Protocol of the Session on May 15, 2003

Zur Einbringung des Antrages hat Frau Groskurt das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Unser Antrag hat wie vieles in der neuen Legislaturperiode eine Vorgeschichte.

(Unruhe)

Nachdem das Bundesgesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen am 1. Mai 2002 in Kraft getreten ist, wurde ein Entwurf für ein niedersächsisches Gesetz erarbeitet.

Frau Kollegin, Sie haben mit Ihrem Blick völlig Recht: Ich bitte, die Unterhaltungen einzustellen.

Es ging um die Technik. Ansonsten würde ich mich nie trauen, einen strafenden Blick schweifen zu lassen.

Ich bitte dennoch darum, in den hinteren Bereichen und auch in den Gängen die Unterhaltungen einzustellen. - Bitte schön.

Mit dem Entwurf sollten auf Landesebene die nötigen gesetzlichen Regelungen zur Umsetzung des in der Niedersächsischen Verfassung formulierten Anspruchs behinderter Menschen auf Gleichstellung und Förderung geschaffen werden.

Die alte Landesregierung legte einen Gesetzentwurf vor, der am 11. Dezember 2002 in erster Lesung im Plenum beraten wurde. Wir von der SPDFraktion haben nun diesen Entschließungsantrag eingebracht, da wir in großer Sorge sind, dass in Vergessenheit gerät, dass wir über den Entwurf eines Landes-Gleichstellungsgesetzes im Plenum in erster Lesung schon beraten haben. Damit waren wir der Verabschiedung eines niedersächsischen Gesetzes schon sehr nahe. Unsere Sorge ist sehr berechtigt. Als es dann nämlich in die weitere Diskussion und in die Umsetzungsphase ging, hatten die Bedenkenträger der CDU das Wort.

(Angelika Jahns [CDU]: Wie bitte?)

In der Sitzung des Sozialausschusses am 8. Januar 2003 lehnte die CDU-Fraktion den Antrag der SPD-Fraktion auf Fortsetzung der Anhörung ab. Ein eigener Gesetzentwurf kam bis heute nicht zustande. Bis jetzt ist auch wenig Engagement zu erkennen. Bis auf die Aussage, dass Sie das Behindertengleichstellungsgesetz einbringen wollen, ist nichts passiert.

Den Menschen mit Behinderungen wäre zu wünschen gewesen, dass der Gesetzentwurf der SPDFraktion weiter beraten und verabschiedet worden wäre.

(Zustimmung bei der SPD - Zuruf von der CDU)

- Es wäre ja Unsinn gewesen, irgendetwas doppelt zu machen. Auf das Bundesgesetz zu warten war schon in Ordnung.

Nun geht das Warten und Raten los. Ich frage Sie: Wann erblickt der angekündigte Entwurf der neuen Landesregierung das Licht dieses Plenarsaales? In Ihrer Koalitionsvereinbarung widmen Sie Menschen mit Behinderungen ganze drei Sätze. Ich zitiere:

„Die Koalitionspartner streben eine bessere gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit einer Behinderung an und fördern ihr Recht auf Selbstbestimmung.“

Der zweite Satz lautet:

„In Abstimmung mit den Kommunen verfolgen wir das Ziel, möglichst viele Hilfen ambulant zu erbringen.“

Der dritte Satz lautet schließlich:

„Insbesondere bei der Vermittlung von Beschäftigung werden die Behinderten Unterstützung erhalten.“

Dagegen ist ja nichts zu sagen. Das sind aber Absichtserklärungen ohne konkrete Handlungsfelder. Frau Ministerin, Ihre Aussage im Sozialausschuss, dass Sie einiges unter die Lupe nehmen wollen, hat auch nicht gerade zu unserer Beruhigung beigetragen.

Vor diesem Hintergrund wollen wir mit dem heutigen Antrag der zeitlich großzügig bemessenen Bitte Nachdruck verleihen, bis zum 31. Oktober 2003 den Entwurf eines Behindertengleichstellungsgesetzes vorzulegen. Viel Arbeit haben Sie damit ja nicht mehr. Das meiste hat die alte Landesregierung für Sie schon erledigt. Die SPDFraktion fordert die neue Landesregierung auf, in ihren Gesetzentwurf die im Antrag genannten Punkte aufzunehmen, die ich hier nicht zu wiederholen brauche. Sie alle haben den Antrag ja vorliegen.

Mir liegt besonders am Herzen, dass in dem Gesetzentwurf die integrative Erziehung und Beschulung in Kindergarten und Schule einen Schwerpunkt darstellt, dass Schülerinnen und Schülern mit Behinderung bzw. ihren Eltern die Wahlfreiheit bezüglich des Besuchs entweder einer integrativen oder sonderpädagogischen Schule eingeräumt wird und dass das Gesetz auch individuelle Auslegungsmöglichkeiten zum Wohle der Betroffenen eröffnet. Das hebe ich deswegen ganz besonders deutlich hervor, weil ich zurzeit eine Petition bearbeite, die ein behindertes Gastschulkind in einer Waldorf-Schule in Bremen betrifft. In diesem Fall wurde durch mehrere Gutachten eindeutig festgestellt, dass das Kind in dieser Schule am besten gefördert werden kann. Trotzdem verweigert die Bezirksregierung die Kostenübernahme. Nur zur Information: Die Kosten sind geringer als in der sozialpädagogischen Schule.

Es kann doch nicht sein, dass ein Verwaltungsakt die Entwicklung eines behinderten Kindes einschränkt. Die Menschen brauchen Sicherheit und müssen wissen, wie es weitergeht, auf welche Hilfen sie sich verlassen können.

Ein Gesetz zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen in Niedersachsen ist wichtig, weil ihr Leben mit der Gesamtgesellschaft dadurch besser geregelt wird. Wir müssen den Menschen mit Behinderungen eine gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft gewährleisten und eine selbstbestimmte Lebensführung ermöglichen. Es muss selbstverständlich werden, dass Menschen mit Behinderungen nach ihren Fähigkeiten und Bedürfnissen am öffentlichen Leben teilnehmen können. Die Lebensqualität, die Behinderte genießen, hängt wesentlich von den Reaktionen der Umwelt auf ihr Anderssein ab. Selbst Betroffene betrachten weniger ihre Funktionseinschränkung als Behinderung, sondern vielmehr die behindernden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Dazu gehören in Gaststätten für Rollstuhl fahrende Gäste die Stufen, die zwangsweise Sonderbeschulung für behinderte Kinder oder Ampeln ohne akustische Signale für Sehbehinderte. Daher fordern behinderte Menschen schon lange, dass behindertes Leben als eine Daseinsform unter vielen zu betrachten ist und nicht mit dem Makel des Minderwertigen, des Defekts behaftet sein darf. Als 1993 Richard von Weizsäcker auf einer Veranstaltung sagte „Es ist normal, verschieden zu sein“, unterstützte erstmals ein deutsches Staatsoberhaupt die Sichtweise der Betroffenen. So definiert auch die Weltgesundheitsorganisation Behinderungen als

Wechselwirkung zwischen der Person mit einer gewissen Einschränkung und deren Umwelt. Diese Sicht liegt auch dem Slogan der damaligen „Aktion Sorgenkind“ - heute „Aktion Mensch“ zugrunde: Man ist nicht behindert - man wird behindert. Diese Darstellung sollte dazu führen, dass Behindertenpolitik nicht mehr nur unter dem Kosten/Nutzen-Aspekt betrachtet wird.

Parallel zur gesellschaftlichen Akzeptanz und Anerkennung behinderten Lebens hat die Politik in den vergangenen Jahren einen Perspektivwechsel vollzogen. Behinderte Frauen und Männer sollen nicht mehr als Objekt der Fürsorge betrachtet werden. In der Alltagsrealität behinderter Menschen ist es zwar immer noch nicht normal, verschieden zu sein, aber sie ist in den vergangenen Jahren immer normaler geworden. Noch nie zuvor führten so viele Menschen mit Behinderungen ein Leben in einer eigenen Wohnung mit einer Familie und übten einen Beruf aus. Auch in diesem Zusammenhang muss deutlich gesagt werden: Diese Möglichkeiten der Lebensform hat maßgeblich die SPD mitgestaltet.

(Beifall bei der SPD)

Mit unserem Gesetzentwurf haben wir einen weiteren Meilenstein gesetzt. Dort sollten wir weitermachen und im Sinne der behinderten Menschen die Beratungen gemeinsam und zügig durchführen.

Meine Damen und Herren, Behindertenpolitik geht uns alle an. Die Menschen brauchen eine gesetzliche Verlässlichkeit. Ich würde mich freuen, wenn Ihr Gesetzentwurf die Ergebnisse der Anhörungen aufnehmen würde und er dann für uns zustimmungsfähig wäre.

(Vizepräsident Ulrich Biel über- nimmt den Vorsitz)

Ich bitte Sie eindringlich, die intensive Arbeit der alten SPD-Landesregierung zugunsten von Menschen mit Behinderungen in Niedersachsen fortzusetzen und unserem Antrag zuzustimmen. Lassen Sie es bitte nicht nur bei Ihrer Absichtserklärung!

Unser Antrag auf Vorlage eines Gleichstellungsgesetzes ist nicht strittig. Ich gehe davon aus, er müsste die Zustimmung des ganzen Hauses bekommen.

Ich habe noch eine Bitte an die Ministerin: Ich hoffe, dass Sie Ihre Ankündigungen in konkretes und schnelles Handeln umsetzen. - Danke schön.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, für die FDP-Fraktion hat sich Frau Meißner gemeldet. Frau Meißner, Sie haben das Wort.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Groskurt, ich kann Sie beruhigen. Es ist schön, dass Sie das eingebracht haben. Das wäre ohnehin auch von uns eingebracht worden. Die Ministerin hat schon gesagt, sie will dafür sorgen, dass es ein entsprechendes Gesetz gibt. Das stand auch in unserem Wahlprogramm. Wir wollen wirklich das halten, was wir versprechen. Ich glaube, darüber sind wir uns alle einig. Es darf nicht nur sein, dass dieses Jahr von der Europäischen Union als „Jahr der Behinderten“ benannt worden ist, sondern wir wollen auch zeigen, dass wir alle dafür sind, dass die Behinderten gleichberechtigt am Leben teilhaben können.

Sie haben gesagt, Sie haben schon vorgearbeitet. Das ist zwar richtig. Aber erlauben Sie uns, dass wir jetzt nicht einfach den alten Gesetzentwurf übernehmen, sondern mit einer neuen Landesregierung und auch als Liberale eigene Akzente mit einbringen. Ich denke, das ist ganz natürlich.

Jetzt zu den politischen Schwerpunkten, die wir speziell aufnehmen wollen. Wir wollen Eigenverantwortung und Entscheidungsfreiheit für die Menschen. Das ist, glaube ich, Konsens bei allen Parteien. Ein Beispiel dafür ist das persönliche Budget für behinderte Menschen, das wir heute Morgen angesprochen haben.

Es darf aber nicht nur finanzielle Leistungen betreffen, dass wir die Menschen eigenverantwortlich entscheiden lassen, sondern es muss auch die Barrierefreiheit mit einbezogen werden, und zwar nicht nur körperlich, sondern auch allgemein, zum Beispiel beim Zugang zu Informationstechnologien. Gleichzeitig wollen wir zum Beispiel auch die Stellung des Landesbehindertenbeauftragten stärken. Ich habe das schon einmal bei der partnerschaftlichen Sozialpolitik gesagt. Man sollte ihn stärker an den Landesbehindertenbeirat heranführen und ihn da in seiner Position stärken. Wie genau, das müssen wir noch sehen.

Ein wichtiger Punkt ist dabei aber unbedingt zu berücksichtigen, nämlich die Finanzierbarkeit und die praktische Umsetzbarkeit dessen, was wir im Gesetz festschreiben. Denn wir wollen wirklich nur etwas im Gesetz festschreiben, was wir auch realisieren können, was machbar und finanzierbar ist. Das heißt, wir dürfen keine neuen Belastungen für die Kommunen durch das schaffen, was wir festschreiben. Wir müssen sehen, dass die Kommunen bei dem, was wir machen, partnerschaftlich mit einbezogen werden, und uns abstimmen.

Wenn wir das, was die SPD bislang vorgeschlagen hat, etwas kritischer unter die Lupe nehmen, dann ist ein Punkt, der uns nicht so gefällt, die Ausweitung der Verbandsklage, weil wir darin nur ein Instrument sehen, das zu einer Prozessflut führen könnte und Verfahren verzögert, anstatt sie zu beschleunigen, und konstruktive Lösungen nicht so schnell zulässt, wie wir sie gerne hätten.

Sie haben gesagt, Frau Groskurt: Die Menschen müssen wissen, worauf sie sich verlassen können. Genau das wollen wir auch. Daher ist es aus unserer Sicht fragwürdig, im Gesetz festzuschreiben, dass ein Anspruch auf Integration besteht, wenn wir gar nicht wissen, wie wir das in der Praxis an allen Schulen umsetzen können. Wir haben gar nicht so viele sonderpädagogische Fachkräfte. Einen Schwerpunkt bei Schulen mit integrativem Angebot zu setzen, ist sehr wohl möglich. Dann gibt es auch mehr Wahlmöglichkeiten zwischen integrativer Erziehung und Sonderschulerziehung. Aber wir können das nicht für alle Schulen festschreiben.

Eines haben Sie schon gesagt: Das ist wirklich ein Gesetz, das uns alle betrifft. Daher finde ich es schade, dass gerade nicht so viele im Plenarsaal sind. Zwar ist insgesamt nur 1 % der Kinder behindert, aber 50 % aller über 65-Jährigen sind schon von Behinderungen betroffen. So gesehen, ist das wirklich etwas, was uns alle in großem Maße angeht.

Fazit: Auch wir wollen solch ein Gesetz. Wir wollen auch, dass es noch in diesem Jahr auf den Weg gebracht wird. Es muss aber die richtigen Inhalte haben, und es muss praktisch und finanziell auch wirklich umsetzbar sein.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat sich Frau Helmhold gemeldet. Sie haben das Wort.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ So steht es jetzt schon seit beinahe zehn Jahren im Grundgesetz. Die Lebenswirklichkeit behinderter Menschen ist davon allerdings noch weit entfernt. Offenbar gilt für diese Verfassungsaussage das, was für viele andere auch gilt, nämlich: Um vom Verfassungsanspruch zur Verfassungswirklichkeit zu kommen, muss in dieser Republik an vielen Stellen noch eine Menge Arbeit geleistet werden. Dann reicht es auch nicht, schlicht umzudenken, sondern es ist ein erhebliches Maß an Neu- und Umorganisation erforderlich.

Bei der Beschäftigung mit der Vorgeschichte dieses Antrages habe ich mich, gelinde gesagt, leicht gewundert. Diese Vorgänge erschienen mir wie eine unendliche Geschichte, geradezu ein Trauerspiel, in deren Verlauf sich insbesondere die heutigen Antragsteller nicht unbedingt mit Ruhm bekleckert haben.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Denn bereits im September 1999 legte der Landesbeauftragte für die Belange Behinderter einen Gesetzentwurf vor, der mit den Vertreterinnen und Vertretern der Behinderten und den Verbänden breit und ausgiebig diskutiert wurde. Selbst am Tag der Behinderten im Mai 2000 hat sich die damalige Sozialministerin Frau Merk nicht imstande gesehen, den Gesetzentwurf ihres eigenen Beauftragten einzubringen.