Der Kapitalismus, der heute beschönigend – ich setze noch mal an –, der Kapitalismus, der heute beschönigend „soziale Marktwirtschaft“ genannt wird, kann hier nicht die letzte Antwort sein, er ist vielmehr die Ursache. Und wie schrieb „Der Spiegel“ am Wochenende? Nicht der Sozialismus ist das Problem, sondern der Kapitalismus.
Für die kommenden 25 Jahre wünsche ich mir hier deutliche Verbesserungen, so, wie sie auch die Leserbriefschreiberin einfordert. Wir brauchen endlich gleichwertige Lebensverhältnisse. Die Arbeitslosigkeit ist dann hoffentlich nicht mehr doppelt so hoch wie im Westen. Löhne und Gehälter sind dann nicht mehr so viel niedriger als im Westen. Und – über die Rente ist vom Ministerpräsidenten schon gesprochen worden – die Bürgerinnen und Bürger bekommen im Osten endlich so viel Rente wie im Westen. Da können wir nicht noch mal 25 Jahre warten, das muss tatsächlich sehr zügig erfolgen.
Meine Damen und Herren, für die Vollendung der inneren Einheit ist noch eine Menge zu tun. Meine Fraktion – ich will das auch für meine Partei sagen – wird sich weiterhin aktiv, konstruktiv und engagiert, sicher auch streitbar und zuweilen unbequem in diese Prozesse einbringen. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und freue mich auch in Zukunft über eine konstruktive, sachliche, verstehende Debatte. – Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der 9. November ist ein Tag der Freude und der 9. November ist ein Tag der Schande. Kein anderes Datum widerspiegelt so diametral unsere Geschichte.
9. November 1918: Der Kaiser dankt ab. Philipp Scheidemann, ein Sozialdemokrat, ruft die Republik aus.
Ihre Gesinnungsgenossen waren es, die Deutschland in Schutt und Asche gelegt haben. Ich würde einfach meinen Mund halten.
(Beifall vonseiten der Fraktionen der SPD, CDU, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Vizepräsidentin Regine Lück übernimmt den Vorsitz.)
es waren Nazis, es waren Rechtsextremisten, die dafür gesorgt haben, dass jüdische Gotteshäuser angezündet worden sind, dass jüdische Menschen auf den Straßen traktiert worden sind, geschlagen worden sind und schließlich auch ermordet worden sind. Jüdische Geschäfte und Wohnungen wurden geplündert, meine Damen und Herren. Das war der 9. November 1938. Und wenn wir über den 9. November reden, gehört das mit dazu, das gehört mit dazu.
(Beifall vonseiten der Fraktionen der SPD, CDU, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Vincent Kokert, CDU: Sehr richtig.)
Und, meine Damen und Herren, wie diametral anders sehen wir den 9. November 1989? Ein Tag der Freude, ein Tag, an dem sich Tausende von Menschen, wildfremden Menschen in den Armen lagen, Tränen in den Augen, miteinander feierten und das Lied „So ein Tag, so wunderschön wie heute!“ sangen, ein Tag aber, der mit seinen Problemen, die in der DDR vorhanden waren, hätte nahtlos an den 13. August 1961 anknüpfen können, nur, dass sich eben über die Jahre das Bewusstsein dieser Probleme auch in der Bevölkerung wie ein Brennglas verstärkt hatte.
Meine Damen und Herren, ich will auf ein zweites Datum eingehen. Einen Monat davor, genau einen Monat davor, am 9. Oktober 1989 fand die bis dahin größte Montagsdemonstration in Leipzig statt. Den Einsatzkräften wurde zuvor der Befehl gegeben, Demonstrationen – oder wie hieß das damals noch: konterrevolutionäre Zusammenrottungen – an diesem Tag, an diesem Montag, unter allen Umständen – so hieß das: unter allen Umständen – zu verhindern.
Wir wissen, dass in Leipzig in Krankenhäusern Betten freigemacht worden sind, dass Blutkonserven angeliefert worden sind. Wir wissen, dass Ärzte und Krankenschwestern zwangsverpflichtet waren, an diesem Abend Dienst zu schieben. Das hat es damals gegeben. In der Nikolaikirche war wieder eine Andacht und es hat sich seinerzeit relativ spontan ein Demonstrationszug gebildet. Die Leute haben zum Anfang nicht das gerufen, was allgemein bekannt ist, sondern die haben zum Anfang gerufen: „Auf die Straße! Schließt euch an!“.
Und, meine Damen und Herren, mit diesem Ruf „Auf die Straße! Schließt euch an!“ sind Straßenbahnen stehengeblieben, sind die Leute aus den Hauseingängen geströmt und haben sich an der Demonstration beteiligt.
Am Ende, meine Damen und Herren, waren es 70.000 Menschen, die über den Leipziger Ring gezogen waren, 70.000 – eine beeindruckende Demonstration, die dazu geführt hat, dass die Staatsmacht hat nicht einschreiten können. Viele von den Demonstranten hielten Kerzen in den Händen und die Rufe „Keine Gewalt“, „Freiheit“ und vor allen Dingen „Wir sind das Volk“ waren allgegenwärtig. Das Volk hat in der Volksrepublik die Macht für sich reklamiert und die Herrschenden waren kopf-, fassungs- und sprachlos.
Später, als sie die Sprache wiedergefunden hatten, sagte der ehemalige Vorsitzende des DDR-Ministerrates, Horst Sindermann, ich zitiere: „Mit allem haben wir gerechnet, nur nicht mit Kerzen und Gebeten. Sie haben uns wehrlos gemacht.“ Zitatende.
Gott sei Dank, sagt Herr Kokert. Ich sage auch: Gott sei Dank! Diese Wehrlosigkeit hat nämlich dazu geführt, dass wir eine friedliche Revolution bekommen haben. Diese Wehrlosigkeit war ein Glücksfall der deutschen Geschichte. Diese Wehrlosigkeit haben wir aber auch den mutigen Frauen und Männern von Leipzig zu verdanken, den 70.000, die auf die Straße gegangen sind.
Wir haben eine Revolution erlebt, wie sie die deutsche Geschichte noch nie erlebt hat – eine wirklich friedliche Revolution, eine Revolution, in der nicht ein Schuss gefallen ist. Ich bin sehr, sehr, sehr dankbar dafür, dass es so gekommen ist. Und, meine Damen und Herren, hätte es diesen friedlichen Übergang, diese friedliche Revolution nicht gegeben, bin ich mir sicher, würden wir heute hier in dieser Konstellation nicht zusammensitzen.
(Beifall vonseiten der Fraktionen der SPD, CDU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und Dr. Hikmat Al-Sabty, DIE LINKE – Vincent Kokert, CDU: Das ist mit Sicherheit so.)
Meine Damen und Herren, es empört mich schon, wenn jetzt 25 Jahre nach dem Mauerfall jemand daherkommt, der eigentlich sehr große Verdienste um die deutsche Einheit hat, und für mich etwas wirr daherplappert, dass es den Ostdeutschen nur um wirtschaftliche Vorteile gegangen sein soll. Ich sage, da hat es einer nicht ver
Die 70.000, die in Leipzig auf der Straße waren, konnten nicht wissen, ob geschossen wird. Die Menschen haben gewusst, was 1953 in Berlin passiert ist. Die Menschen haben gewusst, wie blutig 1956 Ungarn geendet ist. Die Menschen haben gewusst, was 1968 in Prag auf dem Wenzelsplatz war, als die russischen Panzer dagestanden haben. Das haben die Menschen gewusst. Trotzdem sind sie auf die Straße gegangen und haben ganz normale bürgerliche Rechte für sich eingefordert.
Die fürchterlichen Vorgänge auf dem Tian’anmen-Platz, auf dem Platz des Himmlischen Friedens – was für ein Hohn, dieser Name –, auf dem Platz des Himmlischen Friedens lagen erst ein halbes Jahr zurück. Die SEDFührung war nach wie vor in Amt und Würden. Und es war die SED-Führung, die die blutige Niederschlagung der Demokratiebewegung seinerzeit begrüßt hat,
(Vincent Kokert, CDU: Ja, Herr Krenz hat einen Brief geschrieben und hat sich in aller Form dafür bedankt, leider. – Stefan Köster, NPD: Ja.)
(Beifall vonseiten der Fraktionen der SPD, CDU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und Dr. Hikmat Al-Sabty, DIE LINKE)
Die Mauer, meine Damen und Herren, wurde vom Osten her eingedrückt. Jeder, der etwas anderes beschreibt oder behauptet, betreibt Geschichtsklitterung und unternimmt den Versuch, den Ostdeutschen einen Teil ihrer Würde zu nehmen. Das sollten wir miteinander nicht zulassen.
Inzwischen ist unsere Demokratie in Ostdeutschland erwachsen geworden. Das ist gut, meine Damen und Herren, das bringt Stabilität, das ist der Alltag. Das birgt aber auch Gefahren. Gut daran ist, dass heute niemand mehr fragt, ob er dieses oder jenes Politische sagen darf. Ich habe mal versucht, das mit meinem 15-jährigen Sohn zu diskutieren. Er hat überhaupt nicht verstanden, was ich von ihm will und dass man Dinge nicht sagen darf. Das ist also eine Selbstverständlichkeit.
Gut daran ist, dass wir uns frei bewegen können und uns nicht in einer sich nicht nur räumlich abschottenden Enge eines Staates befinden. Unsere Kinder machen selbstverständlich Klassenfahrten nach Paris und London. Unsere Kinder studieren in Spanien, den USA oder China – Selbstverständlichkeiten.