Protocol of the Session on September 17, 2004

Meine Damen und Herren, die Väter und Mütter unseres Grundgesetzes haben bereits im Grundgesetz das Grundprinzip der direkten Demokratie verankert. In Artikel 20 heißt es: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“ Im Unterschied zu den Wahlen sind die Abstimmungen bis heute nicht geregelt. Allerdings bestand auch damals schon die Auffassung, dass der Begriff „Abstimmung“ später durch den Gesetzgeber ausgefüllt werden müsse. Die Zeit ist reif, das zu tun.

Alle 16 Bundesländer, auch Niedersachsen, haben plebiszitäre Elemente in ihrer Verfassung verankert. Im Bundestag haben sich neben den Grünen und der SPD auch CSU und FDP für mehr direkte Demokratie ausgesprochen. Nicht nur sie wollen das. Mehr als 80 % der Bevölkerung wollen es ebenso. Lediglich die CDU-Führung lehnt weiterhin jede Form von Bürgerbeteiligung, die über Wahlen hinausgeht, kategorisch ab.

Mehr Demokratie, meine Damen und Herren, heißt: mehr Bürgerbeteiligung. Politik darf nicht über die Köpfe der Bürgerinnen und Bürger hinweg gemacht werden, sondern vor allem mit ihnen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Ein modernes, demokratisches Gemeinwesen braucht Bürgerengagement. Ohne aktive, kritische, engagierte Bürger lässt sich auf Dauer kein Staat machen. Volksbegehren und Volksentscheide stärken dieses Engagement und die Identifikation mit dem Gemeinwesen. Sie sind der entscheiden

de Schritt, um eine aktive Bürgergesellschaft zu entwickeln.

Auch im Niedersächsischen Landtag wird von allen Fraktionen - Sie eingeschlossen, meine Damen und Herren von der CDU - zunehmend mehr bürgerschaftliches Engagement eingefordert. Sie betonen bei jeder sich bietenden Gelegenheit die Notwendigkeit eines Umdenkens in der Bevölkerung, hin zu mehr Eigenverantwortung und zu mehr Eigenbeteiligung. Das Vertrauen in die Fähigkeit der Mitverantwortung erschöpft sich bei Ihnen leider jedoch nur in einem Kreuzchen auf einem Wahlzettel. Die Aussage des früheren CDUGeneralsekretärs Peter Hintze, er halte Volksabstimmungen für einen Irrweg, der in die mückigen Sümpfe von Stimmungsentscheidungen führe, spricht für sich.

Meine Damen und Herren, eines geht nicht - das sage ich in aller Deutlichkeit -: Es reicht nicht aus, unsere Verfassung nur für den Fall der Volksabstimmung über die Europäische Verfassung zu ändern. Es wäre den Bürgerinnen und Bürgern nicht zu vermitteln, wenn das Grundgesetz lediglich für diese eine Abstimmung geändert werden würde, während alle anderen Fälle einer direkten Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern ausgeschlossen blieben.

Lange, sehr lange hat Europa um eine Verfassung gerungen. Herausgekommen ist ein Kompromiss für einen ganzen Kontinent, bei dem alle Federn lassen mussten. Ich verhehle nicht, dass nach unserer Auffassung ein zeitgleiches europaweites Referendum optimal gewesen wäre. Dieses Ziel ist allein aus Zeitgründen nicht mehr zu erreichen. Bereits jetzt steht fest, dass mehr als 50 % der EUBürgerinnen und -Bürger über die Verfassung abstimmen werden. Würde in Deutschland eine Volksabstimmung durchgeführt werden, würden insgesamt mehr als 70 % der EU-Bevölkerung direkt über die Verfassung entscheiden.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Ich bin sicher, dass die Menschen in Deutschland kein Verständnis dafür haben, dass Franzosen, Spanier und Briten in einem Volksentscheid über die EU-Verfassung abstimmen werden, dass diese Möglichkeit in Deutschland jedoch nicht eingeräumt wird.

Im zurückliegenden Europa-Wahlkamp hat sich gezeigt, dass viele der Verlockung erlegen waren, nationale Themen in den Vordergrund zu stellen.

Wer als politischer Bewerber, meine Damen und Herren, den Anlass der Wahl ignoriert, darf sich allerdings nicht wundern, wenn sich eine wachsende Zahl von Wählern und Wählerinnen ebenfalls ignorant verhält. Wir haben als Grüne im Europawahlkampf die europäischen Themen in den Vordergrund gestellt. Dieses Verhalten wurde von unseren Wählern und Wählerinnen auch honoriert.

Ein Referendum über die Europäische Verfassung bietet die Chance, mit der Bevölkerung in einen intensiven sachbezogenen Dialog über die Vorteile der europäischen Integrationspolitik und über die weitere Perspektive der EU zu treten. Das wird eine anspruchsvolle Aufgabe für alle politischen Parteien sein.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Bei aller Kritik an bürokratischen Auswüchsen in Berlin, bei allen Vorbehalten gegenüber einer sehr forschen Liberalisierungspolitik werden wir jedoch am Ende die Bürger und Bürgerinnen für eine Zustimmung zu der Verfassung gewinnen müssen.

Niedersachsen ist gefordert, sich im Bundesrat zu der Gesetzesinitiative der rot-grünen Bundesregierung zu verhalten. Diese Entscheidung wollen wir nicht allein der Landesregierung überlassen, sondern dieses Parlament muss darüber mit entscheiden. Ich bin im Übrigen auf die Position des Ministerpräsidenten Wulff gespannt, der in dieser Frage bisher ungewohnt zurückhaltend agiert hat.

Meine Damen und Herren von der FDP, Sie werden sich nicht länger um eine Entscheidung drücken können. Sie müssen jetzt Farbe bekennen. Sie müssen nun zeigen, ob Ihre Forderung nach einem EU-Referendum nur populistisches Wahlkampfgeplänkel gewesen ist oder ob Sie diese Forderung auch konsequent umsetzen wollen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Für die CDU-Fraktion hat der Abgeordnete Dr. Noack um das Wort gebeten. Herr Dr. Noack, Sie haben das Wort.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zwar haben die Grünen soeben eine Seniorenvereinigung gegründet, aber gegenüber Verfassungsstrukturen haben sie immer noch eine

liebenswerte Unbekümmertheit und eine spontane Lust zur Veränderung.

(Hans-Jürgen Klein [GRÜNE]: Das Land braucht Veränderungen!)

Nun muss man natürlich sagen, dass dieser Antrag, gekoppelt an die Vorstellung eines Referendums zur Europäischen Verfassung, einen gewissen Charme hat. Diesem Charme ist u. a. auch der Müllermeister Michael Glos schon erlegen, dem man nun nicht gerade Spontaneität im äußersten vorwerfen kann. Es ist also gewissermaßen unverdächtig, einen solchen Antrag zu stellen. Aber, wie bei spontanen Aktionen ja so häufig, sind diese mit heißer Nadel gestrickt.

Schon die Überschrift ist fraglich. Denn sie lautet „Direkte Demokratie ins Grundgesetz“. Wie Sie, Frau Kollegin Langhans, zutreffend ausgeführt haben, taucht der Begriff Abstimmung bereits in Artikel 20 Abs. 2 Satz 2 auf. Aber entgegen Ihrer Auffassung hat das Grundgesetz bereits eine Form der Abstimmung geregelt.

(Georgia Langhans [GRÜNE]: Eine!)

- Ja, das haben Sie unterschlagen. Das betrifft die Neugliederung des Bundesgebietes. - Das steht in Artikel 29. Es lohnt sich immer, in das Grundgesetz zu schauen. Das erspart lange Diskussionen.

(Beifall bei der CDU)

Nun ist die nächste Frage, wie lautet denn die Begründung dieses Antrages. Der erste Absatz dieses Antrages ist bemerkenswert. Darin steht nämlich:

„Es gibt gute Gründe, das repräsentativ-parlamentarische System der Bundesrepublik Deutschland um plebiszitäre Elemente zu erweitern. Die Instrumente Volksbegehren, Volksinitiative und Volksentscheid sind dabei umfassend in das Grundgesetz aufzunehmen.“

Das ist ein typischer Zirkelschluss. Denn Sie sagen nicht, welche guten Gründe es denn gebe; Sie schreiben nur: Es gibt sie. Weil es gute Gründe gibt, muss man sie aufnehmen. - Nein, das ist juristisch gesehen ein Zirkelschluss und staatpolitisch allemal. Da sind wir uns, meine ich, einig. Wenn man an die bewährten Strukturen des Grundgesetzes geht, wenn man sie ändern will - angesichts der Erfahrungen der Weimarer Repu

blik und des Dritten Reiches sind ja diese Strukturen von dem Parlamentarischen Rat mit Bedacht gewählt worden, und sie haben sich bewährt -, dann muss man in der Tat gute Gründe dafür vorlegen. Dieser Antrag weist diese Gründe nicht auf. Sie sind in der Darlegungslast; der sind Sie bisher nicht gerecht geworden.

(Beifall bei der CDU)

Die Antragsbegründung nennt diese guten Gründe nicht, sondern sie nennt den Anlass, nämlich die Einigung des Europäischen Rates und das sich anschließende Ratifizierungsverfahren. Das sei, so wörtlich, „eine ausgezeichnete Gelegenheit, dieses Grundgesetz... zu ändern“. Warum ausgezeichnet? - Darüber gibt es keine Angabe. Warum das so eine tolle Gelegenheit ist, dass man gleich alles ändern muss, und dass man umfassend Plebiszite einführen soll - auch darüber schweigt sich dieser Antrag aus.

Nun kann man ja spekulieren, was Sie alles haben wollen. Fangen wir doch einmal an. Hartz IV zur Abstimmung gestellt - ich bin gespannt, was bei einem Volksentscheid über Hartz IV herauskommen würde.

(Ralf Briese [GRÜNE]: Das kann ich Ihnen sagen!)

Oder aber Rechtschreibreform. Wir könnten das einmal zur Abstimmung stellen. Aber, Herr Briese, wir könnten auch einmal über Studiengebühren abstimmen lassen oder über Abgeordnetenvergütung. - Alles denkbare Abstimmungsgegenstände!

Nun wollen Sie allen Ernstes über den Vertrag für eine Verfassung in Europa abstimmen lassen. Ich habe das mitgebracht; die meisten kennen das. Sie haben sorgfältig gelesen, was drin steht. Und nun wollen Sie dieses Werk zu einer Ja-/Nein-Abstimmung stellen. Das macht deutlich, das dies nicht durchdacht ist. Bei der Frage geht es nicht darum, dass Sie tatsächlich inhaltlich darüber abstimmen wollen, sondern Sie wollen eine Bekenntnisabstimmung haben. Es ist eine äußerst gefährliche Sache, in einem funktionierenden Staat lediglich Bekenntnisse zu machen.

Richard von Weizsäcker hat gesagt: Die Bevölkerung ist zu groß, und die Probleme sind zu komplex. - Das ist eine vernünftige Erwägung.

(Ralf Briese [GRÜNE]: Zu negativ!)

Sie kennen die Überlegungen von Niklas Luhmann, der gesagt hat: Menschen tendieren dazu, Komplexität durch Emotionen zu reduzieren. Oder im Klartext: Wenn es unübersichtlich wird, dann entscheiden die Leute aus dem Bauch. Man muss sehr vorsichtig sein, ob man das wirklich will. Ich persönlich sehe da große Probleme.

Sie wissen, dass die repräsentative Demokratie, die wir haben, durch ein hohes Maß an politischer Entscheidungsfähigkeit und ein hohes Maß an politischer Stabilität ausgezeichnet ist. Ich persönlich habe erhebliche Bedenken, ob man durch spontane Entscheidungen, durch solche Ja-/Nein-Abstimmungen hier eine Änderung herbeiführen sollte. Parlamentarische Demokratie ist ein lernendes Verfahren. Sie haben erlebt, wie wir z. B. die Materie Fusion Lüneburg im Ausschuss abgeändert haben. Wir haben um vernünftige Lösungen gerungen. Im Ergebnis ist, in Teilbereichen, etwas ganz anderes herausgekommen als das, was der Gesetzesvorschlag enthielt. Das haben Sie in einer Volksabstimmung nicht. Sie können dieses lernende Verfahren nicht durchführen.

Und es ist ein Problem der politischen Verantwortlichkeit. Wenn die SPD, wie in der Vergangenheit in Niedersachsen, schlechte Politik abliefert, dann wird sie abgewählt. Sie trägt die Verantwortung. Wenn wir keine gute Politik machen würden, dann würden wir ebenfalls zur Verantwortung gezogen. Wer zieht das Volk zur Verantwortung? - Das ist ein Problem.

Sie wissen auch, dass eine ganze Fülle von Entscheidungen der Verfassungsgesetzgeber des Grundgesetzes der normalen Mehrheitsentscheidungen entzogen sind. Das ist auch sinnvoll. Die Juristen sprechen von Rule of Law. Rule of Law bedeutet, eine ganze Fülle von Staatsgrundentscheidungen ist der Mehrheitsentscheidung entzogen. Was passiert denn nun, wenn Sie eine Entscheidung durch das Volk herbeiführen? Ist das ein revolutionärer Akt, der zu einer neuen Republik führt? Ist es das? Wollen Sie das wirklich? - Das sind Dinge, die man durchdenken muss.

Herr Dr. Noack!

Nein, ich lasse keine Zwischenfrage zu. Ich werde sonst nicht fertig. Das ist ein ganz wichtiges Thema.

Die CDU-Fraktion ist der Auffassung, dass gerade in den Städten, Kreisen, Kommunen und Ländern Bürgerinnen und Bürger eingeladen sind, durch direkte Beteiligung an konkreten Projekten die Gesellschaft mitzugestalten. Wer mehr Bürgerbeteiligung ermöglichen möchte, muss deshalb verstärkt dort ansetzen, wo die meisten Menschen den Bezug zu ihrem Umfeld erfahren. Dort werden die Entscheidungen getroffen, die die Bürger konkret in ihren Lebensbereichen betreffen. Deswegen halten wir die Einführung auf Bundesebene für den falschen Weg.

Eines ist klar: Vielfach resultiert der Wunsch, Plebiszite einzuführen, aus der Erwägung, dass die Regierung schlecht sei, dass man sie durch das Volk dahin bringen müsse, wo der richtige Weg ist. Ich kann Ihnen nur eines sagen: Natürlich haben wir eine Regierung in Berlin, und sie macht schlechte Politik. Dort wird es einen Volksentscheid im Jahr 2006 geben - das kann ich Ihnen versprechen -, und Sie werden abgewählt. - Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU)

Für die SPD-Fraktion hat die Abgeordnete Grote um das Wort gebeten. Ich erteile es ihr.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vorab kann ich feststellen, dass die SPDFraktion dem vorliegenden Antrag aufgeschlossen gegenübersteht. Herr Dr. Noack, das ist keine spontane Reaktion.