Und doch, meine sehr geehrten Damen und Herren, waren die Menschen unfrei. Man muss übrigens nicht wissen, dass man unfrei ist, um unfrei zu sein. Die Menschen sind dann unfrei, wenn sie sich damit abgefunden haben, dass sie das Träumen aufgeben müssen. Und es ist ein Grund zur Freude, dass es am Ende der DDR genügend Menschen gab, die sich von der „Wohlfühldiktatur“ nicht korrumpieren ließen. Nicht umsonst stand auf den ersten Plakaten auf den Demos in Leipzig nicht Wiedervereinigung, sondern schlicht und ergreifend, Frau Gajek, Freiheit, Freiheit, Freiheit, Freiheit. Das sollten sich insbesondere all jene gut merken, die vielleicht bei dem einen oder anderen Thema zum Relativieren neigen.
Und, meine sehr geehrten Damen und Herren, da ich davon ausgehe, dass Sie darauf vielleicht noch eingehen werden: Ich war, als die Mauer fiel, gerade elf beziehungsweise zwölf Jahre alt und die auf Ideologisierung und Militarisierung ausgerichtete Jugendarbeit des real
existierenden Sozialismus durfte ich in meinen Anfangsjahren noch kennenlernen. Dass bis heute mancher meint, diese Facette der DDR sei eigentlich erhaltenswert gewesen und vielleicht sogar gut, das will ich hier nur am Rande erwähnen. Ich musste glücklicherweise nicht zur NVA und schwören, ein ehrlicher, tapferer, disziplinierter und wachsamer Soldat im Auftrag des Sozialismus zu sein. Ich musste nicht auf militärische Vorgesetzte hören und unbedingten Gehorsam leisten.
Unsere Generation, meine sehr geehrten Damen und Herren, durfte den Beruf ergreifen, den sie wollte, und nicht denjenigen, den vielleicht die SED oder wer auch immer für sie vorgesehen hatte.
Unter Berücksichtigung aller Tatsachen, die ich Ihnen jetzt hier vorgetragen habe, muss man sich natürlich überlegen, welchen Weg man in der DDR gehen wollte. Es gab nur die beiden: Entweder du hälst dich nach außen zurück, führst intern dein privates Leben oder eben auch nicht. Und, meine sehr geehrten Damen und Herren, ich hatte das große Glück und auch meine Generation, wir wurden halt nie vom Ministerium für Staatssicherheit angefragt, ob wir nicht für kleine oder größere Annehmlichkeiten andere Leute bespitzeln wollten. Ich habe das Glück gehabt, in einem freien, geeinten und demokratischen Rechtsstaat aufzuwachsen. Und für dieses Glück, meine sehr geehrten Damen und Herren, bin ich den Menschen, die im Osten sich mutig getraut haben, auf die Straße zu gehen und für Freiheit und Demokratie zu kämpfen, diesen Menschen bin ich dafür im Namen meiner Generation nachhaltig dankbar. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall vonseiten der Fraktionen der SPD, CDU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und Peter Ritter, DIE LINKE)
Das Wort hat jetzt für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die Abgeordnete und Vizepräsidentin Frau Gajek.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Im Herbst 1989 war ich 27 Jahre alt, Mutter eines fünfjährigen Sohnes und tätig als Sachbearbeiterin im VEB Unitas, heute vielen bekannt als die Tabakhöfe am Marienplatz. Heute, eine Generation weiter, bin ich 52 und schaue mit einem lachenden und einem weinenden Auge auf die letzten 25 Jahre und ein paar Monate.
Der Herbst 1989 und die Anfänge der 90er-Jahre waren für mich die spannendste und aufregendste Zeit meines bisherigen Lebens. Vor mehr als 25 Jahren hatte ich die Hoffnung auf Veränderung eines Landes, meines Landes, die hervorgebracht wurde durch Menschen, die es wagten, widerständig zu sein, die es wagten, den Aufruf des Neuen Forums zu verteilen und sich zu bekennen, die aufstanden und sich auf den Weg machten. Wir überwanden unsere Angst, unser Schweigen und besiegten unsere Angst vor der allgegenwärtigen Staatsmacht. Wir machten uns auf den Weg, ohne das Ende zu kennen, getrieben vom Willen zu verändern.
Wann hatte ich das erste Mal Hoffnung auf Veränderung? Da muss ich unweigerlich an ein Konzert denken, nämlich am 2. Oktober 1988, wo Rio Reiser, auch be
kannt als Sänger von „Ton Steine Scherben“, in der Werner-Seelenbinder-Halle in Berlin aufgetreten ist. Es gibt ein Lied „Der Traum ist aus“. Dieses Erlebnis habe ich heute immer wieder und es hat auch etwas, was mich immer wieder treibt. Ich werde jetzt nicht singen:
„Der Traum ist ein Traum, zu dieser Zeit, doch nicht mehr lange, mach dich bereit für den Kampf um‘s Paradies! Wir haben nichts zu verlieren außer unserer Angst, es ist unsere Zukunft, unser Land. Gib mir deine Liebe, gib mir deine Hand.
Gibt es ein Land auf der Erde, wo dieser Traum Wirklichkeit ist? Ich weiß es wirklich nicht. Ich weiß nur eins und da bin ich sicher, dieses Land ist es nicht.“
Meine Damen und Herren, ich möchte heute die Möglichkeit nutzen und meine Erinnerung an die friedliche Revolution, aber auch an die DDR und die Zeit nach 89 mit Ihnen teilen. Und es ist mir eine Ehre, hier und heute zu Ihnen sprechen zu können und dass Sie mir zuhören.
Ich gehöre einer Generation an, in der das Politische ins Private drängte, und dies von Kindesbeinen an und mit jeder Phase. Geboren 1962, hier in Schwerin, bin ich aufgewachsen in einem Elternhaus, welches auch geprägt war von der Zerrissenheit meiner Eltern zwischen alltäglichem Widerstand, Anpassung, Desillusionierung. Auch die erfahrene Liebe und Fürsorge konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie Gefangene des Sich-arrangierenMüssens waren. Erst nach der Wende wurde der Schleier des Schweigens gelüftet und ich erfuhr, dass die Stasi meinen Vater abholte, wenn meine Schwester und ich in der Schule waren. Ich erfuhr, dass er nicht studieren konnte und sich seine kleine private Freiheit hart erkauft hat. Meine Mutter quittierte im September ihren Dienst als Kindergärtnerin, weil sie die Ideologie nicht mehr aushielt. Ein paar Wochen später war sie weg, die Mauer. Und die Linientreuen, die meine Mutter seinerzeit kritisch beäugten und kritisierten, hatten sich über Nacht ihren Wolfspelz ausgezogen und wurden zahme, gefügige, dem neuen System angepasste Lämmer.
Blicken wir zurück auf die friedliche Revolution, dürfen wir die Lebensentwürfe gerade der Kriegs- und Nachkriegsgeneration, auch der Generation meiner Eltern nicht vergessen, um zu verstehen, warum wir aufarbeiten müssen, und dass Schweigenbrechen und Ansprechen von Unrecht heute genauso wichtig ist wie vor 25 Jahren.
Ich selbst verstand erst nach der Wende die Tragweite. So konnte ich zu DDR-Zeiten nicht den gewünschten Beruf erlernen oder gar studieren. 1989 im Frühjahr reiste ich mit einer Freundin noch nach Polen, im Sommer mit der Familie sogar nach Ungarn und ich kam wieder. Meine DDR, ja, ich wollte verändern, aber gehen, gehen wollte ich noch nicht.
Der Aufruf des Neuen Forums, den 30 Erstunterzeichner am 30. September in Grünheide im Haus von Katja Havemann unterzeichneten, war für mich der Anfang. Und wenn wir heute von Dankbarkeit reden, dann bin ich
(Beifall vonseiten der Fraktionen der CDU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und Dr. Hikmat Al-Sabty, DIE LINKE)
Der demokratische Dialog war für mich maßgeblich und die Umgestaltung unserer Gesellschaft, unserer DDR.
Am 19. September 1989 wurde das Neue Forum in den 15 DDR-Bezirken angemeldet, so auch in Schwerin. Damals war es gut, dass ich den Beruf der Sekretärin gelernt hatte. So konnte ich auf der elektrischen Schreibmaschine des Betriebes den Aufruf des Neuen Forums tippen, denn die Botschaft musste schließlich unters Volk gebracht werden.
Ich habe diese Zeit als sehr intensiv erlebt und befreiend, befreiend dahin gehend, dass wir uns zusammentaten, Herr Kokert hat es gesagt, uns ermutigten und über gesellschaftliche Probleme redeten, nach Lösungen suchten. Ich stellte unsere Wohnung zur Verfügung, um mit anderen Gleichgesinnten über umweltbewusstes Leben zu reden, Forderungen zu formulieren, Konzepte. Ich wollte schließlich auch, dass unser Sohn in eine Schule geht ohne Drangsalierung, ohne Staatsbürgerkunde und ohne Wehrerziehung, eine Bildung erhält, die ihm die freie Entfaltung seiner eigenen Kreativität ermöglicht.
Wie in anderen Städten auch gab es dann endlich am 23. Oktober in Schwerin die erste Montagsdemo. Je- doch – anders als in der restlichen DDR – rief die Nationale Front zeitgleich zu einer Kundgebung auf. Es gab im Vorfeld und während der Demo so viele Ängste und im Nachhinein wissen wir, die Angst war nicht unbegründet. Bereitschaftspolizei und Kampftruppen standen zum sofortigen Zugriff bereit. Das Schicksal der Altvorderen war, sie waren mit verantwortlich dafür, dass am Ende über 40.000 DemonstrantInnen friedlich, mit Kerzen in der Hand durch die Innenstadt von Schwerin zogen.
Es ging Schlag auf Schlag. Wir haben uns getroffen, über Politik und Veränderung debattiert, darüber, ob wir nun eine Partei werden wollen und wie wir uns das zukünftig vorstellen mit der Politik. Wir sind damals von der Zweistaatlichkeit ausgegangen und die Konföderation wurde heiß diskutiert. Sehr gut erinnere ich mich an den 4. November mit der legendären Demo in Berlin. Gebannt haben wir vor dem Fernseher gesessen und alles mitverfolgt.
Dann kam der 9. November. Am 9. November habe ich morgens noch Bekannte verabschiedet, die die Ausreise in die Bundesrepublik genehmigt bekommen hatten. Wie sich später herausstellte, war auch ein Spitzel aus dem Staatstheater darunter. Es schmerzt immer, wenn Freunde gehen, und das Wiedersehen lag zum damaligen Zeitpunkt morgens in weiter Ferne. Im Überwachungsstaat DDR bedeutete dieses aber auch Schikane für die Zurückgebliebenen. Verwandte, Freunde, ob im Betrieb oder im Sportverein, waren abgestempelt. Ich selbst wollte mir am Abend einen Trabi kaufen, weil ich zur Erkenntnis kam, die Informationen müssen schneller von A nach B, und Handys gab es nicht. Also kaufte ich mir um kurz nach 18 Uhr hier in Schwerin am 9. November meinen Trabi, war selig, bin nach Hause gefahren, habe wie abends oft den Fernseher angemacht, mit einer Freundin zusammengesessen. Und dann kam für uns
Die Öffnung der Mauer bedeutete aber auch das Ende der friedlichen Revolution. Einen Tag später war kaum noch einer im Betrieb, in meinem Unitas. Keiner wollte als Letzter das Licht ausschalten. Nun trauten sich auch die Letzten, kostete es doch jetzt keine Zivilcourage, nach Ratzeburg, Hamburg oder Lübeck zu fahren. Sie träumten auf einmal von einem Paradies und sie träumten von blühenden Landschaften. So nahm die Geschichte ihren Lauf.
Ich selbst habe mich im Dezember 1989 beim Neuen Forum ausgeklinkt. Machtfragen, Parteifragen, Zusammenschlüsse, die verfolgten Konzepte waren nicht meine. Ich selbst fand meine politische Heimat im Unabhängigen Frauenverband und baute im Oktober 1990 das autonome Frauenhaus hier in Schwerin auf. Was wollten wir Frauen damals? – Ich weiß nicht, wie viel Frauen heute hier noch reden. – Genau das, was wir heute wollen: Gleichberechtigung und Selbstbestimmung.
28 Jahre stand die Mauer, die ich noch als antifaschistischen Schutzwall kannte. Die Mauer ist das Symbol der deutschen Teilung. Aber die westliche Grenze war auch die Elbe. In diesem Jahr habe ich mich dort auf Spurensuche begeben, entlang der Elbe und am grünen Band, dem ehemaligen „Eisernen Vorhang“. Als „Grenzgängerin“ erlebte ich die Dorfrepublik Rüterberg. Eine Zeitzeugin berichtete über ihre Schulzeit in Dömitz, dem permanenten Misstrauen und dem Leben in der Sperrzone. Ich frage mich: Hinterlässt dieses Gefangensein seelische Narben, die für immer bleiben?
Ich erinnere mich eindrücklich an die Gespräche mit einer Zeitzeugin, deren Angehörige während der Aktion „Ungeziefer“ im Juni 1952 zwangsausgesiedelt wurden. Im Oktober 1962 gab es eine weitere generalstabsmäßig organisierte Zwangsaussiedlung, nun mit dem Namen „Kornblume“. Historiker gehen davon aus, dass zwischen 11.000 und 12.000 Menschen zwangsausgesiedelt und kriminalisiert wurden, circa 3.000 flüchteten gen Westen. Zurück blieben geschliffene Dörfer wie Vockfey, das nur noch durch eine Gedenkstätte erkenn- und erfahrbar ist. Ich lernte eine Frau kennen, die zwangsausgesiedelt wurde und erst nach der Wende an ihren Heimatort zurückkehren konnte. Sie kommt immer im Wohnwagen, jeden Sommer, das Haus steht schon lange nicht mehr.
Mit dem Verwaltungsrechtlichen Rehabilitierungsgesetz können sich jetzt diese Opfer seit 1994 von der erfahrenen, Zitat, „Verwaltungswillkür und Verwaltungsunrecht der ehemaligen DDR … vom Makel persönlicher Diskriminierung … befreien und soziale Ausgleichsleistungen in Anspruch … nehmen“.
Die Mauer ist spürbar im Grenzhus in Schlagsdorf. Ich möchte an die 1.303 Maueropfer erinnern und wir sollten ihrer gedenken. Jeder von ihnen hatte einen Traum, einen Traum von Freiheit, Selbstbestimmung und einem besseren Leben. Elendig verreckt sind sie an der innerdeutschen Grenze, einer Grenze, deren Hauptzweck es
war, seine Bürger einzusperren. Selbstschussanlagen, Stacheldraht, Mauern und Minen für das eigene Volk – was war das für ein Land?!
Aus meiner ganz subjektiven Perspektive auf das Gestern und das Heute dürfte hinreichend deutlich geworden sein, dass der Staat, den wir, die DDR-Bürger, vor 25 Jahren abgeschafft haben, als Unrechtsstaat von seiner eigenen Bevölkerung in einer friedlichen Revolution zu Recht beseitigt wurde.
Und, Herr Ministerpräsident, wenn Sie gebetsmühlenartig Ihre Auffassung wiederholen, die DDR sei kein Unrechtsstaat gewesen, nur weil ihre Bürgerinnen und Bürger damals nicht dank des Systems, sondern ihm zum Trotz auf ihre Lebensleistung zurückblicken können, möchte ich Ihnen hier vehement widersprechen. Sie unterstützen mit Ihrer Auffassung nicht die Frauen und Männer, die in der DDR lebten. Ist es nicht eher so, dass Sie die Ewiggestrigen damit stärken und den Gegnern und Opfern eine weitere verbale Ohrfeige verpassen? Es ist doch zu fragen, warum das Verhalten der Täter und Mitläufer relativiert wird, wohingegen Opfer und Kritiker sich rechtfertigen müssen nach dem Motto, lasst uns endlich einen Schlussstrich ziehen. Ich sage eindeutig, nein.
Die DDR hatte nach 1945 den Traum eines besseren Deutschlands. Aber war es nicht so, dass die privilegierte Elite und deren Sicherheitsapparat durch die Beschränkung oder den Entzug von elementaren Menschen- und Bürgerrechten, wie Freizügigkeit, Rechtsstaatlichkeit, Freiheit von Presse, Wissenschaft, Kunst, Religionsausübung, Schule sowie dem Recht auf freie Wahlen, als Geiseln gehalten wurden?
Ich glaube, ich habe nicht so viel Redezeit. Die Frage der Anpassung werden wir dann am 3. Oktober vertiefen. Ich möchte deshalb jetzt noch mal auf das Recht zu sprechen kommen.
Recht bedeutet, Täterinnen und Tätern, Opfern, unabhängig von Strafe und Entschädigung Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, ihre Taten und Unterlassungen, ihre Verletzung und Behinderung im Licht geltender Menschen- und Bürger/-innenrechte öffentlich anzuerkennen, ihr Verhalten zu verurteilen und zu rehabilitieren, zu identifizieren, was Recht war, was Recht ist, was Recht sein sollte und was Unrecht ist. Recht ist nicht schon das, was in der Verfassung und in den Gesetzen steht, sondern erst das, was in ihrer Auslegung und in ihrem Vollzug erkannt und ausgeübt wird. Darum heißt es auch: nach Recht und Gesetz. Wenn wir heute den Anspruch erheben, in einem Rechtsstaat zu leben, müssen wir dieses Recht praktisch anwenden und sagen, was Recht und was Unrecht ist.
In der friedlichen Revolution und im Geiste des Frühlings 1990 wollten wir Schwerter zu Pflugscharen schmieden. Heute ist Deutschland drittgrößter Exporteur von Rüstungsgütern und soll mit militärischen Einsätzen international mehr Verantwortung übernehmen.
Nein, meine Damen und Herren, das war weder mein Traum und, ich glaube, auch nicht der von BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN.