Im Ältestenrat ist eine Aussprache mit einer Dauer von bis zu 60 Minuten vereinbart worden. Ich sehe und höre keinen Widerspruch, dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache.
Als Erster hat ums Wort gebeten der Sozialminister des Landes Herr Sellering. Bitte schön, Herr Minister, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Sozialausschuss des Landtages haben wir uns detailliert mit dem Fall Lea-Sophie beschäftigt. Ich begrüße sehr, dass dieses Hohe Haus jetzt diesen Antrag der LINKEN zum Anlass nimmt, sich ernsthaft und, ich denke, auch mit der nötigen Perspektive mit die
sen schwierigen Fällen, die in ganz Deutschland passieren, auseinanderzusetzen, und das auch in einer allgemeineren Form und mit der Überlegung: Was können wir als Politik dazu beitragen, dass die Verhältnisse einfach besser und anders werden?
Meine Damen und Herren, wenn wir uns diese Fälle, die in den letzten Monaten immer wieder in der Presse aufgetaucht sind, vor Augen führen, Missbrauchsfälle, Misshandlungsfälle, dann ist, glaube ich, unvorstellbar für uns, wie es Menschen geben kann, die ihre Kinder so behandeln. Unvorstellbar ist das sogar für diejenigen im Land hier, die Akteure, die sich professionell damit beschäftigen. Wir haben Mitte des Jahres eine große Fortbildungsveranstaltung, einen sehr großen Workshop in Güstrow gehabt, an dem im Grunde alle Berufsgruppen, die hier im Lande versuchen dagegenzuhalten, beteiligt waren. Den staatlichen Stellen, Polizei, Jugendämtern, Erzieherinnen und Erziehern aus den Kitas, aber auch den ehrenamtlich Tätigen wie Kinderschutzbund wurde ein Lehrfi lm des Kommissariats aus Berlin gezeigt, um klarzumachen, um was es geht. Und es wurde vor Beginn des Films gesagt, dass diejenigen, die vielleicht schon wissen, dass sie so etwas nicht leicht aushalten können, bitte vorher den Saal verlassen sollen. Während des Films sind diejenigen, die geblieben sind, trotzdem noch zu etwa einem Drittel rausgegangen, weil es nicht auszuhalten war – mehrere hundert professionelle Menschen hier im Land.
So wurde ein Fall gezeigt, in dem eine Frau mit ihrem Lebensgefährten zusammenlebte und diese das Gefühl hatte, wenn sie von der Arbeit zurückkommt, ist das Baby verstört. Was war da eigentlich los? Sie hatte deshalb die Polizei um Hilfe gebeten und dann sind aus dem Kleiderschrank heraus heimlich Filmaufnahmen gemacht worden. Und diese Filmaufnahmen sind in einem Lehrfi lm gezeigt worden. Ich sage Ihnen, meine Damen und Herren, das ist unvorstellbar. Es ist unvorstellbar, wie ein junger, starker, großer Mann ein Baby verprügeln kann, ihm ins Gesicht boxt, es aus zwei Metern ins Bett wirft. Unglaublich! Unglaublich!
Und, meine Damen und Herren, diese Fälle sind für uns als Gesellschaft, für uns als Staat eine große Verpfl ichtung, etwas zu tun. Ich denke, dass wir mitten in dem Prozess des Umdenkens ähnlich wie bei häuslicher Gewalt sind, dass wir nicht mehr sagen, was hinter den Türen passiert, das geht nur die Familien an, sondern das geht uns alle etwas an. Wir müssen eingreifen zum Wohle der Kinder und dann muss es auch einen starken Staat geben und die Möglichkeit bestehen, Kinder sofort herauszunehmen. Ich glaube, darüber müssen wir reden und auch über die Möglichkeiten, die der Staat haben muss.
Genauso gilt aber auch, dass wir die Eltern nicht aus ihrer Verantwortung entlassen dürfen, auch Eltern, die ihre Kinder nicht richtig behandeln, die ihren Kindern nicht alles geben, was sie brauchen. Unterhalb dieser allerschlimmsten Fälle, die die Spitze des Eisberges sind, gibt es Hunderte, Tausende von Fällen, wo es Kindern einfach schlecht geht, und da müssen wir dafür sorgen, dass Eltern ihre Aufgabe wahrnehmen. Das ist ganz schwer, wie man sie dazu kriegen will. Es gibt zum Beispiel die Überlegung, fi nanzielle Leistungen zu kürzen. Als ehemaliger Richter, der im Sozialrecht tätig war, bin ich da sehr skeptisch, weil ich ab und zu dem Familienvorstand 20 Prozent gekürzt habe und immer der Meinung war, das spart er ja nicht am Bier ein. Das ist das Problem. Deshalb glaube ich, dass es, wenn wir sagen,
wir müssen versuchen, die Eltern zu bewegen, nicht nur um Geld gehen kann, genauso wie es, wenn wir Kindern helfen wollen, nicht nur darum gehen kann, mehr Geld ins Portemonnaie der Eltern zu bringen, sondern wir müssen daran denken – das ist, glaube ich, die Linie, über die wir uns alle einig sind –, dass wir mehr tun müssen, damit Dinge bei den Kindern direkt ankommen.
Meine Damen und Herren, es ist, glaube ich, deutlich geworden – auch aus der Rede von Frau LochnerBorst, für die ich mich bedanke –, dass dies ein Problem unserer Gesellschaft insgesamt ist, bei dem wir ernsthaft darüber nachdenken müssen, alle, die für diese Gesellschaft etwas tun können, was wir da tun müssen, was für Werte wir eigentlich haben, wie unser Wirtschaftssystem ist, dass Menschen sich so gedrückt fühlen, sodass sie das Gefühl haben, sie schaffen es nicht mehr, sie haben keine Möglichkeiten klarzukommen, sie machen sich so viel Sorgen um ihren Job, so viel Sorgen darum, wie leistungsfähig sie noch sind, dass das mit den Kindern dann nicht geht.
Ich will mich aber als der zuständige Landesminister jetzt nicht ins Allgemeine fl üchten, sondern wir müssen ja sagen: Wir als Landesregierung, wir als Land, wir als Landesgesetzgeber müssen tun, was uns möglich ist. Und da gibt es jetzt den Gesetzentwurf der LINKEN, aber wir wissen natürlich alle, dass es seit Monaten einen Gesetzentwurf der Landesregierung gibt, der sehr detailliert diskutiert worden ist. Ich habe hier die Eckpunkte schon mehrfach vorgestellt. Ich will das noch einmal ganz kurz tun.
Es muss darum gehen, dass wir als Landesregierung, wir als Staat Familien weitreichende Hilfen geben, und zwar allen Familien, aber besonders Familien, in denen besondere Risikolagen bestehen, und wir müssen diejenigen Familien herausfi nden, bei denen wir eingreifen müssen. Die Dinge passieren hinter verschlossenen Türen und wir müssen Kenntnis haben, damit man wirklich eingreifen kann. Deshalb muss es darum gehen, dass wir von mehr solcher Fälle wissen können. 97 Prozent der Kinder bei uns sind in der Kita, da sind natürlich Erkenntnismöglichkeiten, aber Lea-Sophie zum Beispiel war nicht in einer Kita. Und dann müssen wir schauen, wo es Erkenntnismöglichkeiten gibt.
Da ist die Überlegung unseres Gesetzentwurfes, bei den Frühuntersuchungen anzusetzen und zu sagen – und das ist die Hauptaussage –, wer mit seinem Kind nicht zu diesen Frühuntersuchungen geht und wer sich weigert hinzugehen, auch nachdem wir ihn anschreiben und betonen, dass es wichtig ist, bei dem lohnt es sich nachzuschauen, da müssen wir im Interesse der Kinder nachschauen, was das für Eltern sind, und Hilfe anbieten. Deshalb schicken wir den Gesundheitsdienst hin und bieten auch Hilfe über die Familienhebammen an. Da wird jetzt in der Diskussion und gerade, wenn ein aktueller Fall da ist, mit aller Härte etwas gesagt – und da gibt es auch viele markige Worte, da müssen wir, glaube ich, immer aufpassen, wenn Fälle aktuell sind – und drei Monate später, wenn wir es gesetzlich umsetzen wollen, fehlen mir die Verbündeten. Also da brauchen wir – das muss ich auch einmal klar sagen – Verbindlichkeit und mehr langen Atem.
Zur Verbindlichkeit von Frühuntersuchungen lassen Sie mich einmal sagen, ich fi nde, unser System hat ein ganz hohes Maß an Verbindlichkeit dadurch, dass wir diejenigen erfassen, die nicht hingehen, und denen einen Besucher schicken und fragen, was ist bei euch los. Ich halte das für wirkungsvoller. Die Einzigen, die sonst Konsequenzen ziehen, sind die Bayern. Diese kürzen das Landeserziehungsgeld. Aber diese Konsequenz, dass wir hingehen und sagen, das schauen wir uns an, das halte ich für ein hohes Maß an Verbindlichkeit.
Ich muss allerdings auch sagen, dass ich gern mit Ihnen gemeinsam prüfen will im Gesetzgebungsverfahren, ob man diese Idee, diese Überzeugung, die wir haben – bei demjenigen, der nicht zur Frühuntersuchung geht, auch wenn wir ihn mahnen, ist das ein Anhaltspunkt, um nachzuschauen –, vielleicht ins Gesetz schreibt. Dies wäre die Frage, ob wir das reinschreiben und sagen, das ist für uns etwas, wo wir eine klare Ansage ans Jugendamt machen, hier gibt es Leute, auf die ihr bitte achten müsst.
Also es geht um ein ganz hohes Maß an Verbindlichkeit, aber es geht natürlich auch um Praktikabilität.
Und, meine Damen und Herren, was die Frühuntersuchung angeht, da gibt es ja Diskussionen, dass Menschen sagen, auch Leute vom Fach, die Erkenntnismöglichkeiten bei der Frühuntersuchung selbst sind begrenzt. Das würde ich sofort unterstreichen. Natürlich ist das begrenzt. Diejenigen, die zur Frühuntersuchung müssen und vielleicht auch hingehen, werden eventuell einen Zeitpunkt wählen, wo das Kind nicht gerade mit blauen Flecken übersät ist. Also insofern sind die Erkenntnismöglichkeiten begrenzt. Aber dafür will ich noch einmal werben, dass Sie bitte den Hauptansatz dieses Gesetzes verstehen und mittragen. Es geht nicht darum, bei der Frühuntersuchung in erster Linie Erkenntnisse zu bekommen, sondern es geht darum, Erkenntnisse darüber zu erhalten, warum Menschen nicht hingehen, und daran anzuknüpfen und zu sagen, wer das nicht tut, zu dem gehen wir hin. Also das ist ganz wichtig.
Meine Damen und Herren, wenn der Öffentliche Gesundheitsdienst bei den vielen hundert Fällen, wo Hilfe nötig ist, dann Hilfe leistet, Unterstützung leistet über die Familienhebammen, dann werden sie allerdings auch die wenigen Fälle herausfi nden, wo es nicht um Hilfe geht, sondern um repressives Einschreiten, wo man – ich überspitze – sofort die Tür eintreten muss, um Kinder zu retten. Dann muss das Jugendamt eingreifen und das Jugendamt hat, darüber müssen wir auch diskutieren, im Moment ein sehr weitgreifendes Instrumentarium. Ich bin gern bereit, darüber zu diskutieren, ob wir das erweitern müssen im Bund, aber zunächst einmal haben wir dieses Instrumentarium.
Beim Jugendamt, lassen Sie mich auch das deutlich sagen, sehe ich folgende Schwierigkeit: Das Jugendamt begreift sich selbst – auch wenn das draußen manchmal etwas anders verstanden wird, weil die Leute Angst haben, wenn das Jugendamt kommt, wird mir das Kind weggenommen, deshalb ist die Fähigkeit und die Bereitschaft, Probleme zu offenbaren, nicht so ausgeprägt – als Helfer und Unterstützer der Familien, der Kinder und der Eltern. Das tun sie und sie haben eine ganz schwere Aufgabe, die sie mit großem Engagement erfüllen. Sie müssen sich vorstellen, dass jemand, der sich als Helfer begreift und in 95 Prozent seiner Arbeit ein Helfer ist,
plötzlich umschalten und sagen muss, jetzt muss ich wie ein Polizist repressiv handeln. Darin sehe ich ein großes psychologisches Problem und da, denke ich auch, müssen wir helfen. Deshalb ist auch mein Ansatz, wenn ich über die Hotline rede,
die mir im Moment noch kommunikative Schwierigkeiten mit den Jugendämtern bereitet, die wir aber hoffentlich ausräumen werden, …
Also da geht es doch auch um Folgendes: Wenn wir auf ein repressives Element umschalten müssen, dann bin ich sehr dafür, dass wir das hier im Land nach einem zentralistisch ausgerichteten Regime, über das wir reden und von dem wir alle sagen, das ist das beste, anwenden. Und wenn wir das gemeinsam anwenden und die Fälle hinterher noch auswerten, dann müssen wir uns zusammensetzen in Arbeitsgruppen, wie auch immer, und sagen, wo es noch besser laufen könnte, dann lernen wir voneinander. Ich will das nicht von oben vorgeben, das kann ich nicht. Dazu habe ich keine rechtliche Möglichkeit, aber ich möchte doch alle Jugendämter bitten anzuerkennen, dass dies etwas ist, was wir bitte so organisieren sollten, dass es am besten ist und so möglichst weitgehend Kinder gerettet werden können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren, ich habe Ihnen jetzt die drei Maßnahmen genannt: Familienhebamme, das Gesetz zur Früherkennung, Hotline. Das sind drei Maßnahmen, die wir umsetzen können, die helfen werden, aber das können nur Mosaiksteinchen sein.
Deshalb möchte ich Sie alle einladen. In meiner Fraktion ist das diskutiert worden, wir haben es im Sozialausschuss diskutiert. Ich denke, wir müssen in den nächsten Monaten – und bitte möglichst gemeinsam – diskutieren, was noch mehr nötig ist. Und wir müssen darüber nachdenken, was es für ein Gesamtprogramm geben kann, ein Gesamtprogramm, an dem wir die vielen Mosaiksteinchen noch zusammenführen von dem, was wir als Staat machen können, um einen bestmöglichen Schutz zu bekommen. Und das bitte, meine Damen und Herren, sollte mit langem Atem erfolgen, unabhängig von aktuellen Fällen. Ich glaube, das sind wir den Kindern schuldig.
Ich nehme wahr hier im Land, auch durch das, was wir hier als Koalition sagen, wir wollen dieses Land kinderfreundlicher machen, worüber ich viele Diskussionen führe. Ich nehme wahr, dass die Stimmung so ist, dass viele Menschen mithelfen wollen, dass wir dieses Ziel erreichen. Und ich nehme wahr, dass viele Menschen mithelfen wollen, dass wir Kinder viel besser schützen wollen. Ich bitte Sie alle hier in diesem Hohen Haus, dazu beizutragen. Lassen Sie uns das gemeinsam tun, an einem Strang zu ziehen. um etwas für die Kinder im Land zu erreichen. – Vielen Dank.
Es hat jetzt das Wort für die Fraktion der SPD der Abgeordnete Dr. Nieszery. Bitte schön, Herr Abgeordneter.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir alle trauern um die kleine LeaSophie. Wir können das wochenlange Martyrium des kleinen Mädchens nicht begreifen. Es macht nicht nur tief betroffen, sondern es macht vor allem auch wütend. Man ist wütend auf diejenigen, die diese Qualen zuge lassen haben. Wie können Eltern das Wertvollste, das sie jemals besitzen werden, so dermaßen schlecht und grausam behandeln? Wir sind aufgewühlt und begegnen mit einer gewissen Verständnislosigkeit der Argumentation der zuständigen Behörden, die keinerlei Fehler gemacht haben wollen. Ich will auch nicht behaupten, dass hier ein Fehlverhalten vorliegt, aber wenn ein Kind nach monatelangen Qualen stirbt, dann ist eine vorschnelle Vorverurteilung einzelner genauso schlimm und so unsensibel wie der Versuch des möglichst frühzeitigen Reinwaschens von jedweder Schuld.
Dieser Fall bedarf zunächst einer tiefgreifenden und objektiven Untersuchung. Die von der Koalition beantragte Unterrichtung zu diesem Fall durch den Sozialdezernenten der Stadt Schwerin hat die traurigen Geschehnisse zunächst einmal in ein sehr sachliches Licht gerückt, das war wichtig und ausgesprochen hilfreich. Und wir als Gesetzgeber? Hat sich nicht jeder von uns angesichts der Tragödie die Frage gestellt, ob wir mit unseren Mitteln den Tod des kleinen Mädchens hätten verhindern können? Diese Frage lässt sich nicht so einfach mit Ja oder Nein beantworten, wie mancher es vielleicht gern hätte. Gerade bei dem Problem in dem sensiblen Bereich an der Schnittschnelle zwischen der streng geschützten Privatsphäre der Familie und dem Sicherheitsanspruch des Individuums hilft Aktionismus nur wenig.
Meine Damen und Herren, fassen wir die traurigen und erschreckenden Fakten in unserer Republik einmal zusammen: Jedes Jahr werden in Deutschland circa 3.300 Fälle von Kindesmisshandlung zur Anzeige gebracht. Die Dunkelziffer in diesem Bereich der Kriminalität wird von Experten auf 20.000 bis 100.000 Fälle pro Jahr geschätzt. Im Jahre 2005 gab es bundesweit 105 Todesfälle infolge von Misshandlung oder Vernachlässigung. In 70 Fällen waren die Kinder jünger als 6 Jahre, in 35 Fällen lag ihr Alter zwischen 6 und 14 Jahren. Nach Studien der OECD und von UNICEF für das Jahr 2003 kommt es statistisch in Deutschland unter 100.000 Kindern zu etwa einem Todesfall durch Misshandlung, während beispielsweise in Portugal, Mexiko oder den USA zwei- bis dreimal so viele Kinder getötet werden, in Skandinavien allerdings nur halb so viele.
Kriminologische Erhebungen gehen davon aus, dass mehr als die Hälfte aller Vernachlässigungs- und Misshandlungsfälle mit Todesfolge auf völlig abnormes und fehlendes Sozialverhalten der Eltern, oft in Verbindung mit Suchtmittelmissbrauch zurückzuführen sind. In seriösen sozialwissenschaftlichen Studien wird dargelegt, dass etwa ein bis zwei Prozent der Familien in Deutschland erziehungsunfähig sind und circa 2,6 bis 5 Millionen Kinder und deren Familien an der Armutsgrenze leben. Diese Zahlen und Fakten belegen, dass ein trauriges Schicksal wie das der kleinen Lea-Sophie in unserer Gesellschaft die Spitze eines grausiges Eisberges ist, von dem wir nicht wissen, wie groß er wirklich ist.
Dennoch bleibt festzuhalten, die ganz übergroße Mehrheit der Eltern sorgt sich liebevoll und mit großer Verantwortung um ihren Nachwuchs. Deshalb ist es wichtig, möglichst zielgenaue Instrumentarien zu entwickeln, ohne dabei einen ganzen Kübel von Zwangsmaßnahmen und Repressalien über alle Eltern auszuleeren. Es darf keinen gesetzlich legitimierten Generalverdacht gegen Eltern geben. Das würde nur einer unberechenbaren Hysterie Vorschub leisten und das gesellschaftliche Klima vergiften.
Immer wieder, so auch in dem vorliegenden Gesetzentwurf, wird eine Verpfl ichtung zur Teilnahme an der Untersuchung zur Früherkennung von Kinderkrankheiten und Krankheiten bei Kindern als möglicher Lösungsansatz genannt. Diese Untersuchungen sind heute schon das erfolgreichste Vorsorgeprogramm in Deutschland. Obgleich die Erfüllungsrate insbesondere im ersten Lebensjahr mit 95 Prozent sehr hoch ist und auch noch bis zum Ende des 6. Lebensjahres bei gut 70 Prozent liegt, bietet eine derartige Verpfl ichtung zumindest die Möglichkeit eines umfassenden Frühwarnsystems. Gleichwohl sind aber besonders zwischen dem Ende des 1. Lebensjahres und dem 6. Lebensjahr die Untersuchungsintervalle so groß und die Fristenspanne zur Anmeldung derart gestreckt, dass die verpfl ichtende Teilnahme an den U’s nur ein Baustein innerhalb einer umfassenden Präventionsstrategie sein kann. Ein Allheilmittel ist das ganz sicher nicht.
Sollten jedoch bei diesen Untersuchungen Hinweise auf Vernachlässigung oder gar Misshandlung festgestellt werden, so besteht die Möglichkeit, im Zusammenspiel mit Gesundheits- und Jugendämtern ein diagnosebezogenes, sehr engmaschiges Kontrollnetz in Kombination mit Hilfsangeboten zu knüpfen. Die Möglichkeit von regelmäßigen Kinderuntersuchungen in Kitas scheint mir, wie hier im Gesetz vorgeschlagen, ein wenig übertrieben, obgleich ich sie zum jetzigen Stand der Diskussion nicht grundsätzlich verwerfen möchte. Allerdings würden wir bei der relativ hohen Inanspruchnahme der U’s hier vielleicht unnötige Doppelstrukturen schaffen, die Mittel und Personal binden würden, die anderswo effektiver eingesetzt werden könnten.
Allerdings glaube ich schon, dass es sich lohnt, in der anstehenden Debatte ernsthaft über die verbindliche Einführung einer Vorschuluntersuchung nachzudenken. Ebenso wichtig erscheint es mir, dass wir Erzieherinnen und Erzieher, aber auch die Lehrerinnen und Lehrer noch besser in die Lage versetzen, Hinweise auf Vernachlässigung zu erkennen. Das macht allerdings nur Sinn, wenn wir ihnen auch die notwendige Rechtssicherheit garantieren für den Fall, dass sie derartige Verdachtsmomente weitergeben – ein Problem, das im Rahmen der Schweigepfl icht besonders auf Ärzte zutrifft. Menschen, die helfen wollen, dürfen nicht der Angst ausgesetzt sein, für ihren Hilfeversuch bestraft, gesellschaftlich geächtet oder existenziell bedroht zu werden.
Ich möchte in diesem Zusammenhang ausdrücklich anregen, sehr ernsthaft über sogenannte Gewalt- oder Opferambulanzen nachzudenken, wie sie beispielsweise bereits in Hamburg existieren. Ein enges und vertrauensvolles Zusammenspiel von Kindertagesstätten und Schulen auf der einen und Gesundheitsämtern oder eventuell Opferambulanzen auf der anderen Seite scheint mir eine der ganz wesentlichen Grundlagen für einen noch effek
tiveren Kinderschutz zu sein. Mögliche Indizien können sehr schnell überprüft und notwendige Hilfen in Zusammenarbeit mit den Jugendämtern installiert sowie gegebenenfalls notwendige Zwangsmaßnahmen durchgesetzt werden.
Aber, meine Damen und Herren, wie gehen wir mit den Kindern um, die nicht in Kindertagesstätten sind? Ich denke, hier gibt es sehr gute Beispiele, insbesondere aus Kommunen, wie wirksamer Kinderschutz praktiziert wird. Das Hauptaugenmerk muss in diesem Bereich auf die aufsuchende Hilfe gerichtet werden. Ich empfi nde es nicht als Generalverdacht, Belästigung oder Entmündigung, wenn Familien, die ihre Kinder nicht in Tagesstätten geben, in unregelmäßigen Abständen entweder von Familienhebammen oder geschulten Mitarbeitern von Jugend- oder Gesundheitsämtern aufgesucht werden. In einigen Regionen Deutschlands gibt es dazu bereits erfolgreiche Modellprojekte und in Finnland ist eine derartige Betreuung, beginnend mit der Geburt eines jeden Kindes, schon landesweit installiert.
Diese Familienbetreuer verschaffen sich vor Ort einen Überblick, der sicher in den meisten Fällen zeigt, dass die Kinder ein gutes Zuhause haben. Bei Problemfällen allerdings können sofort Hilfsangebote unterbreitet und gegebenenfalls darüber hinausgehende Hilfsmaßnahmen eingeleitet werden.