Protocol of the Session on April 21, 2005

Die Beschlussempfehlung des Ausschusses lautet auf Ablehnung. Eine Berichterstattung ist nicht vorgesehen.

In der Beratung erteile ich das Wort Frau Ursula Helmhold von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Mehrheit dieses Hauses wird heute die Fortschreibung eines Landesarmuts- und -reichtumsberichts ablehnen. Wir bedauern das sehr.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Auf Bundesebene liegt inzwischen der umfangreiche Bericht zur Entwicklung von Armut und Reichtum vor. Er ist ein konstruktiver Beitrag zur Auseinandersetzung über soziale Lebenslagen in diesem Land. Die Ergebnisse dienen nicht nur der Evaluation und Darstellung der bisherigen Wirtschafts- und Sozialpolitik, sondern auch der Konzeptionierung zukünftiger Maßnahmen. Gerade hierbei, meine Damen und Herren, bedarf es eben sehr genauer Kenntnisse der speziellen Situation der Betroffenen, um entsprechend passgenaue Maßnahmen gegen die Verfestigung von Armut, leider oft über Generationen hinaus, zu entwickeln. Wir brauchen auch in Niedersachsen - dies betont nicht zuletzt das Statistische Landesamt - eine solide Datenbasis hinsichtlich der gesellschaftlichen und sozialen Entwicklungen und lebenslagenorientierte Berichte als Grundlage einer politischen Bewertung und daraus folgender gezielter politischer Interventionen. Aber mein Eindruck ist leider, dass die Landesregierung genau an diesen Erkenntnissen gar nicht interessiert ist, weil sie ihnen vermutlich nichts entgegensetzen will oder kann. Denn was erleben wir zurzeit?

Erstens. Die blinden Menschen in Niedersachsen greifen zu Notwehrmaßnahmen und initiieren ein Volksbegehren zur Wiedereinführung des Landesblindengeldes als Nachteilsausgleich, um ihre massenweise Verweisung in die Sozialhilfe oder in den Mildtätigkeitsfonds abzuwehren.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Zweitens. Mit der Abschaffung des Pflegewohngeldes treibt die Landesregierung immer mehr alte Menschen wieder in die Sozialhilfe und ermöglicht es zudem, dass Standards in der stationären Altenhilfe heruntergefahren werden.

Drittens. Mit der Einstellung des Programms zur sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung von Wohnungslosen zum 31. August entfällt für viele Nichtsesshafte und Obdachlose die einzige Perspektive, wieder in Lohn und Brot zu kommen.

Viertens. Wir haben das Ende der beiden noch vorhandenen Gesundheitszentren in Osnabrück und Göttingen erlebt, die sich gerade auch dem Thema Armut und Gesundheit und den davon Betroffenen gewidmet haben.

Fünftens. Wir haben den Ausstieg der Landesregierung aus der externen Drogenberatung erlebt eine sehr erfolgreiche Arbeit für die mittellosen Drogenabhängigen in den Strafvollzugsanstalten, denen nicht zuletzt auch dadurch wieder eine Perspektive gewährt worden ist.

In der Behindertenhilfe steht faktisch die zweite Nullrunde an. Auch da geht es zulasten von mittellosen Menschen.

Die Wohlfahrtsverbände hatten eine zweimalige Kürzung der Ausschüttungen aus den Lotto/TotoMitteln zu verkraften mit der Folge, dass sie ihre Beratungsangebote für die Bedürftigen zurückfahren.

Dazu sparen Sie bei der Hausaufgabenhilfe. Sie sparen bei der Sprachförderung. Und darüber, was der sozialen Landschaft im nächsten Haushalt dieser Landesregierung blüht, können wir zurzeit zwar nur spekulieren. Die oben genannten Schritte sind aber sicherlich schlimme Vorboten für das, was viele Experten im Land befürchten.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Meine Damen und Herren, vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum Sie offenbar gar nicht so genau wissen wollen, wie es manchen Menschen in Niedersachsen geht. Die Vogel-Strauß-Methode ist da viel praktischer. Das sind nämlich ihre wahren Beweggründe für das Mauern bei der Frage: Machen wir einen Landesbericht zu Armut und Reichtum oder nicht? Sie haben kein Programm; sie wollen gar kein nachhaltiges Maßnahmenbündel gegen die zunehmende Armut entwickeln. Es fehlt Ihnen offenbar jedes politische Interesse daran. Sie haben kein Interesse an einem Mehr an Teilhabe und Bildungschancen für alle Bevölkerungsgruppen, insbesondere für die von Wohnungslosigkeit und Armut Betroffenen. Das ist wirklich schade; denn Bedarf gibt es genug.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Als nächster Redner hat sich Herr Kollege Nahrstedt gemeldet. Herr Nahrstedt, Sie haben das Wort.

(Thorsten Thümler [CDU]: Nun erzähl uns mal was!)

Wer möchte etwas hören? - Du?

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Die Bevölkerungsentwicklung der letzten drei Jahrzehnte hat zu einer regionalen Umverteilung der Bevölkerung nach Lebenslagen, nämlich nach Arm und Reich, und nach Lebensformen - Menschen mit bzw. ohne Kindern - geführt. Das Umland der Großstädte ist zur Familienzone der mobilen Mittelschichten geworden. Aus den Kernstädten dagegen ist die Familie mit Kindern weitgehend verschwunden. Im Umland ist der Kinderanteil deutlich höher als in den Städten. Die meisten Haushalte in den Kernstädten sind heute kleine Nichtfamilienhaushalte. Die hier verbliebenen Haushalte sind vielfach allein erziehende Mütter, in der Regel kinderreiche, nicht deutsche Familien in materieller Not und sozialer Ausgrenzung.

Die Stadtteile in den Großstädten mit dem höchsten Anteil an Kindern und Familien an der Bevölkerung sind zugleich jene mit besonders hohen Armutsquoten, hoher Arbeitslosigkeit, hohem Anteil an allein Erziehenden und besonders vielen Aussiedlern und Ausländern. In den ärmsten Stadtteilen wird infolge von Zu- und Fortzügen rein rechnerisch die Bevölkerung alle drei bis fünf Jahre einmal komplett ausgetauscht. Die Streichung der Mittel für die Projekte der Sozialen Stadt im Jahre 2005 verstärkt diesen Trend, anstatt ihn zu stoppen.

(Beifall bei der SPD)

Eine am Bürger orientierte Politik zeichnet sich dadurch aus, dass wir uns laufend für die Lebenslagen der Menschen interessieren,

(Thorsten Thümler [CDU]: Das tun wir! in einer fließenden Kommunikation mit den Bürge- rinnen und Bürgern stehen (Thorsten Thümler [CDU]: Auch das tun wir!)

und Armut sowie soziale Ausgrenzung möglichst verhindern. - Lieber Kollege, ich will auf bestimmte Sachen, die Sie gesagt haben, gar nicht eingehen. So genau können Sie nicht zugehört haben.

Die geforderte Armuts- und Reichtumsberichterstattung basiert auf dem Leitgedanken, dass eine detaillierte Analyse der sozialen Lage die notwen

dige Basis für eine Politik der Stärkung der sozialen Gerechtigkeit ist und zur Verbesserung gesellschaftlicher Teilhabe beiträgt.

(Zuruf von Bernd Althusmann [CDU])

- Herr Althusmann, die Streichung des Landesblindengeldes und die Kürzung bei den Wohlfahrtsverbänden verstärken dies eher, als dass es dies stoppt.

Wir brauchen die kontinuierliche Beobachtung und Analyse von Armut und Reichtum als Voraussetzung für eine abgestimmte Handlungsplanung und sensible Politik gegen Armut und soziale Ausgrenzung. Eine regelmäßige und fundierte Berichterstattung ist notwendig, um Probleme frühzeitig zu erkennen und darauf zu reagieren. Deshalb muss der vor mehr als sechs Jahren vorgelegte Landesbericht zu Armut und Reichtum fortgeschrieben werden.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, in Deutschland besitzen heute die reichsten 10 % aller Haushalte rund 47 % des gesamten Vermögens, und die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich zunehmend.

(Bernd Althusmann [CDU]: Und das bei Ihrer Bundesregierung!)

Armut in Deutschland ist heute vor allem die Armut der Kinder, der Jugendlichen, der jungen Frauen und der Familien.

(Bernd Althusmann [CDU]: Das ist die Bilanz von Rot-Grün!)

Dabei geht es in den seltensten Fällen um absolute Armut, weil das Existenzminimum nicht mehr gewährleistet wäre, sondern um relative Armut. Sie stellt ein Maß an sozialer Ungleichheit bzw. Benachteiligung dar, das als ungerecht und inakzeptabel angesehen werden muss.

Als Indikator für Unterversorgung und soziale Benachteiligung kann die Einkommensarmut gelten. Als arm bezeichnen wir jemanden, der weniger als die Hälfte des bedarfsgewichteten durchschnittlichen Nettoeinkommens für sich zur Verfügung hat. Das Referenzeinkommen in Niedersachsen betrug im Jahre 2003 1 125 Euro. Damit beginnt die Armutsschwelle bei uns bei 563 Euro. Anhand dieses Kriteriums wurde für Nordrhein-Westfalen festgestellt, dass das Armutsrisiko der weiblichen Bevöl

kerung höher ist als das der männlichen. Das höchste Armutsrisiko haben Kinder. Und es gilt: Je jünger die Kinder sind, desto höher der Anteil der Armen. 40 % der Bevölkerung, die in Armut leben, sind Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren.

(Bernd Althusmann [CDU]: Wieder Bilanz der Schröder-Regierung!)

Arme Kinder werden häufiger krank, und neben den materiellen Dingen fehlt es häufig an Zuwendung, Erziehung und Bildung. PISA hat gezeigt

(Zuruf von der CDU)

- das Dazwischenreden nutzt gar nichts; ich werde es Ihnen trotzdem vermitteln -: Bildungschancen werden vererbt. Die Chancen eines Kindes aus einem finanziell starken Haushalt, ein Studium aufzunehmen, sind etwa siebenmal höher als eines Kindes aus einem finanzschwachen Elternhaus. Wer eine aufrichtige Politik für die Menschen in unserem Land gestalten will, wer wirklich ernsthafte Lösungen für die gravierenden Probleme unseres Landes sucht, braucht Wahrheit und Klarheit, braucht einen aktuellen Armuts- und Reichtumsbericht für unser Land, aus dem die soziale Situation der Menschen in Niedersachsen deutlich wird. Wir brauchen aktuelles Datenmaterial, auf dem eine Politik sozialer Gerechtigkeit aufbauen kann.

Herr Nahrstedt, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Matthiesen?

Nein, meine Zeit rennt weg. - Im Dezember 1996 hatten CDU, Grüne und SPD die Landesregierung einstimmig aufgefordert, einen Landesbericht zur Entwicklung von Armut und Reichtum in Niedersachsen vorzulegen. Der Bericht wurde 1998 von der Landesregierung dem Parlament vorgelegt. Und nun, liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU und FDP, verhindern Sie die Fortschreibung dieses Berichtes.

(Bernd Althusmann [CDU]: Was ha- ben Sie denn bis 2003 gemacht?)

Eine sozial gerechte Politik muss vor dem Hintergrund dessen, was ich eben kurz beschrieben habe, gestaltet werden. Dies bedeutet: Wir brauchen

aktuelles Datenmaterial zur Entwicklung von Armut und Reichtum auch in Niedersachsen.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Ein Armuts- und Reichtumsbericht über den sozialen Zustand unserer Gesellschaft ist kein Luxusbericht, den man in enger werdenden Zeiten einfach beiseite schieben kann. Das Aufzeigen von Armut und Reichtum in einer Gesellschaft soll mithelfen, menschliches Miteinander zu entwickeln, und soll aufzeigen, wie Starke den Schwachen helfen können. Wir brauchen die Fortschreibung als Voraussetzung für eine am Menschen orientierte Politik; denn Armut - und hier vor allem die Kinderarmut - in einem reichen Land wie dem unseren ist ein Skandal und zutiefst unmoralisch.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN - Bernd Althusmann [CDU]: Sie sind am Ende, Herr Kollege!)