Protocol of the Session on May 23, 2019

Und auch auf diese Entwicklung – und da trennen sich dann unsere Wege – bin ich sogar stolz und dafür dankbar, weil das nämlich zeigt, dass ein Grundgesetz aus dem Jahr 1949 nicht dazu führt, dass eine Gesellschaft völlig versteinert und verharrt, sondern dass wir in der Lage sind, mit einem Text trotzdem lebendig in den jeweiligen Zeiten und den Veränderungen von Zeiten weiterzuleben, und sich auch Veränderungen von gesellschaftlichen Realitäten abbilden. 1949 wäre kein Mensch auf die Idee gekommen, darüber nachzudenken, wie eigentlich Computer mit meinen Daten umgehen dürfen oder wie Menschen ihre Computer mit meinen Daten umgehen lassen dürfen, das ist die wahre Formulierung.

Also wenn ich ein Recht auf informationelle Selbstbestimmung mal unter ganz skurrilen Umständen in den 80er-Jahren anschaue, dann ist das ein Signal dafür, dass genau dieses Grundgesetz lebt. Und das Grundgesetz hat man, als es entstanden ist – im Übrigen breit durch alle beteiligten Kreise getragen, ich sage mal, vom durchaus sehr konservativen Lager bis zum damals durchaus noch kommunistisch-sozialistischen Lager, die alle in der damaligen parlamentarischen Debatte und zuvor mitgewirkt haben –, auch ganz bewusst um Passagen ergänzt, offengehalten, die manchem heute fremd scheinen.

Eine solche Passage ist die, auf die Berlinerinnen und Berliner mit ihrer Initiative abstellen. Die sagen, es gibt einen Artikel 15 Grundgesetz. Da hat es in meinem Studium einen einzigen Hinweis gegeben, der hieß nämlich „ist noch nicht angewendet worden“, Punkt. Und wenn Sie in die Kommentarliteratur schauen, dann sind Sie mit dem, was Sie nachlesen können – Kommentare sind für Juristen das, wo drinsteht, was andere glauben, was wir Juristen da reinlesen müssten, im Übrigen gibts dann kluge Hinweise, welche Gerichte was dazu geschrieben haben, also ein bisschen die Sekundärliteratur der Juristerei –, wenn Sie dort hineinschauen, werden Sie ebenfalls sehr überschaubare Kommentierungen finden.

Es gibt einen Artikel 14, der das Eigentum schützt, und das ist im Übrigen ein Teil sozialer Marktwirtschaft. Es

gibt eine klare Eigentumsgarantie dieses Grundgesetzes. Aber wenn Sie in Artikel 14 hineinschauen, gibt es ein wunderbares Prinzip von „Checks and Balances“, nämlich ein Prinzip, das auf der anderen Seite sagt – und da habe ich Angst bei dem Begriff „lupenreine soziale Marktwirtschaft“,

(Dr. Ralph Weber, AfD: Gibt es nicht.)

das ist oft der Versuch zu umschreiben, dass dieser andere Teil des Artikels 14 sagt, Eigentum verpflichtet –, sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen, dass diese in der Abwägung der Mütter und Väter, heute muss man wahrscheinlich sagen Urgroßväter und Urgroßmütter, unseres Grundgesetzes vorherrschende, im Übrigen aus den Erfahrungen der Weimarer Republik und der schrecklichen Erfahrung des Nationalsozialismus hergeleitet, dass ganz bewusst ein Gleichgewicht hergestellt wurde und das Grundgesetz mit Artikel 15 und im Übrigen auch mit Artikel 14 durchaus Enteignungsmöglichkeiten offengehalten hat.

Der entscheidende Unterschied ist ja der Versuch, jetzt sozusagen zu sagen, wir sind die Wahren, und dann gab es die DDR, und ihr wollt zurück in die DDR. Da gibt es doch in Wahrheit in diesem Saal keinen, nun hören Sie doch auf, sondern das Grundgesetz selbst sagt, natürlich kann es Situationen geben,

(Zuruf von Peter Ritter, DIE LINKE)

wo ich das grundsätzlich, grundsätzlich sehr deutlich geschützte Eigentum gleichwohl anfasse.

Zumindest in meinem Arbeitsbereich mit den Kolleginnen und Kollegen spielt schon Artikel 14 mit seinen Enteignungsmöglichkeiten leider hin und wieder eine Rolle. Er hat bei den Vorgängerinnen und Vorgängern in meinem Amte, den Kolleginnen und Kollegen, die ich heute noch bei mir habe, eine Rolle gespielt, als wir eine A 20 gebaut haben. Natürlich haben wir Grundstücke enteignet. Am Ende gibt es eine Entscheidung im Sinne des Gemeinwohls, zu sagen, wir brauchen diese Infrastruktur. Da gibt es Menschen, die aus ganz verschiedenen Gründen – und die will ich nicht moralisch bewerten, um da nicht missverstanden zu werden –, aber es gibt Menschen, die sagen, ich werde mich nicht beugen. Und dann enteignen wir.

(Zurufe von Marc Reinhardt, CDU, und Torsten Renz, CDU)

Das kann ich für viele andere Bereiche fortsetzen, und momentan haben wir dann eher die Radwege, bei denen es uns zuweilen an die Grenze dieses Instrumentes führt, im Übrigen – noch mal – auch da mit nachvollziehbaren Erwägungen des Einzelnen. Trotzdem sagen wir, wir glauben, dass wir diese Infrastruktur benötigen.

Also Enteignung ist dem Grundgesetz nicht fremd, aber – und das ist der wesentliche Unterschied zu anderen Staatssystemen – dieses Grundgesetz stellt erstens Bedingungen auf, zweitens, heute Morgen umfänglicher zitiert, gibt es Rechtsschutz gegen solche Entscheidungen, es gibt klare, tatbestandlich definierte Voraussetzungen, unter denen es überhaupt erst geschehen darf, und drittens, es gibt einen Entschädigungsanspruch. Das ist der entscheidende Teil. Ich verliere nicht willkürlich ohne Gegenleistung, werde im Zweifel verhaftet, nur um

mir etwas wegzunehmen, sondern es gibt klare geordnete Vorgänge, in denen sich das abspielt. Das sind die wahre Leistung und Stärke des Grundgesetzes, nicht dem einen oder dem anderen Extrem nachzugehen, sondern einen Grundsatz festzulegen und trotzdem durch gemeinwohlorientiertes Handeln soziale Marktwirtschaft sicherzustellen und zu ermöglichen.

Und Artikel 15, der bisher nie Anwendung gefunden hat, bei dem man im Übrigen auch sagen kann, es wäre ein spannendes juristisches Experiment, sich da hineinzubegeben – ob wir jetzt nicht lieber erst mal Doktorarbeiten dazu schreiben lassen sollten, bevor man es anwendet, lasse ich einfach mal offen, es ist nach meinem Gefühl schon so, dass man da noch ein bisschen juristisches Neuland hätte –,

(Zuruf von Bernhard Wildt, Freie Wähler/BMV)

dieser Artikel gibt einen … Ich glaube, Herr Kühnert hat da gar nicht zwingend eine juristische Debatte im Blick gehabt, sondern eine politische, und auf die komme ich gleich. Aber ich will gern die juristische am Tag des Grundgesetzes im Blick behalten.

Artikel 15 ist eben reingeschrieben worden, weil die Mütter und Väter des Grundgesetzes sagten, und es mag Güter geben in einer Gesellschaft. Wenn Sie reinschauen in Artikel 15 sind es Grund und Boden, die nicht vermehrbaren Güter Grund und Boden. Er spricht von Naturschätzen und von Produktionsmitteln, aus damaliger Sicht – heute würde man wahrscheinlich Daten mitreinschreiben –, aus damaliger Sicht die großen zentralen Dinge, mit denen man Gesellschaft steuert und weil man das für Produktionsprozesse benötigt, und sagt dann, unter ganz extremen Bedingungen können wir uns vorstellen, dass man auch da eingreift, und dann gilt wieder – Komma –, unter den vielleicht interpretationsauslegungsfähigen Tatbestandsmerkmalen, natürlich gibt es Rechtsschutz und natürlich müsste es Entschädigung geben, denn Artikel 15 sieht Gleiches vor.

Um an den Rahmen, in dem wir uns bewegen, damit es nicht ganz so sehr nach einem „Das Grundgesetz will das alles nicht“ aussieht, sondern das Grundgesetz hat einen sehr ausgewogenen Korridor gewählt und wollte sich auf viele Eventualitäten, so verstehe ich es an der Stelle zumindest, vorbereiten. Das wollte Artikel 15 nicht zum Regelfall machen, in Artikel 14 die Enteignung nicht zum Regelfall machen, also es wollte der Gesellschaft Möglichkeiten lassen, reagieren zu können.

(Zuruf von Torsten Renz, CDU)

Also, es bleibt dabei,

(Torsten Renz, CDU: Wie heißt überhaupt das Thema?)

es bleibt dabei, soziale Marktwirtschaft ist im Grundgesetz angelegt, aber genau in einem Spannungsverhältnis, das nicht in eine Richtung als Pendel ausschlägt.

Meine Damen und Herren, ich glaube, dass Sie die Freiheit im Grundgesetz gleichermaßen finden werden, da bin ich ganz unbesorgt. Die Freiheit des Grundgesetzes ist aber eben gerade auch, dass die Gesellschaft sich nicht von Einzelnen knebeln lässt. Deswegen gibt es Enteignungsmöglichkeiten.

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Weißig?

Sehr gern.

Danke schön, Herr Minister.

Ich hätte gerne mal Ihre Stellung zu Enteignungen, und zwar, wenn es sich um alte Häuser, um denkmalgeschützte Häuser handelt und der Besitzer sie mutwillig verfallen lässt.

(Peter Ritter, DIE LINKE: Das ist ein anderes Thema.)

Da sage ich Ihnen auch ein Beispiel, das ist das Schloss, die Forstschule in Raben Steinfeld, da muss ich sehen, also wie das Teil verfällt. Der Besitzer, ja …

(Heiterkeit bei Peter Ritter, DIE LINKE: Ich glaube, das meinte Kühnert aber nicht, so was. – Zuruf aus dem Plenum: Nee, das glaube ich auch nicht.)

Also, Sie werden auch da nur sehr schwer rankommen. Gleichwohl gibt es im Denkmalschutzrecht quasi so kaskadenähnlich aufgebaute Möglichkeiten. Sie können unter gewissen Umständen, wenn das Denkmal Schaden zu nehmen droht, Auflagen machen.

(Thomas Krüger, SPD: Ja, das stimmt.)

Ich habe die gleiche Diskussion in Greifswald beim Schwarz-Geburtshaus, was direkt am Marktplatz liegt.

(Dr. Ralph Weber, AfD: Ja, genau.)

Und gleichwohl merken wir an der Stelle, wie schwer – und offen eingestanden an der Stelle nach meinem Gefühl zu schwer – es uns fällt, jemanden, der völlig unentschlossen mit einer historisch bedeutsamen Bausubstanz, die auch noch kulturhistorisch für, glaube ich, unsere Kulturgeschichte Bedeutung hat, umgeht, dass wir da schwer rankommen. Ich würde mir manchmal ein bisschen mehr Mut wünschen, weil man dann vielleicht manche juristische Grenze auch einmal austestet, gerade in solchen Fällen, aber ich weiß, dass das schwer ist, und ich sehe vor allen Dingen, dass kommunale Verwaltungen so was alle 30 Jahre einmal machen müssten vielleicht, und dann auch nur wenige. Das ist schwer. Du brauchst eigentlich Leute, die so was professioneller betreiben.

(Beifall Dr. Ralph Weber, AfD)

Ich bin aber an der Stelle, wo ich mich an den Stellen ärgere, ja?!

Ich würde jetzt in den politischen Teil kommen der von Ihnen angestrebten Kühnert-Debatte.

(Torsten Renz, CDU: Jetzt endlich.)

Nein, nein, Herr Renz, das gehört beides dazu.

(Zuruf von Torsten Renz, CDU)

Dass Sie am Tag des Geburtstages des Grundgesetzes den Weg nicht mitgehen mögen, finde ich ja bedauerlich.

(Torsten Renz, CDU: Den Kern haben Sie noch nicht so richtig rausgearbeitet, aber wir haben ja noch Zeit. – Zuruf von Sebastian Ehlers, CDU)

Ich glaube, auch die Regierung darf so sprechen. Meinen Sie nicht?

(Sebastian Ehlers, CDU: Doch.)

Dass die Regierung auf dem Boden des Grundgesetzes stehen darf,

(Sebastian Ehlers, CDU: Ja.)

fände ich jetzt nicht dumm.

Meine Damen und Herren, die Diskussion würde mir jetzt – und da würde ich mich Jörg Heydorn von gestern anschließen –, würde mir nicht zu allererst bei BMW einfallen. Man kann sie meinetwegen bei BMW führen, das fällt einem Norddeutschen vielleicht leichter als jemandem im Süden, dann fällt es dem Norden schwerer, das über Volkswagen zu diskutieren. Aber das ist momentan nicht der Punkt, der mich umtreibt. Ich glaube, in der politischen Diskussion, die wir da führen, ist es richtig zu fragen, gibt es Bereiche – und das gehört dann zu den Pendeln, die so eine Gesellschaft über 70 Jahre durchmacht –, die Frage, ob wir uns aus manchen Bereichen zu weit zurückgezogen haben, ob wir zu stark davon ausgingen, dass das Pendel ein bisschen mehr Marktwirtschaft betonen möge und der Markt Dinge richtet.