Protocol of the Session on July 11, 2007

Je nachdem, welche Statistik man zugrunde legt, müssen wir davon ausgehen, dass jeder sechste oder jede siebte Beschäftigte in Deutschland im Niedriglohnsektor tätig ist. Niedriglohnsektor heißt

nicht, dass es sich um Berufsanfängerinnen und Berufsanfänger handelt. Es heißt nicht, dass es Menschen ohne Qualifikation sind. Mehr als zwei Drittel von ihnen haben eine Berufsausbildung abgeschlossen. Ein gewichtiger Teil verfügt sogar über einen wissenschaftlichen Abschluss. Gleichwohl stecken sie in einer Einkommensfalle. Das ist eine prekäre Situation. Ich finde, das ist ein Skandal für diese so reiche Industriegesellschaft.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Wir sind nicht bereit, zu akzeptieren, dass mehr als 2 Millionen Menschen voll erwerbstätig sind und ihr Einkommen gleichwohl niedriger ist, als wenn sie auf Sozialhilfe oder Arbeitslosengeld II angewiesen wären. Das ist nicht akzeptabel. Für uns gilt der Satz: Leistung muss sich lohnen.

(Beifall bei der SPD und Zustimmung bei der FDP)

Wie wollen wir den sozialen Zusammenhalt in dieser Gesellschaft gewährleisten, wenn immer mehr Menschen zu der Erkenntnis kommen, ihre Leistung lohnt sich nicht, ihr Arbeitsvermögen wird nicht respektiert, sie werden herausgedrängt und ihnen wird keine Teilhabe eingeräumt? Das ist ein Skandal, den wir nicht mitmachen. Wir werden so lange an diesem Thema bleiben, bis das endlich beseitigt wird.

(Beifall bei der SPD)

Gerade die Mitglieder der Regierungsfraktionen erzählen uns immer etwas von Recht und Ordnung. Sie sind für Recht und Ordnung. Dann seien Sie doch auch einmal für Recht und Ordnung auf dem Arbeitsmarkt! Der hat das auch verdient.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN - David McAllister [CDU]: Sie wollen die Gewerkschaften ent- machten!)

- „Die Gewerkschaften entmachten“ - das ist ganz klug, Herr McAllister!

(David McAllister [CDU]: Das wollen Sie ja wohl!)

Wo sind denn Ihre Einwände? Herr Hirche hat bei der Einbringung des Antrags hier genau diesen Bezug hergestellt, dies sei ein Angriff auf die Tarifautonomie, auf die Gewerkschaften.

(David McAllister [CDU]: Richtig! Ge- nau! Sie wollen die Gewerkschaften entmachten!)

Meine Damen und Herren, das Verhältnis von Tarifautonomie und der Setzung sozialer Normen ist in Deutschland anders gestaltet, als Sie es hier darstellen wollen. Das ist in anderen Bereichen doch auch so. Nehmen Sie als Beispiel das Bundesurlaubsrecht. Der Gesetzgeber setzt Mindestnormen. Dann ist es Sache der Tarifvertragsparteien, auszuhandeln, zu gestalten und aufgrund der jeweiligen Gestaltungsmöglichkeiten zu besseren Ergebnissen für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu kommen. Das ist praktizierte Tarifautonomie, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Dann kommt der Ministerpräsident und erzählt, das könne man abschließend über den Tatbestand der Sittenwidrigkeit regeln. Nein, meine Damen und Herren, das kann man darüber nicht regeln. Bei uns gibt es Löhne von unter 5 Euro, unter 4 Euro und sogar von unter 3 Euro. Diese Entlohnungen sind nicht sittenwidrig, liegen aber dramatisch unterhalb von 5 Euro. Das ist nicht akzeptabel. Davon kann man nicht leben. Deshalb sind wir nicht bereit, das zu akzeptieren.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Sie müssen sich jetzt entscheiden, wie Sie damit umgehen wollen. Am 31. März erklärte Herr Wulff in der Chemnitzer Freien Presse, er sei für Mindestlöhne. Vor gut einem Jahr hat er hier noch herumgeholzt, Mindestlöhne würden Arbeitsplätze in Niedersachsen vernichten.

Ich habe gelesen, im Präsidium der CDU habe es eine spannende Debatte gegeben. Milbradt habe erklärt, Mindestlöhne seien wie Fettflecke: Wenn eine kleine Stelle komme, breite sie sich immer wieder aus. Deshalb müsse man den Anfängen wehren. - Ihr Ministerpräsident ist der Meinung, den Anfängen könne man im Moment nicht wehren, weil wir am 27. Januar Landtagswahl haben. Bis dahin sei er begrenzt für Mindestlöhne. Hinterher könne man wieder mit ihm darüber reden.

(Bernd Althusmann [CDU]: Das ist bil- lig! - Weitere Zurufe von der CDU)

Sie müssen hier einmal erklären, wie Sie das darstellen. Das, was die SPD-Fraktion in ihrem Antrag aufgeschrieben hat, ist höchst moderat. Das, was die CDU in den Koalitionsausschüssen gemacht hat, ist minimalistisch bis dorthinaus.

(Beifall bei der SPD - Bernd Althus- mann [CDU]: Schwacher Beifall!)

Wir erwarten von Ihnen, dass Sie diesem Antrag zustimmen, damit Niedersachsen zusammen mit anderen Ländern, die gerade etwas Ähnliches vorbereiten, der Bundespolitik und der BundesCDU im Bundesrat einmal ordentlich Feuer machen kann,

(Bernd Althusmann [CDU]: Dafür sind Sie ja der Richtige!)

damit Menschen, die in Deutschland und in Niedersachsen arbeiten, endlich auch die angemessene Entlohnung für ihr Tun bekommen.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Darum geht es. Stimmen Sie zu!

(Starker, lang anhaltender Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Jetzt hat Herr Dinkla von der CDU-Fraktion das Wort.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Jüttner, man hat bei Reden immer die Wahl zwischen Florett und Säbel. Sie haben den Säbel gewählt. Ich mache es auch so.

Wie fragwürdig politische Forderungen sein können und wie stark Reden und Handeln voneinander abweichen können, zeigt die unbestrittene Tatsache, dass die SPD-Bundestagsfraktion jahrelang Zeitarbeitskräfte als Sekretärinnen zu Bedingungen beschäftigt hat, die in der SPD eigentlich als sittenwidrig eingestuft werden.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP - Bernd Althusmann [CDU]: Das ist un- erhört! - David McAllister [CDU]: Das gibt es doch nicht!)

Sie lagen deutlich unter dem DGB-Zeitarbeitstarif. Dadurch wird die Kraft der Argumente der SPD in Berlin in Sachen Mindestlohn nicht glaubhafter. Sie, Herr Jüttner, stehen hier insofern auch als Vertreter der SPD für Doppelmoral in dieser Diskussion.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Wie sieht denn die Ausgangssituation auf der politischen Ebene aus, die darüber zu entscheiden hat? - Mitte Juni hat es einen Kompromiss zwischen Union und SPD gegeben, der die Basis für das weitere Handeln ist. Es geht um die Einbeziehung weiterer Branchen in das Entsendegesetz - mit einer Tarifbindung von mehr als 50 %, das ist klar -, es geht um die Aktualisierung des Gesetzes über die Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen, datiert von 1952. Damit kann man Mindestarbeitsbedingungen festsetzen, wenn dies - so steht es im Gesetz - zur Befriedigung der notwendigen und wirtschaftlichen Bedürfnisse der Arbeitnehmer erforderlich erscheint. Beide Vereinbarungen, also die Ausweitung des Anwendungsbereiches des Entsendungsgesetzes und die Novellierung des anderen Gesetzes, sind Schritte in die richtige Richtung.

Dass gehandelt werden muss, wird wohl niemand ernsthaft bestreiten wollen und können. Es gibt - das sage ich hier ausdrücklich - Fehlentwicklungen bei der Entgeltsituation für Arbeitnehmer in bestimmten Branchen und auch in bestimmten Regionen, die inakzeptabel sind.

Wir lassen uns aber als CDU nicht in eine politische Ecke drängen, als wären wir auch vor dem Hintergrund der EU-Erweiterung für das freie Spiel der Kräfte auf dem Arbeitsmarkt. Lohndumping, rechtlich fragwürdig organisierte Billigkonkurrenz aus dem Ausland und eine Arbeitssituation, in der beispielsweise auch für das Reinigen von Zimmern in sehr guten Hotels nur Stundenlöhne von ca. 3 Euro gezahlt werden, die dann von Vater Staat mit Transferleistungen und ALG II aufgestockt werden müssen und sollen, sind nicht das, was die CDU will, und das heißen wir auch nicht gut.

(Zustimmung bei der CDU - Walter Meinhold [SPD]: Was wollen Sie denn?)

Es kann überhaupt keine Frage sein - Sie haben es angesprochen -, dass bei sittenwidrigen Entgeltzahlungen die Verantwortlichen juristisch belangt werden müssen. Dies wird neu definiert wer

den. Das ist in der Diskussion, Herr Jüttner, das wissen Sie auch. Aber zweifellos sind die Wertschöpfung und die Arbeitssituation von Branche zu Branche sehr unterschiedlich. Deshalb kann ein einheitlicher, vom Staat festgesetzter Mindestlohn nicht die Lösung sein.

(Wolfgang Jüttner [SPD]: Das steht nicht in unserem Antrag!)

Dies würde zum Verlust von Arbeitsplätzen führen, und das kann eigentlich niemand wollen.

(Beifall bei der CDU)

Herr Jüttner, die Position der SPD bleibt mir etwas rätselhaft. Oder man begründet sie mit Wahltaktik. Es ist schon eine merkwürdige Politik, wenn man nachts in Berlin gemeinsam einen Kompromiss beschließt und schon am nächsten Morgen massive Kritik daran anbringt; Herr Müntefering sei hier als Beispiel genannt. Sie haben ja in den nächsten Tagen nach dem Kompromiss gesagt, Herr Jüttner, dies sei ein Einstieg in den Mindestlohn. Aber Sie haben kein Wort darüber verloren, dass der Kompromiss vor allem eines bedeutet: Die Lohnfindung ist Sache der Tarifparteien und muss auch Sache der Tarifparteien bleiben.

(Beifall bei der CDU und bei de FDP)

Dafür gibt es auch gute Gründe; denn die Arbeitnehmer und Arbeitgeber wissen in der Regel am besten, in welchen Branchen Handlungsbedarf besteht und in welchen nicht. Die CDU will die Tarifautonomie stärken.

(Wolfgang Jüttner [SPD]: Das ist et- was ganz Neues!)

Wir wollen keine Entmachtung der Tarifpartner durch staatliches Handeln.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Herr Jüttner, wir haben im Gegensatz zu anderen EU-Ländern eine Situation im Hinblick auf die Tarifbindung, die von der in anderen Ländern extrem abweicht. Während die skandinavischen Länder Tarifbindungen und Organisationsgrade von über 90 % haben und beispielsweise in Österreich die sogenannte Kammerpflichtmitgliedschaft besteht und damit auch eine klare Tarifbindung vorhanden ist, bricht bei uns die Tarifbindung mehr und mehr weg. Dies ist Fakt und muss man so deutlich sagen. Der Anteil der Beschäftigten mit Tarifbindung liegt unter 50 %. Nur noch jeder dritte Betrieb in

Deutschland ist an einen Flächentarifvertrag gebunden. Auch wenn man die Firmentarifverträge, die ja auch mit den Gewerkschaften ausgehandelt sind, dazurechnet, bleibt es im Ergebnis eine völlig andere Ausgangssituation als in anderen Ländern.