Protocol of the Session on April 21, 2010

Die Hilfebedürftigkeit der sanktionierten Personen erhöht sich. Die Menschen müssen sich an andere Stellen wenden, um die neu entstandenen Probleme zu bewältigen; dafür müssen dann also andere sorgen. Sozialarbeiter berichten, dass in manchen Fällen auch der kriminelle Weg eingeschlagen wird, um den Geldverlust zu kompensieren. Das kann nicht Sinn und Zweck von Arbeitsmarktpolitik sein

(Beifall bei der LINKEN und bei Andrea Rug- barth SPD)

und ebenso wenig Sinn und Zweck von Sozialpolitik. Der Sanktionsparagraf gehört abgeschafft.

(Beifall bei der LINKEN und bei Andrea Rug- barth SPD)

Selbst die SPD/CDU-regierte Hansestadt – also Schwesternstadt, wenn Sie so wollen – Lübeck unterstützt den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen, den Sanktionsparagrafen auszusetzen. Der dortige Sozialausschuss hat das am 3. November 2009 bei zwölf Ja-Stimmen, einer Nein-Stimme und einer Stimmenthaltung mehrheitlich beschlossen. Demnächst wird der Bürgermeister, Bernd Saxe, diesen Antrag unterzeichnen; das sei vielleicht einigen Kollegen der SPD ins Stammbuch geschrieben.

Man kann die fehlende Motivation, nach Jahren der Erwerbslosigkeit den ständigen Aufforderungen der Behörde, dies oder das zu tun, jedes Mal nachzukommen, nicht so auslegen, dass die Betroffenen aus der Erwerbslosigkeit nicht herauskommen wollen. Im Gegenteil, es ist nur so, dass die Hoffnung, die Chancen auf dem Arbeitsmarkt würden steigen, wenn man den Formalitäten nachkommt, immer mehr gegen Null tendiert. Gebraucht wird man nur noch als Spielstein für den Trägersumpf, Frau Badde. Ohne erwerbslose Hilfebedürftige in Maßnahmen gibt es kein Geld für die Beschäftigungsträger. Da müsste die Rathauspassage unter uns ihre Münztoilette, die mit ein bis zwei Ein-Euro-Jobbern besetzt und bis 21:00 Uhr geöffnet ist, von heute auf morgen schließen und die Besucher müssten ihre Geschäfte allein regeln. Meine Fraktion hält das für eine gute Alternative, der Verschwendung von Steuergeldern Einhalt zu gebieten. Zu diesem Thema ein Zitat aus einer Besprechung der Studie von Anne

Ames, die in der Edition Hans-Böckler-Stiftung erschienen ist:

"Nicht um Erwerbslose überhaupt in Trainingsmaßnahmen und Arbeitsgelegenheiten unterbringen zu können und sich auf diese Weise als 'aktivierend' zu erweisen, brauchen SGB- II-Träger die Möglichkeit, mit Sanktionen zu drohen, sondern um so massenhaft unterbringen zu können, wie sie es tun."

Ich bitte Sie inständig, unserem Antrag auf Abschaffung des Sanktionsparagrafen 31 zuzustimmen und mit uns die Bundesratsinitiative auf den Weg zu bringen. Dies kommt auch dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts entgegen, wie es im Antrag ausführlich begründet wird. Und im Falle einer Überweisung an den Wirtschaftsausschuss ließen sich, Herr von Frankenberg, Frau Badde, noch offene Fragen klären. – Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN und bei Andrea Rug- barth SPD)

Das Wort bekommt Frau Dr. Hochheim.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Sie hatten in Ihrem Antrag geschrieben, das Verfassungsgericht habe mit seinem Urteil vom Februar gesagt, dass Sanktionen unzulässig, nicht verfassungskonform seien. Ich habe mir das Urteil noch einmal durchgelesen und – Sie werden nicht erstaunt sein – diese Interpretation des Urteils, wie die LINKE sie heute vorgenommen hat, ist aus meiner Sicht schlicht abwegig.

Das Thema an sich hatten wir schon, Herr Joithe hat das auch gesagt, vor etwas über einem halben Jahr in der Bürgerschaft ausführlich diskutiert. Aber ich lege gern noch einmal die Position der CDU dar. Wir meinen, dass die Sanktionsmöglichkeit einen integralen Bestandteil des Konzepts "Fördern und Fordern" darstellt. Ein Fordern kann unserer Meinung nach manchmal auch ein Fördern sein. Das Thema Sanktionen ist ein beliebtes. Auch bei Ihrer Rede, Herr Joithe, hat man das Gefühl, dass es die ständige Arbeit in der ARGE ist, Sanktionen auszusprechen. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Nur 2,5 Prozent aller Hilfebedürftigen werden sanktioniert, das heißt, mit 97,5 Prozent der Hilfebedürftigen gibt es keine Probleme. Es ist wichtig, diese Zahlen darzulegen, um ein echtes Bild zu bekommen. Es ist nicht nur die LINKE, die das Thema gern immer wieder anbringt, es gibt auch andere Parteien, die immer wieder das Thema Sanktionen – sozusagen von der anderen Seite – aufgreifen, aber in Wirklichkeit besteht die tägliche Arbeit der ARGE nicht darin, Sanktionen auszusprechen. Nur ein ganz kleiner Teil der Perso

nen möchte sich nicht in die Zusammenarbeit mit der Arge einfügen.

(Beifall bei der CDU)

Zum Schluss möchte ich noch sagen, dass bei einer Kürzung der Geldleistungen der Sachbearbeiter Sachleistungen mit gewähren und damit einer drohenden Verschuldung und Existenznot entgegenwirken kann.

(Wolfgang Joithe-von Krosigk [DIE LINKE]: Kann!)

Der Sachbearbeiter möchte sicherlich ebenfalls fördern und fordern und Sie können nicht sagen, dass der Sachbearbeiter der ARGE daran kein Interesse hat. In der Regel ist es so, dass der Sachbearbeiter in der ARGE ein großes Interesse daran hat, Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Herr Joithe, Sie übertragen manchmal Ihre persönlichen Ansätze in recht pauschaler Art und Weise auf die aus meiner Sicht gute Arbeit der ARGE, die Sie so nicht in Misskredit bringen dürfen.

(Beifall bei der CDU)

Das Wort hat Frau Badde.

(Glocke)

Meine Damen und Herren! Ich darf darauf hinweisen, dass das Telefonieren hier im Saal nicht erwünscht ist. – Frau Badde, bitte.

Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrte Fraktion der Linken, es scheint wirklich sehr schwierig, sich mit Ihnen differenziert über Sozialpolitik auseinanderzusetzen. Nicht nur die Diskussion im vergangenen Herbst hat das bewiesen, als Ihr Antrag zumindest noch auf ein Moratorium abzielte; jetzt wollen Sie die Sanktionen ganz abschaffen. Es wird auch in Ihrem Antrag nicht differenziert darauf eingegangen. Sie versuchen das zwar immer in der Rede, Herr Joithe, und das ist lobenswert, aber wegen Pauschalität und Unbestimmtheit sollte man eigentlich jede weitere Diskussion verweigern. Es verwundert natürlich nicht, dass Sie die Abschaffung des Paragrafen 31 SGB II fordern, denn Sie sind prinzipiell für die Abschaffung von Hartz IV und der einzelne Paragraf gehört schließlich mit dazu.

Hinsichtlich Ihrer Begründung muss ich Frau Hochheim zustimmen, auch wenn es mir manchmal schwer fällt, aber kein Bundesverfassungsgerichtsurteil in Deutschland spricht der Abschaffung des Sanktionsparagrafen das Wort. Aber Sie haben auch in Ihren anderen Anträgen zur heutigen Sitzung bewiesen, dass Sie sehr viel Fantasie besitzen, wenn es darum geht, aus diesem Bundesverfassungsgerichtsurteil etwas herzuleiten. Deshalb

(Wolfgang Joithe-von Krosigk)

ist nicht verwunderlich, dass diese Begründung Ihnen auch hier entgegenkommt.

Wir hätten uns gewünscht, Sie hätten die Zeit seit dem Herbst, seit der Diskussion zu Ihrem letzten gescheiterten Antrag zu diesem Thema, genutzt, sich differenziert mit der Sanktionspraxis auseinanderzusetzen. Wir als SPD-Fraktion haben das jedenfalls gemacht. Ausgangspunkt aller Überlegungen ist tatsächlich die Würde des Menschen. Würde bedeutet, vom Arbeitsleben nicht ausgeschlossen zu werden. Würde bedeutet auch, dass sich der Staat um jeden Einzelnen bemüht, um ihn und sie wieder in den Kreis derjenigen aufzunehmen, die Eingliederungsleistungen und Fördermaßnahmen beanspruchen können, damit wieder eine Chance auf Teilhabe am Arbeitsleben besteht. Für Sozialdemokraten gibt es keine Alternative zum Grundsatz des Förderns und Forderns, man könnte auch sagen, des Gebens und Nehmens. Die Gewährung des Existenzminimums ist nicht nur Ausfluss des Sozialstaatsgedankens; es ist auch die Zusage der gebenden Gesellschaft, niemanden in Armut verharren zu lassen. Damit ist aber auch die gesellschaftliche Forderung verbunden, dass der Nehmende seinen Beitrag zur Rückkehr in die Mitte der Gesellschaft erbringen muss. Der Grundsatz des Förderns und Forderns bedeutet gerade, dass der- und diejenige, der Leistung empfängt, auch Eigenverantwortung zeigen muss in der Bemühung um Arbeit, in der Wahrnehmung von Weiterbildungsmöglichkeiten, aber auch im Nachweis, die nötigen Schritte der Eigenverantwortung wahrgenommen zu haben.

Diese Forderung muss auch immer mit der Möglichkeit verbunden werden, dies auch durchsetzen zu können, ansonsten bleibt sie wirkungslos. Sie haben überhaupt nichts dazu ausgeführt, wie diese Wirkung erzielt werden kann und wie man die Menschen dann erreichen kann.

(Christiane Schneider DIE LINKE: Sie kön- nen das nur autoritär!)

Wie weit aber diese Durchsetzungsmöglichkeiten reichen, darf und muss Diskussionspunkt einer ausgewogenen Sozialpolitik sein. In diese Diskussion sollte sich die LINKE einschalten, wenn sie nicht nur Politik für eine Bevölkerungsgruppe betreiben möchte.

Die Sozialdemokraten haben zu dieser Fragestellung viele Experten gehört und daraus Folgerungen abgeleitet. Ich möchte einige Punkte erwähnen, auch Herr Joithe hat sich auf einige Punkte konzentriert. Nach unserer Auffassung dürfen Sanktionen nicht nach starren Vorgaben erfolgen, sondern haben sich am Einzelfall und damit insbesondere am Verschuldensgrad zu orientieren. Fragwürdig ist, ob eine Leistungsabsenkung auf Null überhaupt erfolgen darf; wir sind auch der Auffassung, nein. Bei Sanktionsaussprachen müssen die Folgen für die Bedarfsgemeinschaft – Herr Joi

the hat das ausgeführt – stärker berücksichtigt werden. Auch für die Unter-25-Jährigen muss es ein abgestuftes Sanktionssystem geben.

Die Auseinandersetzung über diese Punkte gilt es zu führen und nicht über Pauschalforderungen, wie sie der vorliegende Antrag erhebt. Wir werden diesen Antrag daher ablehnen. – Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und bei Hartmut Engels CDU)

Das Wort bekommt Frau Möller.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Vor der Bundestagswahl haben wir zum letzten Mal über dieses Thema geredet, meine Vorrednerinnen und Vorredner haben darauf hingewiesen. Leider hat sich seitdem auf der bundespolitischen Ebene nichts geändert. Damals beantragte die LINKE die Einrichtung eines Sanktionsmoratoriums. Jetzt haben Sie den Begründungszusammenhang geändert. Ich teile die Skepsis der Kolleginnen Hochheim und Badde, ob sich das aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts herauslesen lässt. Das würde heißen, dass zu den Regelleistungen der Sanktionsparagraf gleich mit gekippt wurde und es nur noch keiner gemerkt hat. Das glaube ich einfach nicht.

Auch die Initiative zum Sanktionsmoratorium, die Sie erwähnten und die tatsächlich überparteilich und interdisziplinär besetzt ist, geht im Übrigen nicht davon aus, dass der im Urteil formulierte Anspruch eines oder einer Hilfebedürftigen auf die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums damit generell auf die rechtliche Sonderstellung, die der Paragraf 31 vorsieht, also auf die sanktionierten Personen übertragen werden kann. Wäre das anders, hätte das Gericht in der Urteilsbegründung sicherlich einen Hinweis darauf gegeben. Also auch aus Sicht der Initiative für ein Sanktionsmoratorium reicht diese pauschale Begründung nicht aus, um die Sanktionen generell zu Fall zu bringen.

Was bleibt uns also übrig, als weiter um Mehrheiten für das eine oder das andere Modell zu streiten? Es bleibt beim Streit darüber, ob diese Sanktionen, so wie sie formuliert und angewendet werden, tatsächlich ein sinnvolles Mittel sind, um die Integration in Arbeit zu unterstützen. Und ich kann, da muss ich dem Kollegen Joithe recht geben, tatsächlich die aktuelle Studie der Hans-Böckler-Stiftung empfehlen. Dort hat man sehr sorgfältig Einzelfälle analysiert und festgestellt, dass den Sanktionen häufig Motive zugrunde liegen, die überhaupt nichts mit nicht arbeiten wollen, um es ganz platt zu sagen, mit Inaktivität, mangelnder Eigenverantwortung oder fehlender Arbeitsbereitschaft zu tun haben, sondern dass schlicht und einfach ganz oft der Sinn von behördlichen Anordnungen

(Elke Badde)

und Vorgaben nicht erkannt wird oder Menschen mit den bürokratischen Abläufen nicht zurechtkommen. Auch das ist kein schönes Bild für einen großen Teil unserer Gesellschaft.

(Beifall bei der GAL und der LINKEN)

Die Hauptaufgabe – auch unsere – muss doch darin liegen, das ganze System Hartz IV zu entbürokratisieren, zu überarbeiten, und wenn es schon nicht abzuschaffen ist, dann in den Teilen, wo bürokratisches und dadurch ungerechtes, unverständliches Handeln immer wieder auftaucht, nachzusteuern. Wir machen das als Parlament mit sehr viel Sorgfalt und sehr viel Zeitaufwand, indem wir uns regelmäßig in Einzelfällen über den Eingabenausschuss mit den örtlich Zuständigen zusammensetzen. Aber die Einzelfalllösung führt nicht zu einer strukturellen Änderung. Dafür muss man am vehementesten politisch streiten, dafür brauchen wir die politischen Mehrheiten und die haben wir im Moment nicht in dieser Republik.

Dazu gehört dann zum Beispiel auch, Frau Badde, dass man Eigenverantwortung erst einmal wieder lernen muss und erst einmal wissen muss, was das bedeutet, ehe die Sanktionen, wenn sie dann überhaupt noch notwendig sein sollten, zuschlagen.

Die Debatte zu diesem Thema haben wir allerdings schon oft genug geführt und halte den Antrag für nicht zustimmungswürdig. Er ist von der Herleitung her nicht schlüssig und er unterläuft eigentlich die Arbeit der Moratoriumsinitiative, die sicherlich noch eine Weile brauchen, die aber möglicherweise von Erfolg gekrönt sein wird. Wir brauchen keine Bundesratsinitiative, wir brauchen vor allem eine gesellschaftliche Debatte über die Art und Weise, mit der Menschen sanktioniert werden, und über das ganze System Hartz IV.

(Beifall bei der GAL und bei Dora Heyenn DIE LINKE)

Das Wort bekommt Herr Joithe.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Einige wenige Anmerkungen mögen Sie mir zugestehen, insbesondere das Zitat aus dem Bundesverfassungsgerichtsurteil, was den Leistungsanspruch und ein menschenwürdiges Existenzminimum betrifft – Zitat –:

"Er gewährleistet das gesamte Existenzminimum durch eine einheitliche grundrechtliche Garantie, die sowohl die physische Existenz des Menschen, also Nahrung, Kleidung, Hausrat, Unterkunft, Heizung, Hygiene und Gesundheit, als auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu einem Mindest

maß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben umfasst."

Wenn ich da sanktioniere, wie ich es Ihnen erklärt habe – bei einem Unter-25-Jährigen auf minus 100 Prozent –, dann frage ich mich schon, wie ich diesem Gerichtsurteil dann noch in irgendeiner Weise Rechnung trage. Das hat uns bewogen, diesen Antrag entsprechend umzuformulieren und über das Moratorium hinauszugehen. Im Übrigen wundere ich mich schon, dass manch einer, der das Moratorium unterzeichnet hat, hier klatscht, wenn es darum geht, die Sanktionspraxis weiter zu unterstützen.

Frau Hochheim, Sie haben mir persönliche Empfindungen vorgeworfen. Ich würde im Gegenzug sagen, wenn Sie denn keine haben, dann müssen Sie halt bei Ihren merkwürdigen Äußerungen bleiben, Sanktionen würden hier helfen. Ich hatte Ihnen dargelegt, und darüber könnte man auch einmal nachdenken, dass Sanktionen das Gegenteil bewirken. Darauf sind Sie nicht eingegangen, sondern haben von persönlichen Empfindungen gesprochen; Sie konnten augenscheinlich meiner Rede nicht folgen.