Dennoch gebe ich Ihrem Antrag in einigen Punkten Recht. Die drohende Mehrwertsteueranhebung bedeutet für viele Handwerksbetriebe und andere arbeitsintensive Dienstleistungen eine ernsthafte Bedrohung ihrer Existenz. Das Handwerk und der Handel sind nun einmal personalintensiv. Es gibt keine Maschinen, die Teppiche verlegen, ein Badezimmer ausbauen oder einen Garten anlegen.
Das bedeutet, dass ein Großteil der Kosten in Form von Löhnen und Sozialabgaben anfällt. Auf alle diese Kosten werden ab dem 1. Januar 2007 19 % Mehrwertsteuer fällig.
Das beste Mittel nicht nur für das Handwerk, sondern für die gesamte Wirtschaft wäre - ich habe das von einigen Vortragenden auch schon gehört das von uns immer wieder geforderte einfache Steuersystem mit niedrigen Sätzen bei gleichzeitigem Abbau aller, aber auch wirklich aller Subventionen. Nur damit, meine Damen und Herren, ließen sich die Lohnnebenkosten massiv senken. Herr Aller, das wäre auch die beste Lösung gegen Schwarzarbeit; denn dann fiele die Mehrwertsteuer nicht mehr so ins Gewicht.
Leider ist dieser Idealzustand derzeit in weiter Ferne. Ausgabenkürzung ist in diesem Staat nicht angesagt. Stattdessen droht die höchste Steuererhöhung in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.
Meine Damen und Herren, es gilt auch, Steuergleichheit herzustellen zwischen dem Handwerk und z. B. so manchen Sozialbetrieben, die bereits heute und auch in Zukunft für Handwerksdienstleistungen nur den reduzierten Mehrwertsteuersatz von 7 % abführen müssen. Sie können es mir abnehmen: Bei einem Preisabstand von dann 12 % kann kein Handwerker mehr dagegen anstehen. Hier ist Chancengleichzeit dringend gefordert.
Meine Damen und Herren, mit der EU-Initiative zur Reduzierung des Mehrwertsteuersatzes für arbeitsintensive Dienstleistungen können wir die Auswirkungen der Mehrwertsteuererhöhung zumindest etwas mindern. Wir sollten aber die Erwartungen - das ist von den Kollegen schon deutlich gesagt worden - nicht zu hoch ansetzen. Die Richtlinie der EU ist sehr restriktiv. Sie erlaubt einen ermäßigten Satz nur bei einer Hand voll von Branchen und Tätigkeiten. Von diesen dürfen wir wiederum nur zwei auswählen, die mit einem ermäßigten Satz belegt werden. Wichtige Branchen, die unter einer höheren Mehrwertsteuer sehr zu leiden hätten, werden damit nicht berücksichtigt. Dennoch ist das eine richtige Maßnahme, um wenigstens die schlimmsten Auswirkungen der exorbitanten Mehrwertsteuererhöhung ab Januar 2007 zu mildern.
Allerdings, Herr Hagenah - damit komme ich zur Grünen-Fraktion -, ist es ziemlich billig, hier im Landtag eine Woche vor Ablauf der Antragsfrist sozusagen einen Scheinvorstoß, verkleidet als Steuersenkungspartei, zu starten. Wir verweisen Ihren Antrag in den Ausschuss.
Vielen Dank. - Meine Damen und Herren, das Wort hat noch einmal der Kollege Hagenah. Er hat dafür 1:45 Minuten Zeit.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nicht wir Grüne haben unsere Haltung geändert, sondern die große Koalition im Bund verändert die Rahmenbedingungen durch die Erhöhung der Mehrwertsteuer in so eklatantem Maße, dass die einzige Möglichkeit, zum Nutzen und zum Schutz des Handwerks vernünftig gegenzusteuern, jetzt darin besteht, die Option der EU wahrzunehmen, die im Übrigen erst seit dem Januar dieses Jahres nach Beschluss der Ministerpräsidentenkonferenz wieder eröffnet ist. - So viel zu den Vorwürfen, die hier im Raume stehen: Warum diese Initiative denn jetzt und warum so kurz vor Antragsschluss?
- Herr Rösler, es ist doch völlig klar, warum wir das im Jahre 2000 nicht gemacht haben. Rot-Grün hat keine Mehrwertsteuererhöhung gewollt. Bis zur letzten Wahl wollte auch die SPD sie nicht. Sie hat das Ganze als „Merkel-Steuer“ gegeißelt. Man muss schon so wie Herr Aller höhere Mathematik können, dass man aus der Ablehnung einer Mehrwertsteuererhöhung um zwei Prozentpunkte die Zustimmung zu einer Mehrwertsteuererhöhung um drei Prozentpunkte macht. - So viel zum Thema „blanker Opportunismus“.
Nun zur „Kurskorrektur“. Die Kurskorrektur haben hier im Hause andere vorgenommen. Wer jetzt, wie Sie, Herr Herrmann, sein Heil in einer Vertagung in den Ausschuss sucht - obwohl Sie eine Rede gehalten haben, die im Grunde für unsere Initiative gesprochen hat -, wendet sich damit von den Handwerkern ab, weil er diese Option nämlich nicht ergreift.
Herr Hegewald hat hier gesagt, dass darüber im Ausschuss einmal grundsätzlich diskutiert werden solle. Sie wissen aber doch genau, dass die EU sehr restriktive Rahmenbedingungen für solche Mehrwertsteuerabsenkungen gesetzt hat und dass diese Öffnungsklausel, die von der EU eingeräumt worden ist, nicht beliebig, etwa in fünf Monaten oder erst in zwei Jahren, wahrgenommen werden kann.
Insofern stelle ich fest, dass hier im Hause das Problembewusstsein für das, was uns mit der Mehrwertsteuererhöhung in Deutschland erwartet, überhaupt noch nicht vorhanden ist und Sie von der Realität leider erst eingeholt werden müssen. Aber dann wird Ihnen dieses Instrument offensichtlich nicht mehr zur Verfügung stehen.
Vielen Dank, Herr Hagenah. - Die Realität ist, dass jetzt keine weitere Wortmeldung vorliegt, dass der Antrag auf sofortige Abstimmung gestellt ist und dass zwei Fraktionen diesem Antrag widersprechen. Deshalb beschließen wir jetzt über die Ausschussüberweisung. Wenn zehn Mitglieder der sofortigen Abstimmung widersprechen, dann ist der Antrag in den Ausschuss zu überweisen. Ich frage, ob es Anmerkungen zu den vorgeschlagenen Ausschüssen gibt. - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen und der Antrag an die Ausschüsse überwiesen.
Tagesordnungspunkt 36: Erste Beratung: 20 Jahre Tschernobyl - Ausstieg aus der wirtschaftlichen Nutzung der Atomkraft gebotener denn je! - Antrag der Fraktion der SPD - Drs. 15/2712
Tagesordnungspunkt 37: Erste Beratung: Tschernobyl ist nicht vergessen - Strom ohne Atom - Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen - Drs. 15/2736
Zur Einbringung hat der Kollege Meihsies das Wort. - Die SPD-Fraktion hat ihren Antrag eher eingebracht, sodass sie eigentlich zunächst das Wort zu Einbringung hätte. Aber wenn Sie das unblutig regeln, Herr Meisiehs, dann bin ich gerne bereit, Ihnen das Wort zu erteilen. Bitte schön!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! 26. April 1986, 1:23:40 Uhr. Während eines Tests in Block 4 des Atomkraftwerks Tschernobyl ereignet sich der bisher schwerste Reaktorunfall weltweit. Eine Katastrophe, die nicht nur auf die Systemschwächen des Reaktors und eine Kette von falschen Entscheidungen zurückzuführen ist, sondern auch auf einen verbotenen Eingriff der Bedienungsmannschaft während eines Experiments.
Das Experiment führt zu zahlreichen Explosionen. Durch die Explosionen werden über 1 000 t des schweren Deckels des Reaktorkerns in die Luft geschleudert. Eine dieser zahlreichen Explosionen zerstört das nur als Wetterschutz ausgebildete Dach des Reaktorgebäudes. Der Reaktorkern ist nun nicht mehr eingeschlossen und hat direkte Verbindung zur Atmosphäre.
Der glühende Grafit im Reaktorkern fängt sofort Feuer. Insgesamt verbrennen während der folgenden zehn Tage 250 t Grafit. Zehn Tage lang werden unter sich ständig verändernden Windrichtungen und Wetterverhältnissen mehrere Tonnen hochradioaktives Material freigesetzt. Durch den
Grafitbrand werden die radioaktiven Partikel hoch in die Atmosphäre getragen und verteilen sich mit dem tödlichen Regen in der Region um Tschernobyl herum.
Die radioaktive Verseuchung der Umwelt beginnt. Insgesamt 800 000 so genannte Liquidatoren, meist junge Wehrdienstleistende aus der gesamten Sowjetunion, werden zu Räumungsarbeiten und Dekontaminationsarbeiten herangezogen. Ohne Schutzanzüge, ohne Sicherheitsvorkehrungen werden die ahnungslosen Menschen am zerstörten strahlenden Reaktor eingesetzt. Mindestens 7 000 dieser Liquidatoren sind bereits gestorben. Schätzungen verschiedener Organisationen gehen sogar von mehreren 10 000 Toten aus. Rund 125 000 Menschen leiden nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation an schweren Krankheiten. An sie erinnert nur ein Denkmal.
Erst drei Tage nach dem 26. April, viel zu spät für zahlreiche Menschen, wird die strahlenverseuchte Umgebung evakuiert.
Wie viele Opfer die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl noch fordert, wird sich in den nächsten Jahrzehnten zeigen. Kofi Annan, der es sicherlich ganz genau weiß, weil er über die internen Berichte der Weltgesundheitsorganisation verfügt, spricht von 3 Millionen Kindern, die weiterhin in den hoch kontaminierten Gebieten leben müssen. Auch 20 Jahre nach dem Unfall gibt es nur sehr vage Angaben über die Anzahl der Toten und Erkrankten. Die Experten streiten sich. In einem UNBericht zu den gesundheitlichen Folgen finden sich erschreckende Zahlen.
In den belasteten Gebieten der Ukraine erkranken die Bewohner um 30 % häufiger als in anderen Regionen. Die Zahl der Frühinvaliden ist sechsmal so hoch. Bei Kindern und Jugendlichen haben Erkrankungen des Blutkreislaufs um 43 % zugenommen, bösartige Tumore um 38 %. Überdurchschnittlich viele Menschen leiden unter Depressionen. Besonders dramatisch ist der Schilddrüsenkrebs bei Kindern. Die Fälle stiegen bei weißrussischen Kindern um das Dreizehnfache, in stark belasteten Regionen gar um das Dreihundertfache. Im extrem belasteten Gomel wurden in den ersten sechs Jahren nach Tschernobyl sechsmal mehr behinderte Kinder geboren als vorher. Die Lebenserwartung der Menschen in Russland, in Weißrussland und in der Ukraine hat in den vergangenen zehn Jahren um durchschnittlich fünf Jahre abgenommen.
Meine Damen und Herren, etwa 70 % des radioaktiven Fall-out gingen auf dem Gebiet des heutigen Weißrussland, auf Belarussland, nieder. 46 500 km2, etwa ein Viertel der Fläche des Landes, gilt nach alten sowjetischen Richtlinien als radioaktiv kontaminiert. Das entspricht in etwa der Fläche unseres Bundeslandes Niedersachsen, um sich nur einmal die Größe dieser Fläche vor Augen zu führen.
Rund 400 000 Menschen wurden zwangsweise umgesiedelt. Die offiziell radioaktiv verseuchte Sperrzone ist heute 4 300 km2 groß. Das ist so viel, wie die Region Hannover, die Landkreise Schaumburg und Hameln-Pyrmont sowie Peine gemeinsam an Fläche besitzen. Weder die Ukraine, noch Russland, noch Weißrussland, welches selbst keine Atomkraftwerke betreibt, sind in der Lage, den Tschernobyl-Opfern ausreichend zu helfen und die Mittel zur Bewältigung der Unfallfolgen aufzubringen.
Meine Damen und Herren, als sich der Reaktorunfall ereignete, waren die Folgen auch bei uns zu spüren. Wir mussten damals auf verschiedene Nahrungsmittel verzichten, und unsere Kinder durften weder im Sandkasten noch im Regen draußen spielen. Wir alle erinnern uns. Für viele von uns ist das Vergangenheit, zum Teil auch, weil sie noch nicht geboren waren, nicht jedoch für die betroffenen Menschen in Weißrussland, in der Ukraine und in Russland. Landwirtschaftliche Erzeugnisse sind in den betroffenen Gebieten weiterhin radioaktiv belastet. Die Folgen der Katastrophe dauern an, selbst tausende von Kilometern von Tschernobyl entfernt. So waren noch Anfang 2004 ca. 400 Farmen mit über einer Viertelmillion Schafen in England, in Wales und in Schottland betroffen, und in Süddeutschland überschritten insbesondere Wildschweinfleisch und Waldpilze häufig den amtlich festgesetzten Grenzwert und durften nicht vermarktet werden.
Tschernobyl - das sind hunderte verlassene Dörfer, vor deren Betreten das Zeichen „radioaktive Zone“ warnt, aber auch Kummer in der Seele und Furcht vor der Zukunft bei den Betroffenen. Hunderttausende leben heute noch unter erhöhter Strahlung, die aus der Luft, über den Boden und die belasteten Nahrungsmittel aufgenommen wurde und immer noch aufgenommen wird.
Meine Damen und Herren, Tschernobyl hat uns gezeigt, wie lebensbedrohend und zerstörerisch die Nutzung der Atomenergie ist. Die Gefahren, die
in dieser Technologie stecken, sind allgegenwärtig. Das zeigt allein die Anzahl der Störfälle der letzten Jahre, nicht nur in Deutschland. Beinaheunfälle wie in Biblis, in Esenshamm und in Brunsbüttel lassen nur ahnen, was auch hier in Deutschland hätte geschehen können.
Seit dem Anschlag auf das World Trade Center in New York - wir haben es heute Morgen vom Kollegen aus der SPD-Fraktion gehört - ist die Bedrohung durch einen terroristischen Anschlag auf ein Atomkraftwerk jedem bewusst und gegenwärtig. Gezielt herbeigeführte Flugzeugabstürze und Anschläge mit panzerbrechenden Waffen auf Atomkraftwerke sind seit dem 11. September 2001 zu einem permanenten Risiko auch in Deutschland geworden. Weder können Terroranschläge auf Atomkraftwerke mit Sicherheit ausgeschlossen werden, noch wurden Atomkraftwerke dafür gebaut, einem entsprechenden Terrorangriff mit Sicherheit standzuhalten. Das ist auch jedem hier bewusst.
Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl mahnt uns zum Innehalten und zu einer Umkehr. Sie war nicht nur der Super-GAU für die Menschen in der Ukraine, in Russland oder auch in Weißrussland, sie war auch der Super-GAU für jenen Machbarkeitswahn, der die Risiken der Atomenergie immer wieder klein redet und auch von dieser Stelle aus oft geleugnet wird. Wer jetzt, 20 Jahre nach der Reaktorkatastrophe, deren Folgen immer noch dramatisch spürbar sind, wieder auf Kernenergie setzt, wie Sie, meine Damen und Herren von der CDU- und von der FDP-Fraktion, von dieser Stelle aus ständig feststellen, geht den falschen Weg.
Es widerspricht jeder Vernunft, diesen Weg weiter zu gehen. Ich zitiere Klaus Töpfer, der vor Jahren einmal gesagt hat: „Wir müssen eine Zukunft ohne Atomenergie erfinden.“ Er hat seine Position vor zwei Tagen in der Frankfurter Rundschau noch einmal deutlich gemacht. Meine Damen und Herren, Klaus Töpfer hat Recht; dem ist nichts hinzuzufügen.
Wir bitten Sie darum, diesem Antrag von Grünen und SPD zuzustimmen. - Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
- Oh ja, zur Einbringung Herr Kollege Dehde. Das hatte ich jetzt wirklich vergessen. Ich bitte um Entschuldigung.