Protocol of the Session on January 25, 2012

Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 78 auf, Drucksache 20/2824, Antrag der FDP-Fraktion: Durchlässigkeit im Hamburger Schulsystem.

[Antrag der FDP-Fraktion: Durchlässigkeit im Hamburger Schulsystem – Drs 20/2824 –]

Diese Drucksache möchte die FDP-Fraktion an den Schulausschuss überweisen. Wer wünscht das Wort? – Frau von Treuenfels wünscht es und hat es.

Sehr geehrter Herr Präsident, meine Damen und Herren! Als Sie in der vergangenen Woche die Herbststatistik vorgestellt haben, Herr Senator Rabe, da war die Hamburger Schulwelt einmal wieder ganz in Ordnung, wie das eigentlich immer bei den Pressekonferenzen des Schulsenators der Fall ist. Im Aufwind sehen Sie die staatlichen Schulen, gerade die weiterführenden. Ein interessantes Detail ging allerdings in Ihrer Jubelmeldung fast unter. In Klasse 5 besuchen noch mehr Kinder das Gymnasium als die Stadtteilschule, das ändert sich in Klasse 7, hier gehen 53 Prozent der Schüler in die Stadtteilschule, 47 Prozent in das Gymnasium. Die Stadtteilschule überzeuge eben immer mehr Schüler, so Ihr etwas schlicht gehaltener Kommentar, Herr Senator. Man kann und sollte die Zahlen aber ganz anders interpretieren, nämlich, dass viele Gymnasien die letzte Chance zur Abschulung von Schülern nutzen. Hauptgrund: Nach Klasse 6 darf nicht mehr abgeschult werden. Diese Regelung richtet sich im Endergebnis, wenn man ehrlich ist, gegen die Kinder und Jugendlichen. Denn gerade im Teenageralter, nämlich in der Pubertät, machen Kinder und Jugendliche oft noch manchmal nicht voraussehbare Entwicklungen, also gerade nach Klasse 6. Schulkarrieren sind deshalb sehr individuell geprägt. Die einen entdecken ihr Talent für Sprachen, die anderen entwickeln eine Vorliebe für Naturwissenschaften, bisher gute Schüler lassen nach, andere entwickeln plötzlich Ehrgeiz und ziehen an. Die fehlende Durchlässigkeit nach Klasse 6 wird diesen individuellen Entwicklungen aber nicht gerecht, sie kann sie sogar behindern, weil wir keine vernünftigen Regelungen hierzu im Gesetz oder Verordnungen haben.

Tun wir den Gymnasialschülern wirklich etwas Gutes, wenn wir sie bis Klasse 10 mitgeschleppt haben, um dann das Gymnasium eventuell ohne Abschluss verlassen zu müssen? Eine Abschottung ist schlecht für die Schüler, erst recht mit Blick auf das Abschaffen des Wiederholens und die Installierung eines Nachhilfesystems, von dem wir immer noch nicht wissen und nur hoffen können, dass es überhaupt erfolgreich sein wird.

Nächste Frage. Unterstützen wir die Schüler einer Stadtteilschule, deren Leistungen sich vielleicht sogar verbessert haben, sodass sie am Gymnasium mithalten könnten, wirklich in angemessenem Maße, wenn wir einen Schulwechsel nicht ermöglichen? Wir meinen eindeutig nein.

(Beifall bei der FDP)

Das ist weder den Schülern noch den Schulen zumutbar. Das Anmeldeverfahren und damit auch die Empfehlung für die weiterführenden Schulen beginnt nächste Woche. Für viele Schüler und Eltern ist das ein wichtiger Schritt; auch hier würde die Durchlässigkeit den Druck erheblich verringern. Schulkarrieren dürfen nicht bereits in der Unterstufe zementiert werden. Darum fordern wir, den Wechsel in beide Richtungen, auch nach Klasse 7, einfach und unbürokratisch zu ermöglichen. Die Eltern sollten auch hier ihr Wahlrecht nutzen können und sich dabei von dem zuständigen Lehrer beraten lassen. Natürlich bedarf es hierzu vernünftiger Kriterien, auf die sich Eltern und Lehrer verlassen können. Diese möchten wir gern mit Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, im Schulausschuss beraten, damit ein Stück mehr Freiheit zugunsten der Hamburger Schüler und Eltern an unseren Schulen Einzug hält. – Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP)

Vielen Dank, Frau von Treuenfels. – Das Wort hat Frau Jürgens.

Sehr geehrter Herr Präsident, meine Damen und Herren! Die Eltern entscheiden in Klasse 4, wie die Schulkarriere ihrer Kinder aussieht. Dort haben sie das Recht und können das Kind entweder an eine Stadtteilschule oder an das Gymnasium geben. Beide Schulformen führen zum allgemeinbildenden oder mittleren Schulabschluss oder zum Abitur. Eine individuelle Förderung setzt voraus, dass die leistungsschwachen und besonders begabten Schülerinnen und Schüler in beiden Schulformen gefördert werden. Für den Übergang in die Jahrgangsstufe 7 des Gymnasiums ist es erforderlich, dass Schülerinnen und Schüler die Voraussetzung für eine erfolgreiche Mitarbeit erfüllen. Die Zeugniskonferenz stellt fest, ob Schülerinnen und Schüler den Anforderungen des achtjährigen Gymnasialunterrichts gewachsen sind oder in die siebte Jahrgangsstufe der Stadtteilschule wechseln. Ein unbürokratischer Wechsel danach von einer Schulform in die andere ist nicht vorgesehen und für die Schulen auch nicht zu organisieren. Die im FDP-Antrag geforderte Schaffung einer ausdrücklichen Rechtsgrundlage lehnt die SPD-Fraktion ab.

(Beifall bei der SPD)

(Vizepräsident Dr. Wieland Schinnenburg)

Ich bitte zu bedenken, das Fehlen einer Rechtsgrundlage schließt den Schulwechsel in begründeten Einzelfällen nicht zwingend aus. Ein Wechsel vom Gymnasium in die Stadtteilschule orientiert sich an folgenden Kriterien: Möglichkeiten der besonderen Förderung durch das Gymnasium, vorhandene Kapazitäten an der Stadtteilschule und keine Umgehung des grundsätzlichen Verbots des Klassenwiederholens. Für den Wechsel von der Stadtteilschule in das Gymnasium, nämlich auch das gibt es, keine Umgehung der Übergangshürden nach Klasse 6, Möglichkeiten der weiteren Förderung durch die Stadtteilschule und vorhandene Kapazität am aufnehmenden Gymnasium. Das Gymnasium darf die Verantwortlichkeit für schwache Schüler nicht aufgeben, wir wollen keine Eliteschulen. Die Stadtteilschule kann nur zum Erfolg geführt werden, wenn sie auch für besonders begabte Schüler attraktiv ist und bleibt; daher muss sie angemessen fördern.

(Beifall bei der SPD)

Sehr geehrte Damen und Herren! Ich bitte Sie nun, den Antrag der FDP abzulehnen. Eine Überweisung an den Schulausschuss lehnt die SPD-Fraktion ab.

(Beifall bei der SPD)

Vielen Dank, Frau Jürgens. – Das Wort hat Herr Heinemann.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Man merkt, dass Frau Jürgens nicht in der Enquete-Kommission dabei war.

(Dirk Kienscherf SPD: Das ist unerträglich!)

Ehrlich gesagt, erschien mir das eben inhaltlich nicht so ganz fundiert.

Durchlässigkeit klingt erst einmal sehr vernünftig und richtig. Es gab aber Gründe, warum damals die Enquete-Kommission auf Initiative der CDU diese Regelung empfohlen hat. Ich will aufgrund der Zeit nur zwei wesentliche Punkte nennen. Zum einen macht es das G8 aufgrund der anderen Stundentafel am Gymnasium zunehmend schwierig, in den Klassen 7, 8, 9 noch von der Stadtteilschule auf das Gymnasium zu wechseln, weil dort mehr Stunden unterrichtet wurden. Es darf nachher nicht sein, dass wir nur noch einen Wechsel vom Gymnasium in die Stadtteilschule haben, aber nicht mehr umgekehrt. Zum Zweiten haben wir intensiv ausgewertet, dass die Beobachtungsstufe bis dahin ihrem Namen nicht gerecht wurde, sondern es wurde vor allem in den Klassen 7, 8, 9 abgeschult. Warum? Es hatte meist weniger pädagogische Gründe als schulorganisatorische Gründe, weil man zum Beispiel die Schüler noch ganz gut gebrauchen konnte, um die Klassen aufrechtzuerhalten. Da wurde dann schnell aus einer Fünf eine

Vier minus, aber das hatte eben nichts mit Pädagogik zu tun. Wir wollten die Schulen dazu bringen, in Klasse 6 eine klare Entscheidung zu treffen und dann die Verantwortung für die Kinder und für die Entscheidung zu übernehmen.

Deshalb die Empfehlung der Enquete-Kommission, aber Ausnahmen muss es immer geben. Ausnahmen kann man aber gerade nicht kodifizieren, sondern Ausnahmen sind eben Ausnahmen. Von daher sehe ich keinen Regelungsbedarf. Sollten Sie in der Praxis Probleme feststellen, etwa dass Eltern ihr Kind gern wechseln lassen würden, aber die Schulbehörde sich auf die Hinterbeine stellt, dann sollten wir im Ausschuss darüber reden. Deshalb finde ich auch die Überweisung an den Ausschuss gut. Dann müsste man entsprechend nachbessern. Im Moment sehe ich aber keinen Regelungsbedarf. – Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU und bei Dr. Stefanie von Berg GAL)

Vielen Dank, Herr Heinemann. – Das Wort hat Frau Dr. von Berg.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Ich war schon einigermaßen verwundert, als ich diesen Antrag las und diese lyrischen Bemerkungen, dass Stärken und Schwächen der Kinder sich erst später ausprägen und dass Schulkarrieren nicht geradlinig verlaufen. Das sind alles Argumente, die wir in unserem jahrelangen Kampf um "Eine Schule für alle" und während der Primarschulreform verwendet haben.

(Beifall bei der GAL – Birgit Stöver CDU: Da können Sie mal sehen!)

Aus dieser Richtung noch einmal Unterstützung zu bekommen, das hat mich doch einigermaßen verwundert. Der Antrag aber ist meiner Ansicht nach scheinheilig.

(Beifall bei Christa Goetsch GAL)

Herr Heinemann hat ausgeführt, das Abschulen würde nur in eine Richtung erfolgen. Das Abschulen oder die Durchlässigkeit, wie es so schön euphemistisch heißt, wird nämlich nur in Richtung Gymnasium - Stadtteilschule erfolgen. Es ist absolut richtig – das hat die Enquete-Kommission auch empfohlen –, nach Klasse 6 zu sagen, jetzt ist bis auf wenige begründete Ausnahmen Schluss. Selbst wenn es möglich sein sollte, dass Kinder von der Stadtteilschule in ein Gymnasium wechseln, frage ich mich, wozu überhaupt. Eine Stadtteilschule kann all das, was ein Gymnasium auch kann, und die Stadtteilschule kann es sogar besser, weil sie mehr Zeit hat. Viele der Stadtteilschulen sind echte Ganztagsschulen und das Abitur muss man nicht in sportlichen acht, sondern in etwas gemächlicheren neun Jahren erreichen. Die

(Hildegard Jürgens)

Stadtteilschule bietet außerdem systematische Berufsorientierung, das ist an den Gymnasien leider überhaupt noch nicht angekommen, und bietet durch das Miteinander auch soziales Lernen. Von daher fragt man sich, wozu Durchlässigkeit. Ich kann Herrn Heinemann nur recht geben, hier ist kein Regelungsbedarf. Wir werden deswegen erstens die Überweisung ablehnen und zweitens den ganzen Antrag ablehnen.

(Beifall bei der GAL und vereinzelt bei der SPD)

Vielen Dank, Frau Dr. von Berg. – Das Wort hat Frau Heyenn.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Der Antrag der FDP ist für mich zynisch und scheinheilig.

(Beifall bei der LINKEN und bei Hildegard Jürgens SPD und Christa Goetsch GAL)

Was Sie sagen, ist das eine und was Sie meinen, ist das andere. Für mich ist dieser Antrag gleichzusetzen mit einem konzertierten Angriff auf die innere Schulreform. Ich will Ihnen dafür Beispiele nennen. Sie machen sich tatsächlich im Eingangstext zu Ihrem eigentlichen Antrag Sorgen darüber, dass es eine fehlende Durchlässigkeit von der Stadtteilschule zum Gymnasium gibt. Ganz ehrlich, das glaubt Ihnen kein Mensch.

(Beifall bei der LINKEN und der GAL)

Auf Seite 2 lassen Sie dann auch die Katze aus dem Sack. Da schreiben Sie, durch den Wechsel an eine Stadtteilschule und der damit verbundenen Möglichkeit einer Entschleunigung und eines anders ausgerichteten pädagogischen Ansatzes könnten sonst vorprogrammierte, negative Schulkarrieren verhindert werden. Die Fürsorge rührt mich, aber sie ist nicht glaubwürdig.

(Beifall bei der LINKEN und vereinzelt bei der SPD und der GAL)

Ich glaube, Sie haben noch nicht begriffen, was in den vergangenen Jahrzehnten an den Hamburger Schulen passiert ist. Wir hatten nämlich immer, eben ist es von Frau Dr. von Berg gesagt worden, die Schrägversetzung nach unten, vom Gymnasium auf die Realschule, auf die Hauptschule und am Ende stand jemand ohne Hauptschulabschluss da. Das war genau die Karriere. Deswegen ist es richtig, das zu verhindern, und ich freue mich, dass die CDU zu unserem gemeinsamen Beschluss zur Novellierung des Schulgesetzes steht, weil das aufhören muss. Die Gymnasien müssen lernen, mit den Schülern, die sie nach Klasse 6 haben, pädagogisch zu arbeiten und für sie Verantwortung zu übernehmen.

(Beifall bei der LINKEN und vereinzelt bei der SPD und der GAL – Dirk Kienscherf SPD: Sehr gut!)

In Ihrem Antrag sprechen Sie davon, dass Sie unbürokratisch geregelt haben möchten, dass Schülerinnen und Schüler nach Klasse 7 von den Gymnasien wieder abgeschult werden können. Das ist es, was Sie wirklich meinen. Unbürokratisch heißt schlicht und ergreifend, Sie müssen das Schulgesetz ändern, denn im Schulgesetz ist das festgelegt, und wir denken nicht im Traum daran, es zu ändern. Wir wollen erst einmal sehen, ob es so funktioniert oder nicht. Wenn Sie von den notwendigen Kriterien sprechen, dann ist das nichts anderes als das Ergebnis einer Zeugniskonferenz, das kann man dann auch so schreiben. Und ganz ehrlich, auch heute können Eltern, deren Kind auf dem Gymnasium ist, selbst entscheiden, ob sie es herunternehmen wollen oder nicht. Das ist überhaupt nicht ausgeschlossen, insofern ist Ihr gesamter Antrag völlig überflüssig.

(Beifall bei der Linken und vereinzelt bei der SPD und der GAL)

Aber in einem Punkt gebe ich Ihnen völlig recht. Sie haben geschrieben – ich zitiere –:

"Bei vielen Schülern entwickeln sich Stärken und Schwächen erst im Laufe der Zeit; dies gilt insbesondere während der Pubertät. Schulkarrieren sind sehr individuell geprägt und damit nicht hinreichend vorhersehbar. Eine Zementierung wird diesem Entwicklungsprozess gerade nicht gerecht."

Der Auffassung sind wir auch, und deshalb sind wir für eine Schule für alle.

(Beifall bei der LINKEN und vereinzelt bei der GAL)

Vielen Dank, Frau Heyenn. – Das Wort hat Frau von Treuenfels.

Ich freue mich sehr, meinen Antrag noch einmal vorgelesen zu bekommen, ich kannte ihn schon. Ich bin erstaunt, dass wir jetzt wieder die alten Schulideologien herauskramen müssen, noch weniger bin ich darüber erfreut.