Protocol of the Session on December 15, 2017

Aber wenn wir ehrlich sind, wichtiger war für die vielen Menschen in unserem Land offenbar dann doch die Frage, als es um die Kfz-Kennzeichen ging.

(Heiterkeit bei Torsten Renz, CDU: Haben Sie eigentlich zugestimmt, dem Gesetz?)

Außerhalb des damals, lieber Kollege Renz, fachlich zuständigen Sonderausschusses ist dieser Landtag auch erst richtig munter geworden, als es um die Kreissitze ging. Das alles gehört zur Wahrheit in der Diskussion mit dazu.

(Harry Glawe, CDU: Das ist immer so. Das war 1994 auch so. – Zuruf von Torsten Renz, CDU)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Kreisstrukturreform dann aber noch mit einer Polizei-, mit Gerichtsstrukturreform, mit einer Theater- und einer fürs erste wieder abgeblasenen Finanzamtsstrukturreform auszuschmücken, das sind die Punkte, die das Fass regelmäßig zum Überlaufen bringen, also nicht allein diese Landkreisneuordnung, sondern alles das, was im Nachgang an Reformen folgte, zumindest meiner Überzeugung nach.

Das Thema ist aber, lieber Kollege Wildt, nach meiner Auffassung heute zu unscharf formuliert.

(Torsten Renz, CDU: Richtig!)

Um welche Wachstumsverluste geht es? Geht es um die Wachstumsverluste der Bevölkerung, um Verluste an Verwaltungspersonal, um Verluste an Wirtschafts- und Finanzkraft oder – entschuldigen Sie bitte den flapsigen Hinweis – um Wachstumsaspekte in Flora und Fauna?

(Zuruf von Bernhard Wildt, BMV)

Ja, okay, Sie haben dann in Ihren einleitenden Formulierungen selbst versucht, die Fragestellung etwas zu schärfen. Wenn bereits – und das kommt ja dann noch, Kollege Wildt – in der Fragestellung sozusagen die Antwort schon vorgegeben wird, dass es mit dieser Strukturreform einen Wachstumsverlust gegeben hat, dann sind spätestens Zweifel angebracht. Es ist nach meiner Auffassung bei dieser Reform angebracht und sinnvoller, die Debatte nicht bereits mit einer Antwort, sondern vielmehr mit mehreren Fragen zu beginnen, nämlich:

Warum gelingt uns keine kritische, selbstkritische und

ehrliche Bestandsaufnahme, und das an alle Fraktionen gerichtet, die hier an diesen Reformprozessen beteiligt waren?

Legen wir selbst an diese Reform die richtigen Maß

stäbe an?

Wird zu einer Bilanz möglicherweise die Feststellung

gehören müssen, dass die kommunale Selbstverwaltung nicht so sehr durch größere Strukturen, aber dafür durch schwindende und fehlende Gestaltungskraft bedroht wird?

Also ist es eine Gestaltungsfrage und nicht eine

Strukturfrage?

Kreishaushalte sind doch im Osten wie im Westen schon lange keine kommunalen Steuerungsinstrumente mehr,

das wissen wir, die wir auf der kommunalpolitischen Ebene aktiv sind, sondern nur politisches Korsett. Die Landkreise haben jetzt in der Regel zum Beispiel ihre Haushaltsdiskussionen abgeschlossen und wir alle kennen als Kreistagsabgeordnete die Spielräume, die nicht vorhanden sind.

Welche Bestandteile gehören zu einer Bilanz, die dann

weder Trauerspiel noch Schönfärberei sein sollten?

Werden wir bilanzieren können, dass die Landkreis

neuordnung Probleme gelöst und auf der anderen Seite neue Probleme geschaffen hat, dass sie zwar notwendig, aber kein Wunderheiler war?

Sind wir dazu in der Lage, eine solche Analyse selbst

vorzunehmen?

Und werden wir abschließend vielleicht bilanzieren

müssen, dass die Landkreisneuordnung nicht gescheitert ist, die Verwaltungsmodernisierung aber von der Landesebene zum Stillstand gebracht wurde?

Meine sehr verehrten Damen und Herren, nach diesen Fragen möchte ich versuchen, in drei Punkten Antworten oder Ansätze zu suchen und dafür die heutige Debatte zu nutzen.

Erstens wurde die damalige Reform von einigen laufenden Metern Gutachten flankiert. Hier konnte man in der Tat von einem Gutachterunwesen sprechen. Ob Städte- und Gemeindetag, Landkreistag oder Innenministerium, je nach Auftraggeber ging es um Bestätigung erwarteter oder befürchteter Ergebnisse. Die meisten Professoren dürften sich aber am Ende geirrt haben. Es gab keine Funktionalreform, es gibt keine strukturelle Konkordanz zwischen Kreis- und Gemeindeebene, von den bis zu 100 Millionen Euro versprochenen Effizienzkrediten spricht heute überhaupt niemand mehr, und über die enormen Folgekosten der Landkreisneuordnung schweigt man lieber. Auch die 400 Seiten Expertise von Professor Hesse, der in unserer Kreisgebietsreform den Vorreiter kommender bundesweiter Ereignisse zu erkennen glaubte, wurden durch Brandenburg und Thüringen über Nacht Makulatur. Das ist einfach so.

Und nun, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist es wieder ein Professor, nämlich Professor Klüter von der Uni Greifswald, der schon immer vor der Reform bei uns gewarnt haben will und sich durch das Reform-Aus in Brandenburg bestätigt sieht. So titelt der „Nordkurier“ am 2. November im Zusammenhang mit dem Reform-Aus in Brandenburg: „Forscher frohlockt: Ich habʼs euch gleich gesagt“. Zitatende.

(Zuruf von Egbert Liskow, CDU)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, Professor Klüter, so die Wiedergabe im „Nordkurier“, will schon immer vor den wirtschaftlichen Folgen der Auflösung von Kreisverwaltungen als dem größten Arbeitgeber vor Ort gewarnt haben. Nachdem in Mecklenburg-Vorpommern strukturschwache Regionen wie Vorpommern ihre Kreissitze verloren haben, so Klüter, seien sie im deutschlandweiten Vergleich in der Wirtschaftsentwicklung noch weiter zurückgefallen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit wäre Herr Klüter Kronzeuge für die Wahrhaftigkeit unseres heutigen The

mas, jeder reformierte Kreissitz führe zu Wachstumsverlusten. Aber entschuldigen Sie bitte, liebe Kolleginnen und Kollegen und auch lieber Professor Klüter, als ich das las, tauchte bei mir sofort das Bild des zerstreuten und vergesslichen Professors auf.

(Egbert Liskow, CDU: Genauso ist es.)

In dem von mir bereits erwähnten mit mehreren laufenden Metern Gutachten zur damaligen Reform finden sich auf 14 Seiten Klüter-Thesen vom 24. Mai 2005, Überschrift „12 Argumente für einen Regionalkreis Vorpommern“.

(Egbert Liskow, CDU: Genau.)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, jedes einzelne dieser „12 Argumente“ von Klüter führt die Klüter-Position von heute ad absurdum. Das muss man so deutlich sagen.

(Zuruf von Bernhard Wildt, BMV)

Ich will es bei zwei nachdenkenswerten Aussagen belassen: Die Einteilung Vorpommerns in 4 Land- und 2 Stadtkreise, so Klüter damals, ist nicht mehr finanzierbar; diese administrative Zersplitterung ist mit dafür verantwortlich, dass für die notwendige Infrastruktur unserer Wirtschaft und für die Anwerbung größerer Investoren nicht genügend Mittel zur Verfügung gestellt werden können. Und nun an ganz anderer Stelle: Nur ganz Vorpommern als ein einziger einheitlicher Kreis würde eine international kompatible Größe aufweisen. Also nur eine einzige Kreisverwaltung in Vorpommern würde Wachstumsgewinne generieren. Da liest sich das, was wir jetzt im „Nordkurier“ lesen müssen, doch schon etwas anders.

Damit wird deutlich, meine sehr verehrten Damen und Herren, Wissenschaft ersetzt eben nicht Politik oder politische Entscheidungen.

(Bernhard Wildt, BMV: Absolut nicht.)

Wir ergreifen also die Klüterʼschen Pirouetten als Anregung für unser eigenes Nachdenken,

(Bernhard Wildt, BMV: Genau so.)

als Kronzeugen hingegen würden wir ihm Unrecht tun.

(Bernhard Wildt, BMV: Genau so.)

Auch die praktischen Fakten sprechen eine etwas andere Sprache. Nirgends im östlichen Landesteil ist die Verwaltung der neuen Landkreise nur an einem Standort zusammengezogen worden und der befürchtete dramatische Verlust an Konsumentinnen und Konsumenten in Gestalt von Kreisverwaltungspersonal reduziert sich landesweit auf rund 70 Stellen, ohne hier die notwendigen Neueinstellungen durch neue Aufgaben bereits gegengerechnet zu haben.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, auch mein zweiter Punkt spricht dafür, dass an der Frage, ob das heutige Thema zutreffend formuliert ist, Zweifel angebracht sind. Ich meine den 140-seitigen Raumordnungsbericht des Bundesinstitutes für Bau-, Stadt- und Raumforschung vom September dieses Jahres. „Großstädte boomen, ländliche Regionen sterben aus: Deutschland muss drin

gend Strategien entwickeln, um die Daseinsvorsorge zu sichern, heißt es in einem Bericht“. Am Zentralen-OrteSystem soll festgehalten werden, aber es sei weiterzuentwickeln.

Der Bericht attestiert den ländlichen Regionen dramatisch wachsende Defizite bei der Versorgung mit Schulen, insbesondere ein nicht genug differenziertes Schulangebot vor Ort, Defizite bei der Versorgung mit Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen und Einkaufsmöglichkeiten. Diese Defizitliste lässt sich aus dem Raumordnungsbericht fortsetzen. In dieser Studie findet man allerdings kein Wort zu einem Defizit an Kreisverwaltungen, liebe Kolleginnen und Kollegen, und in dem Forderungskatalog dieser Studie nach einer Gemeindefinanzreform, damit die Kommunen wieder genug Geld haben, um ihre Aufgaben für die Sicherung der Daseinsvorsorge zu erfüllen, ist von Wachstumsverlusten durch Kreisgebietsreformen nicht die Rede.