Protocol of the Session on January 31, 2008

Wir haben in diesem Hohen Haus mehrfach die Situation von Kinderarmut in diesem Lande erörtert

(Torsten Koplin, DIE LINKE: Einfach abgelehnt.)

und auch die Angemessenheit der Regelsätze nach SGB II und SGB XII. Wir haben dabei immer wieder betont, dass die alleinige pauschale Erhöhung um einen Betrag X nicht ausreicht und daher auch nicht zielführend ist, um der Kinderarmut und der daraus vorprogrammierten Chancenungerechtigkeit zu begegnen.

Sehr geehrte Damen und Herren, für das steuerliche Existenzminimum von Kindern werden ähnliche Kriterien angesetzt wie für das von Erwachsenen. Das steuerliche und sächliche Existenzminimum von Kindern aller Altersgruppen wurde auf 3.648 Euro jährlich berechnet, das sind 304 Euro monatlich. Hinzu kommt ein Freibetrag für den Betreuungs-, Erziehungs- und Ausbildungsbedarf in Höhe von 2.160 Euro jährlich. Bei der Festsetzung des sächlichen Existenzminimums wird auf die Sozialhilfe Bezug genommen. Hier hat man für Einpersonenhaushalte das sogenannte Statistikmodell unter Berücksichtigung des Reformbedarfs grundsätzlich angewendet. Dessen einfache Übertragung ist aber aus vielfältigen Gründen auf Haushalte mit Kindern nicht angemessen.

(Zuruf von Irene Müller, DIE LINKE)

Darüber haben wir uns schon häufi g unterhalten. Dahinter steckt das Problem einer angemessenen Vergleichsgruppe. Verschiedene Familienhaushalte in verschiedenen Regionen oder schon in verschiedenen Gemeinden haben kein zu vereinheitlichendes Ausgabeverhalten und ihre Einkommenssituation ist im Hinblick auf die Ausgabennotwendigkeit ganz unterschiedlich.

Die Bundesregierung hat den Regelsatz für Kinder als einen Anteil am Regelsatz für den Einpersonenhaushalt defi niert, und das in Höhe von 60 Prozent für Kinder unter 14 Jahren, das macht 208 Euro monatlich aus, wie Sie wissen, und in Höhe von 80 Prozent für Kinder ab 14 Jahren, das sind 278 Euro monatlich. Eine wesentliche Begründung für diese Überlegung ist die Orientierung an wissenschaftlichen Methoden beziehungsweise Auswertungen zur Aufteilung von Ausgaben innerhalb der Familien.

Aber wie Sie alle wissen, bei der Festsetzung des Existenzminimums von Kindern ergeben sich zahlreiche Besonderheiten. Weder in der Betrachtung der Einnahmen noch in der Betrachtung der Ausgaben werden Sachleistungen insbesondere von Kommunen und Ländern, die in großen Teilen geldwerte Vorteile bedeuten, besonders berücksichtigt. Gerade diese kommen aber bei den Kindern und Jugendlichen häufi g vor und sind – und das werden Sie nicht bestreiten – Teil des Existenzminimums. Einige Bundesländer gewähren ganze oder teilweise Lernmittelfreiheit, teilweise gilt ein Eigenanteil, teilweise nicht. Teilweise sind Leistungen wie bei uns die Arbeitshefte und Ähnliches ausgeschlossen und, wie Sie wissen, regelt bei uns eine Landesverordnung Höchstsätze für Lernmittelbeiträge für die Eltern. Über diese Problematik haben wir uns schon in der Debatte zu einem Antrag der Fraktion DIE LINKE ausführlich unterhalten.

Während der Staat insgesamt noch 1991 knapp 400 Millionen Euro für den Kauf von Schulbüchern ausgab, investierte er im Jahr 2005 lediglich 230 Millionen, und das, obwohl im Bundesgebiet – und das sind Zahlen von der Bundesebene – die Zahl der Schülerinnen und Schüler im gleichen Zeitraum um eine Million gestiegen ist.

Bei der Teilnahme am Mittagessen während der Ganztagsbetreuung werden im vorschulischen Bereich häufi g die Kosten, die höher sind als die häusliche Ersparnis, vom örtlichen Träger der Jugendhilfe übernommen. Ganz anders sieht die Situation in Schulen aus, die ein Mittagessenangebot vorhalten. Hier wird häufi g das Essen gegen Bargeld oder auf Marken zum Preis von in der Regel zwischen 2 und 3 Euro angeboten. Eine ähnlich heterogene Situation besteht insbesondere im Hinblick auf die Ausgaben in den Familien für die Schülerbeförderung und beispielsweise auch für die Elternbeiträge für die Kinderbetreuung. Auch die sind von Kommune zu Kommune, von Träger zu Träger unterschiedlich.

Nach dem Inkrafttreten von Hartz IV und dem damit verbundenen Sichtbarwerden der Zahl bedürftiger Kinder ist insgesamt eine Tendenz festzustellen, wonach die Länder und Kommunen zwar nicht unbedingt ihre Haushalte für diese Art der Förderung kürzen, jedoch allein schon das Festhalten an der Höhe des bisherigen Haushalts heißt, Leistungen im Individualfall zu reduzieren. Darüber haben wir uns an anderer Stelle hier im Land auch schon unterhalten.

(Irene Müller, DIE LINKE: Genau.)

Zudem haben viele Träger von Freizeit- und außerschulischen Bildungsangeboten für Kinder, Jugendliche und Familien ihre Zuschüsse für Einrichtungen und Maßnahmen im Zuge der Haushaltskonsolidierungen gekürzt oder gar ganz gestrichen. Ein Teil dieser Angebote sollte aber unter dem Aspekt der Chancengleichheit durchaus zum Existenzminimum von Kindern gezählt werden.

Wie sich nach der Regelsatzverordnung die theoretische anteilige Übertragung auf den Regelsatz von Kindern und Jugendlichen verhält, ist hier schon mehrfach vorgetragen worden. Ich weise nur noch einmal auf den Anteil an Freizeit, Kultur und Bildung hin, der dabei verschwindend gering ausfällt. Auch der Anteil für ein Mittagessen deckt den Bedarf für durchschnittlich erhobene Beiträge dafür nicht ab.

Das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg hat sich im letzten Jahr mit der Frage des angemessenen Regelsatzes für Kinder insbesondere im Hinblick auf die Kosten für Bildung befasst. Dabei stellt es in Kenntnis der Entscheidungen des Bundessozialgerichts vom November 2006 fest,

(Irene Müller, DIE LINKE: 2007.)

dass die Regelsätze für Erwachsene rechtskonform seien. „In diesem Kontext erscheint die … begehrte Gewährung einer zusätzlichen Leistung“ von Antragstellern „– vorrangig als Zuschuss – für Schulbedarf im Sinne einer verfassungskonformen Erweiterung der in § 23 Abs. 3 SGB II vorgesehenen Sonderbedarfe als ein mögliches Mittel zur Beseitigung einer unzureichenden Ausstattung schulpfl ichtiger Kinder, auf das zurückgegriffen werden könnte, wenn die derzeitige Gesetzeslage … eine verfassungswidrige Situation auslöst.“ Einige der zuvor gemachten Angaben haben Sie hier sicherlich auch schon mehrfach vernommen. Wir fi nden sie zum Beispiel im Bericht der Internationalen Armutskonferenz vom Oktober letzten Jahres und in anderen wieder.

Sehr geehrte Damen und Herren von der Opposition, wenn Sie an dieser Stelle die Auffassung vertreten, dies oder Ähnliches ist uns immer wieder vorgebetet worden und die Koalitionsfraktionen zeigten sich allen Vorschlägen gegenüber unaufgeschlossen, muss ich Ihnen

sagen: Alles hat seine Zeit. Wir wollen hier keinen Antrag des Antrags willen abstimmen, sondern auch die Chance haben, dass dieser Wirkung entfaltet.

(Unruhe bei Abgeordneten der Fraktion DIE LINKE)

Denn alle, die wir hier sitzen, verfolgen doch das Tagesgeschehen auch auf Bundesebene ganz genau.

(Irene Müller, DIE LINKE: Selbst als wir gefragt haben, was Sie tun, haben Sie nicht reagiert.)

Daher wissen Sie, nachdem auf Bundesebene zunächst eine generell ablehnende und noch vor Kurzem eine eher abwartende Haltung in Bezug auf die Prüfung der Regelsätze zu verzeichnen war, haben wir jetzt eine andere Situation. Nicht zuletzt unser Sozialminister Erwin Sellering hat mit dazu beigetragen,

(Irene Müller, DIE LINKE: Erwin Sellering wollte für 49 Cent Brot kaufen gehen. – Barbara Borchardt, DIE LINKE: Er soll uns mal sagen, wo er einkauft!)

dass insbesondere die Überprüfung der Regelsätze gerade für Kinder in den Fokus der Überlegungen genommen wurde.

(Beifall bei Abgeordneten der Fraktion der CDU – Zuruf von Minister Erwin Sellering)

Und die Damen und Herren, die sich mit landwirtschaftlichen Dingen beschäftigen, werden bestätigen müssen, dass die Saat mit größerer Wahrscheinlichkeit auf einem dafür vorbereiteten Boden aufgehen wird, als wenn man ein Samenkorn auf einen harten, trockenen Acker wirft.

(Irene Müller, DIE LINKE: Sie hätten voriges Jahr schon loslegen können mit dem Ackern. – Zuruf von Barbara Borchardt, DIE LINKE)

Die SPD im Bund hat Ende Oktober des vergangenen Jahres eine sogenannte Kinderarmutskommission eingesetzt, die Maßnahmen zur Bekämpfung von Kinderarmut vorschlagen soll.

(Irene Müller, DIE LINKE: Und warum haben Sie es im November immer noch abgelehnt?)

Die Anpassung des Regelsatzes für Kinder am tatsächlichen Bedarf steht hier ebenso zur Debatte wie die Beitragsfreiheit in Kindertagesstätten, kostenloses Mittagessen in Kitas oder auch generelle Lernmittelfreiheit. Und auch die CDU im Bund hat die Bekämpfung der Kinderarmut zu ihrem Thema gemacht. Sehr geehrte Damen und Herren, nun ist es die richtige Zeit, diesen konkreten Antrag zu stellen. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei Abgeordneten der Fraktionen der SPD und CDU – Irene Müller, DIE LINKE: Die war auch voriges Jahr schon.)

Danke sehr, Frau Abgeordnete.

Im Ältestenrat wurde eine Aussprache mit einer Dauer von bis zu 45 Minuten vereinbart. Ich sehe und höre keinen Widerspruch, dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache.

Als Erster hat ums Wort gebeten der Minister für Soziales und Gesundheit Herr Sellering. Bitte schön, Herr Minister, Sie haben das Wort.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn wir einen Antrag haben zum kinderspezifi schen Regelsatz und darüber diskutieren, dann geschieht das vor dem Hintergrund, dass es in Deutschland Kinderarmut gibt,

(Irene Müller, DIE LINKE: Ach, ach! Guck an! Ach, dieses Jahr doch plötzlich?!)

und zwar in zunehmendem Umfang. Allein in Mecklenburg-Vorpommern leben 30 Prozent der Kinder in Haushalten, in denen die Eltern nicht in der Lage sind, den Lebensunterhalt sicherzustellen,

(Irene Müller, DIE LINKE: Das haben wir voriges Jahr auch schon gesagt. – Raimund Borrmann, NPD: Ja, aber das ist euer System.)

und das nicht nur, weil sie keine Arbeit haben, sondern auch – da sind wir beim Mindestlohn – weil sie, wenn sie acht Stunden arbeiten, in manchen Fällen nicht davon leben können.

(Zurufe von Barbara Borchardt, DIE LINKE, und Irene Müller, DIE LINKE)

Das ist der Hintergrund. Ich will aber zwei ganz klare Bemerkungen machen, Frau Müller, die vielleicht deutlich machen, dass unsere Parteien diesen ganzen Tatbestand etwas unterschiedlich angehen.

(Irene Müller, DIE LINKE: Ja.)

Es geht nicht immer nur um Geld. Wenn wir über Kinderarmut reden

(Barbara Borchardt, DIE LINKE: Das haben Sie uns schon erklärt.)

und die Folgen von Kinderarmut, dann geht es auch um verschiedene Dimensionen.

(Irene Müller, DIE LINKE: Nein, es geht um ein 49-Cent-Brot, ich weiß.)

Es geht um soziale, um kulturelle Armut, es geht einfach um die fehlende Kompetenz gewisser Menschen, am Leben teilzuhaben.

(Irene Müller, DIE LINKE: Ach, nun müssen die Eltern wieder kochen, ne?)

Und wir müssen hier deutlich sagen, dass diese zunehmende Kinderarmut, die zunehmenden Probleme, die wir haben, auch darauf zurückzuführen sind, dass im Zuge der Globalisierung die Schere einfach weiter auseinandergeht zwischen denen, die gut ausgebildet sind und teilnehmen können an dem, was Deutschland, der Exportweltmeister, zum internationalen Wettbewerb beiträgt und leistet. Ich würde mal so über den Daumen sagen, zwei Drittel der Menschen können davon profi tieren.