Woher kommt die Schulgesetzänderung, die das Sitzenbleiben, das Klassenwiederholen abgeschafft hat? Dieser Punkt ist damals – dies ist gerade von meinen Vorrednern angesprochen worden – im Rahmen des Primarschulpakts im Frühjahr 2010 ins Schulgesetz gekommen. Alle, die da
mals hier schon mitgewirkt oder jedenfalls das parlamentarische Geschehen wie ich sehr aufmerksam in dieser Zeit verfolgt haben, wissen, dass dieser Punkt, die Abschaffung des Sitzenbleibens, damals nicht wirklich ausführlich, pädagogisch und in den Ausschüssen vertieft debattiert worden ist.
Dieser Punkt hingegen ist Teil des Deals, den der damalige SPD-Führer Scholz mit nach Hamburg gebracht hat, nachdem er in Berlin abgewählt war und hierher kam.
Er hat gesagt, wenn Schwarz-Grün das so mitmache – er nenne ein paar Punkte, dazu gehöre das Abschaffen des Sitzenbleibens, kleinere Klassen und Abschaffung des Büchergeldes –, dann würde die SPD den Abgeordneten Ties Rabe zurückpfeifen, der bis dahin sehr gut strategisch mit "Wir wollen lernen" zusammengearbeitet hatte, und die Primarschulreform unterstützen. Das Gesetz wurde beschlossen, Herr Rabe stellte keine Schriftlichen Kleinen Anfragen mehr, und das Ergebnis ist bekannt: Herr Rabe wurde Schulsenator. Und was ist aus der Regelung geworden? Jetzt sprechen wir einmal für die Kinder. Das Problem ist doch, dass das Gesetz damals geändert worden ist, ohne dass jemand im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens darüber nachgedacht hat, durch was man denn das ersetzen soll,
wenn die Schüler einfach aufgerückt werden. Und erst im September 2011, da war das erste Amtsjahr von Schulsenator Rabe fast zu Ende, kam eine Verordnung von Herrn Rabe bezüglich der Förderkurse auf den Tisch und wurde durch die Deputation gedrückt. Ich nenne es lieber staatliche Ersatznachhilfe, ich bleibe einmal bei dem Begriff. Das Problem dieser Verordnung ist – davor dürfen wir als verantwortliche Politiker unsere Augen nicht verschließen –, dass aus wirtschaftlichen oder sonstigen Gründen die Förderung erst zu spät ansetzt. Die Schüler erhalten Förderkurse, wenn sie schon auf einer Fünf sind.
Versetzen Sie sich einmal in Ihre eigene Schulzeit, Mittelstufe, siebte oder achte Klasse. Ich weiß nicht, wer von Ihnen dort in einem, in zwei, in drei oder vier Fächern auf einer Fünf stand oder schlechter war. Wenn Sie dort vormittags im normalen Unterricht sind, inzwischen fast ganztagsschulmäßig, und der Stoff ihrer normalen Klasse geht weiter, dann rutschen Sie in einem oder zwei Fächern auf eine Fünf oder schlechter und werden
in einen Förderkurs geschickt. Dann ist es für dieses Fach zu spät, und Sie kommen – das sehen wir an den Zahlen, die der Senat jetzt vorgelegt hat – auch nicht mehr in die Spur.
Die Senatsantwort auf eine Schriftliche Kleine Anfrage vom 8. März 2013 hat überdies ergeben, dass Senator Rabe und die Schulbehörde nicht die geringste Ahnung haben, wie individuell, auf die Schüler bezogen, diese Förderkurse, diese staatliche Ersatznachhilfe greifen. Es heißt in der Senatsantwort, der Behörde lägen keine Daten vor, die einen schülerbezogenen Abgleich machen würden.
Wir haben ein paar Zahlen, um zu evaluieren, was diese Ersatznachhilfe bisher gebracht hat, und die sind erschreckend. Mehr als 12 000 Schülerinnen und Schüler haben nach den Zahlen, die Herr Senator Rabe in einer Pressemitteilung veröffentlicht hat, im letzten zurückliegenden Jahr erfolglos an diesen Kursen teilgenommen, weil sie immer weiter in das jeweils nächste Halbjahr hinein in diesen Nachmittagskursen blieben. Währenddessen ging vormittags der Unterricht weiter. Und wer von traumatisierenden Erlebnissen spricht, weil er meint, das Zurückgehen in eine Klasse, um neu anzufangen und auf dem Basiswissensstand wieder anzufangen, sei ein traumatisierendes Erlebnis, der muss sich einmal in die Lage eines 13- bis 15-Jährigen versetzen, der jeden Morgen in die Schule geht und weiß, dass er nicht weiß, worum es geht. Er sitzt da und die Klasse macht Unterricht. Er weiß nicht, worum es geht. Er hat Angst vor jeder Klausur und Angst vor jeder Klausurrückgabe, weil er weiß, er wird wieder eine Fünf oder eine Sechs haben. Über 12 000 Schülerinnen und Schülern geht es schon jetzt so in diesem Rabe-Förderkurssystem. Das heißt, wir müssen etwas daran machen.
Außerdem ist schon jetzt klar, dass die Milchmädchenrechnung vom Sparen nicht aufgeht, denn wir haben bisher im Förderkurssystem, das Herr Rabe aufgesetzt hat, nach seinen eigenen Zahlen schon über 7,6 Millionen Euro Steuergelder ausgegeben für Honorarkräfte und alles, was damit zusammenhängt. Aber die vermeintlichen Einsparungen von angeblich statistisch 6000 Euro pro Schülerin und Schüler, die nicht ein Jahr länger in der Schule sind, haben wir netto überhaupt nicht dagegen, die sind weg. Das heißt, wir haben ein teures, wahrscheinlich ineffizientes Förderkurssystem, bei dem dringend nachgesteuert werden muss.
Wir wissen außerdem, dass die Mehrheit der Schülerinnen und Schüler nach einer kürzlich erschienenen Forsa-Umfrage, nämlich 85 Prozent, sagen, Sitzenbleiben oder jedenfalls die Chance des Sitzenbleibens sei sinnvoll und wichtig, und sie möchten dies weiter haben.
Ich möchte einen wichtigen Punkt ansprechen. Es wird immer darüber gesprochen, was jemand vom Sitzenbleiben hat, der sitzenbleibt. Was aber immer ausgeblendet wird, ist, dass die große Mehrheit der Schülerinnen und Schüler, die nach dem Halbjahr merken – gerade in der Pubertät, von der sechsten bis zur neunten Klasse –, dass es jetzt brennt und die damals eine Versetzungsverwarnung bekommen haben, sich dann motiviert und angestrengt haben und dann die Leistung doch noch erbracht haben. Da standen sie noch nicht auf Fünf oder Sechs, deswegen hat es geklappt. Deswegen darf man diesen motivierenden Effekt der pädagogischen Maßnahme nicht ausblenden.
Deswegen komme ich zum Petitum der CDU an dieser Stelle. Wir meinen, Herr Senator Rabe muss jetzt eine letzte Chance haben. Wir wollen sie ihm geben und mitwirken.
Herr Senator Rabe und wir alle als Schulpolitiker im Schulausschuss sollten uns ernsthaft zusammensetzen und uns dieses Fördersystem, das im Moment nach allen Zahlen, die wir haben, dabei ist, an die Wand zu fahren und viele Tausende von Schülerinnen und Schüler auf abstürzende Schulkarrieren zu schieben, näher anschauen, und wir sollten wahrscheinlich gegensteuern. Das können wir, ich kenne uns im Schulausschuss. Wir wissen alle, wovon wir reden. Wir haben unterschiedliche Meinungen, aber wir können, wenn wir wollen, gut zusammenarbeiten.
Deswegen möchte ich Sie einladen, gemeinsam, auch Sie von der SPD, Herrn Rabe die letzte Chance zu geben. Stimmen Sie dafür, dass wir den Antrag an den Schulausschuss überweisen.
Noch ein Letztes. Das Einzige, was uns an dem FDP-Antrag stört, ist, dass er letztlich einen Kuschelkurs aus dieser pädagogischen Maßnahme macht, denn er setzt für das Klassenwiederholen voraus, dass die Zustimmung des Schülers und der Sorgeberechtigten vorliegt oder sogar der Wunsch der Schüler und Sorgeberechtigten. Wenn Sie sich an Ihre Schulzeit erinnern, dann ist der Schüler in den seltensten Fällen damit einverstanden. Wenn man ihm also sagt, du bleibst sitzen, dann ist es relativ unwahrscheinlich, dass er sagt, das sei prima und das möchte er auch. Viele von ihnen werden stattdessen sagen, nee, wenn ich weiterkomme, Dicker, dann gehe ich weiter.
Vizepräsident Dr. Wieland Schinnenburg (unter- brechend): Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Holster?
Habe ich Sie jetzt richtig verstanden, dass sich die CDU-Fraktion erst einmal grundsätzlich dazu bekennt, das Sitzenbleiben wieder einzuführen auf der Grundlage dieses FDP-Antrags?
Wir halten es für sinnvoll, darüber nachzudenken, ob die Ersatzmaßnahme der Nachhilfekurse, wie sie jetzt besteht, ausreichend ist. Wenn das nicht der Fall ist, müssen wir uns im Interesse der Schülerinnen und Schüler als nächsten Schritt überlegen, was dann die Folge ist.
Wenn also die Nachbesserung nicht ausreicht, dann ist es natürlich sinnvoll, wenn neben den Förderkursen, die für die Schüler da sind, die vielleicht nur in einem oder vielleicht in zwei Fächern schlecht sind, aber in anderen gut, die klare pädagogische Maßnahme kommt als Nebeneinander neben dem Fördersystem.
Deswegen lade ich Sie alle noch einmal ein und bitte Sie, der Überweisung an den Schulausschuss zuzustimmen, damit wir hier weiterkommen, denn jeder Monat, den wir die Sache schleifen lassen, ist ein verlorener Monat für die Kinder in Hamburg. – Vielen Dank.
Herr Präsident, meine Damen und Herren! Zunächst zum Beitrag von Herrn Dr. Scheuerl. Ihre historische Exkursion über das Zustandekommen dieses Schulgesetzes ist völlig falsch, das muss ich einfach so sagen. Das ist auch eine Überschätzung des Wirkungsgrades von Herrn Scholz, damals noch nicht Bürgermeister. Bereits im ersten Entwurf des Hamburger Schulgesetzes stand selbstverständlich: Fördern statt Wiederholen. Das muss ich einfach ergänzen, um der Legendenbildung vorzubeugen.
Ich bin begeistert, dass Herr Dr. Scheuerl gerade ein flammendes Plädoyer für die Individualisierung gehalten hat, denn er benannte das Frusterlebnis, immer den Anschluss verpasst zu haben. Deswegen – wir haben nächste Woche die Expertenanhörung im Schulausschuss – geht es uns darum,
Nun aber zum Antrag der FDP. Dieser Antrag ist wirklich richtig überflüssig in diesem Parlament. Was sich da nämlich so blumig hinter Begriffen wie Wiederholungen oder unbürokratisches Zulassen verbirgt, ist nichts anderes als von der Ausnahme wieder zur Regel zu kommen. Das verbirgt sich dahinter, und dagegen verwahren wir uns ausdrücklich.
Die Regel ist nämlich in anderen Bundesländern – und war bisher auch immer so –, dass ein Viertel aller Schülerinnen und Schüler im Laufe ihres Lebens sitzengeblieben sind. Das ist viel zu viel und das ist unnötig. Schauen Sie sich einmal an, welche Folgen so ein Sitzenbleiben hat. Dazu gibt es schon seit 30 Jahren unzählige Studien, ich habe so viele gelesen. Traumatische Erlebnisse, Diskriminierung, Loser-Image, Langeweile in den Fächern, die man eigentlich schon kann, und völlig aus der Gruppe herausgerissen zu sein sind nur ein paar Beispiele. Wollen wir das Kindern in Hamburg wirklich länger zumuten? Ich glaube, nicht.
Ganz abgesehen davon kostet es Geld, nämlich 6000 Euro pro Jahr. Die kann man wirklich – das hat Herr Lein schon völlig richtig gesagt – besser investieren, und zwar in individuelle Förderung. Dass da einiges noch hakt, wissen wir auch, das weiß mit Sicherheit auch Herr Senator Rabe. Aber das Prinzip ist richtig, und wir sollten auf gar keinen Fall, nur weil es hier und da noch Verbesserungsbedarf gibt, davon abrücken.
Zur Begründung der FDP in ihrem Antrag möchte ich auch etwas sagen. Die Schlussfolgerung, dass nur 37 Prozent aller Schülerinnen und Schüler, die Nachhilfe bekommen haben, im Folgejahr nicht wieder Nachhilfe genommen haben, ist schlicht falsch, weil die Statistik falsch interpretiert wird. In dieser Statistik sind nämlich sehr viele Kinder aus dem Bildungs- und Teilhabepaket. Und das sind Kinder, die noch nicht von Klassenwiederholung bedroht sind, sondern die bereits bei einer Vier minus einen Anspruch auf Lernförderung haben, was wir auch alle in diesem Hause begrüßen. Da haben Sie leider, liebe FDP, die Statistiken falsch interpretiert. Die Begründung ist schon einmal nichtig.
Dann wird weiter gesagt, Sitzenbleiben garantiere eine erfolgreiche Schulkarriere. Alle Studien belegen, dass das falsch ist. Im ersten Jahr ist es noch
erfolgreich, im zweiten Jahr ist es schon verpufft. Wollen wir wirklich so viel Geld investieren, dass es vielleicht ein Jahr mal ein bisschen erfolgreicher ist, mit allen sozialen und emotionalen Nachteilen, die ich schon aufgezählt habe? Meiner und der Auffassung meiner Fraktion nach steckt nur eines dahinter. Es geht eigentlich nur darum, dass die Kinder am Gymnasium bleiben sollen. Es geht nämlich darum, das hört man immer wieder, dass sie die sechste Klasse wiederholen können sollen, damit sie dann das Turbo-Abi schaffen. Das ist dann aber gar kein Turbo-Abi mehr, sondern G9. Das ist eine völlig fadenscheinige Begründung, denn wir haben doch G9, und zwar an der Stadtteilschule. Das ist eine wunderbare Alternative, dazu müssen wir das Sitzenbleiben nicht wieder einführen.