Protocol of the Session on December 6, 2012

In dem Antrag heißt es unter Ziffer 1.: „Ein Jahr nach Selbstenttarnung des NSU gilt die Solidarität der demokratischen Fraktionen den Angehörigen, Freundinnen und Freunden der Opfer der neofaschistischen Terrorbande.“

Und ich möchte noch etwas weiter gehen. Die Familien und die Freunde der Opfer können von uns eben nicht nur Solidarität verlangen, sondern auch eine Entschuldigung, denn, erinnern wir uns, bis zum November 2011, als dann feststand, dass es sich um Terroropfer einer rechtsextremistischen Bande handelt, wurden die Opfer aufgrund bloßer Spekulationen in kriminelle Milieus verortet.

Bereits nach der ersten Tat, dem Mord an dem Blumenhändler Enver Şimşek in Nürnberg im September 2000, wurde die Vermutung ausgesprochen, das Opfer könne in Rauschgiftgeschäfte verwickelt sein. Nach dem Mord an Süleyman Taşköprü am 27. Juni 2001 in Hamburg meinte dann die Polizei, einen Ermittlungsansatz gefunden zu haben, und es wurde vermutet, der Gemüsehändler hätte Kontakte zu kriminellen Kiezmilieus, zum Beispiel in St. Pauli, gehabt. Anhaltspunkte für diese bloße Spekulation haben sich dann nie ergeben.

Im Anschluss wurde die These aufgestellt, dass es sich bei den Morden um interne Strafaktionen im Bereich Organisierter Kriminalität handeln müsse und darüber auch die Verbindung zwischen den Opfern bestehen würde. Dann, nach dem Mord an Habil Kiliç am 29. August 2001 in München, erklärte die Polizei gegenüber der Presse, dass das wahrscheinliche Mordmotiv sowie die

Erklärung der Zusammenhänge in der Organisierten Kriminalität, vermutlich im Drogengeschäft liegen würden. Die Boulevardpresse sprach in diesem Zusammenhang von einer „Türken-Mafia“ oder „Halbmondmafia“. Die Münchener Sonderkommission, die 2001 einberufen wurde, nannte sich dann ebenso Soko „Halbmond“. Und der Name der im Sommer 2005 eingerichteten Soko „Bosporus“ kann auch in diesem Sinne, muss in diesem Sinne verstanden werden. Man suchte vor allem nach Verbindungen zwischen den Opfern, konzentrierte die Ermittlungen vorrangig in Richtung Waffen- und Drogenhandel, Spiel- oder Wettschulden und ging verstärkt von der Möglichkeit aus, dass die Opfer in Verbindung mit türkischen Drogenhändlern aus den Niederlanden stehen würden.

Nach dem Mord an Theodoros Boulgarides am 15. Ju- ni 2005 in München titelte die örtliche Abendzeitung „Eiskalt hingerichtet – das siebte Opfer. Türken-Mafia schlug wieder zu“. Und so waren die Medienüberschrif- ten in dieser Zeit durchweg gestaltet. Die „Bild-Zeitung“ kolportierte zum Beispiel 2006, es gäbe vier heiße Spuren: Drogenmafia, Organisierte Kriminalität, Schutzgeld und Geldwäsche. Und auch das „Hamburger Abendblatt“ schrieb: „Die schwer durchdringbare Parallelwelt der Türken schützt die Killer.“ Selbst die Sendung „Akten- zeichen XY … ungelöst“ hat die Serienmorde aufgegriffen und der von mir sonst sehr geschätzte Moderator Rudi Cerne hat dann gemutmaßt, die Ermordeten seien selbst in kriminelle Geschäfte verwickelt und daher Auftragskillern der Organisierten Kriminalität zum Opfer gefallen.

Meine Damen und Herren, diese Spekulationen setzten sich dann fort bis zum November 2011. Die Opfer der rechtsterroristischen NSU, aber dadurch eben auch deren Familien und Freunde wurden kriminalisiert. Schuld daran waren Fehler der Ermittlungsbehörden, vorschnelle Politiker und die Presse, die wie so oft reflexartig Vorurteile bediente. Tatsächlich hatten die Morde einen nationalistischen, einen rassistischen Hintergrund und die Opfer hatten nichts, aber auch gar nichts mit Kriminellen zu tun.

Und ganz besonders sollten wir uns bei der Familie Turgut entschuldigen. Mehmet Turgut wurde am 25. Febru- ar 2004 an einem Dönerimbiss im Rostocker Ortsteil Toitenwinkel mit drei Kopfschüssen ermordet. Er war 25 Jahre alt, kam aus der Türkei. Er war zu Besuch bei einem Freund in Rostock. Für diesen hatte er dann spontan an dem Vormittag übernommen, den Imbiss zu öffnen. Und bis zehn Tage vor seiner Hinrichtung, muss man sagen, vor seiner Ermordung hatte er in Hamburg ge- lebt.

Hinsichtlich aber dieser Familie Turgut gilt eben nicht nur, dass das Opfer, Angehörige und Freunde im Umfeld zu Unrecht in die Nähe des kriminellen Milieus gerückt wurden, nein, bis zum Dezember 2011 wurde auch der Name des Ermordeten aufgrund einer Verwechslung mit seinem Bruder als Yunus Turgut veröffentlicht. Dies war der Polizei dann lange bekannt und dennoch wurde es über Jahre nicht richtiggestellt.

Meine Damen und Herren, die Mitglieder der demokratischen Fraktionen des Landtages Mecklenburg-Vor- pommern wussten wie die Öffentlichkeit auch bis zur Enttarnung der NSU Anfang November 2011 nichts von den wahren Hintergründen der Terrormorde und An

schläge. Ich bin mir aber nicht sicher, ich bin mir nicht sicher, ob dies auf alle Abgeordneten des Landtages zutrifft.

(Michael Andrejewski, NPD: Wer kann schon sicher sein?)

Meine Damen und Herren …

Herr Ringguth.

Herr Andrejewski, ich erteile Ihnen einen weiteren Ordnungsruf. Ich mache Sie darauf aufmerksam, dass Ihnen, wenn Sie eine weitere Ordnungsmaßnahme hier vom Präsidium erhalten, damit das Wort entzogen wird.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, jedes menschliche Leben ist einzigartig und jedes menschliche Leben ist gleich viel wert. Für jedes dieser Leben übernehmen wir als Gemeinschaft auch Verantwortung. Und ich denke, wir – also jeder von uns – tragen diese Verantwortung auch gern und umfassend. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen des 20. Jahrhunderts hat eine solche Wertevorstellung, dieser Maßstab auch Eingang in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland gefunden. Eine Normierung – ich sage das als Christ – auch christlicher Maßstäbe ist damit die Grundlage unseres freiheitlichen demokratischen Systems.

Und dennoch: Fehlgeleitete Ideologie und Hass forderten zehn Menschenleben, Menschenleben, für die wir es nicht ausreichend geschafft haben, Verantwortung zu tragen, sie also zu schützen, Menschen, die – jeder für sich – eine eigene Lebensgeschichte hatten, Pläne und Träume für die Zukunft.

Wir gedenken heute der Opfer und zum Gedenken gehört das Erinnern, das Erinnern an jeden einzelnen Menschen, der Opfer wurde:

(Die Abgeordneten der Fraktion der NPD verlassen ihre Plätze und ziehen sich in eine Fensternische des Plenarsaales zurück.)

Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman

Taşköprü, Habil Kiliç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşik, Halit Yozgat und Michèle Kiesewetter. Die Namen stehen für verschiedene Geschichten und den Wunsch nach Leben. Und all das wurde ausgelöscht.

Die Familien der Opfer übrigens möchten die offiziellen Anteilnahmen oftmals gar nicht sehen oder hören, sie mögen nicht ständig ins Rampenlicht gezogen werden. Die meisten möchten lieber in aller Stille und Abgeschiedenheit trauern. Manche können noch nicht einmal trauern.

Meine Damen und Herren, in einer zentralen Gedenkfeier im Konzerthaus in Berlin am 23. Februar 2012 bat die Bundeskanzlerin Angelika Merkel die Angehörigen der Opfer um Verzeihung für diese falschen Verdächtigungen. Sie nannte die Morde „eine Schande für unser Land“ und stellte in Bezug auf die Täter die Frage, „wer oder was … solche extremistischen Täter“ denn präge. Eine Antwort auf diese Frage fällt nicht leicht, wahrscheinlich werden wir eine Antwort schuldig bleiben.

Und noch einmal: Jedes menschliche Leben ist einzigartig und gleich viel wert. Diese Erkenntnis muss für jeden Menschen zur Selbstverständlichkeit werden. Und um dieses zu erreichen, um nicht nur der Opfer zu gedenken, sondern nach vorne schauend Änderungen hinzubekommen, müssen wir schon früh über den Bildungsweg unserer Kinder darauf hinarbeiten, dass alles menschliche Leben eben einzigartig ist und gleich viel wert ist, damit dies begriffen und dann auch gelebt wird. Nur durch Bildung und Aufklärung werden wir einer Prägung fehlgeleiteter menschenverachtender Art entgegenwirken können.

Heute aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, gedenken wir der Opfer. – Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall vonseiten der Fraktionen der SPD, CDU, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vielen Dank, Herr Ringguth.

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Herr Köster für die Fraktion der NPD.

(Die Abgeordneten der Fraktion der NPD kehren zu ihren Plätzen zurück. – Julian Barlen, SPD: Schmollecke!)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die selbsternannten Demokraten wollen mit einem gemeinsamen Antrag ihre Solidarität gegenüber den Angehörigen und Freunden der Opfer einer neofaschistischen Terrorbande, so, wie sie es nennen, ausdrücken und richten gleichzeitig einen Appell unter anderem an die Hansestadt Rostock, eine entsprechende Gedenktafel für Mehmet Turgut zu errichten, sowie an die Bürger des Landes Mecklenburg-Vorpommern, weiterhin engagiert und verstärkt allen Formen von Alltagsrassismus und Fremdenfeindlichkeit entgegenzutreten.

(Dr. Norbert Nieszery, SPD: Sie nicht?!)

Wenn nur dieser Satz von Ihnen ernst gemeint wäre! Aber für Sie sind Opfer offensichtlich nur eine Aufmerksamkeit wert, wenn die mutmaßlichen Täter Deutsche, am besten noch sogenannte Rechte sind,

(Dr. Norbert Nieszery, SPD: Das ist Quatsch.)

denn wo war denn Ihre Trauer,

(Tino Müller, NPD: Ja.)

als Mehmet Turgut nach offizieller Lesart noch ein Opfer der organisierten internationalen Bandenkriminalität

(Tino Müller, NPD: Ja.)

Wo war Ihre Betroffenheit den anderen zehn Toten gegenüber, als noch nicht zwei Deutsche für diese Mordtaten herhalten mussten, die aufgrund ihres eigenen Todes keine Aussagen mehr über ihre vermutete Beteiligung an diesen Morden tätigen können? Jedes Mordopfer ist ein Opfer zu viel. Jedes Totschlagopfer ist ebenfalls ein Opfer zu viel. Doch für Sie und Ihresgleichen erhalten diese Verbrechen erst Gewicht, wenn diese Taten für Ihre politischen Zwecke eingesetzt werden können.

(Dr. Norbert Nieszery, SPD: Das waren politische Taten, das wissen Sie ganz genau.)

Und ich habe nach wie vor erhebliche Zweifel daran,

(Dr. Norbert Nieszery, SPD: Das waren politische Morde.)

was uns in dieser Mordserie in der Öffentlichkeit als Wahrheit verkauft wird.

(Dr. Norbert Nieszery, SPD: Dann fragen Sie mal Herrn Petereit, der weiß mehr.)

Ich verweise in diesem Zusammenhang nur auf einen Artikel in der „Jungen Freiheit“, den sollten Sie sich auch mal zu Gemüte führen,

(Zuruf von Johann-Georg Jaeger, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

denn es gibt einfach zu viele Ungereimtheiten

(Zuruf von Peter Ritter, DIE LINKE)

und zu viele Vertuschungen von Behörden in diesen Fällen.

(Dr. Norbert Nieszery, SPD: Wenn das Ihre einzige Quelle ist, dann...)

Und ich hoffe darauf, dass irgendwann die ganze Wahrheit ans Licht kommt,