspräsidenten sehr froh, weil man doch merkte, dass wir in der Sache gar nicht so weit auseinander sind. Ich hatte den Eindruck, dass eine Aufarbeitung gewollt wird, und halte es für gut, dass er sich der Fragestellung stellt.
Eine Differenz besteht jetzt offenbar nur noch in der kleinen Frage, ob man eine Kommission des Landtages bildet, die wiederum Historiker beauftragt, oder ob der Landtagspräsident Historiker über die Historische Kommission beauftragt. Darin sehe ich keinen so großen Unterschied, weil ich der Meinung bin, dass letztendlich natürlich nicht eine Kommission des Landtages die Ergebnisse der Historiker zu zensieren haben wird. Die Wissenschaftler sind selbstverständlich unabhängig, und ihr Votum ist zu respektieren.
Nur bin ich der Meinung, dass der Landtag selbst in geeigneter Weise seine politische Verantwortung wahrnehmen muss, mit diesen Ergebnissen umzugehen.
Vielleicht besteht aber die Möglichkeit, dass wir uns dahin gehend verständigen, dass wir die Ergebnisse der von Ihnen in Auftrag gegebenen Arbeiten im Landtag anschließend politisch bewerten. Das wäre mein Vorschlag. In dieser Hinsicht können wir unseren Antrag ändern. Dazu werde ich noch eine schriftliche Fassung einreichen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ausgangspunkt dieser Debatte ist die Äußerung des Kollegen Althusmann im Mai-Plenum, dass die geistigen und politischen Wurzeln der CDU im christlich motivierten Widerstand gegen den Terror des Nationalsozialismus lägen.
- Es ist so, aber korrekt wäre Ihre Äußerung gewesen, wenn Sie gesagt hätten, sie lägen auch in diesem Widerstand. Damit hätte ich sofort leben können.