Protocol of the Session on November 5, 2008

(Beifall bei der LINKEN und bei Dr. Monika Schaal SPD)

(Michael Gwosdz)

Das Wort bekommt Herr Lein.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Ich will mir einmal ersparen, auf die Anmerkungen von Herrn Gwosdz einzugehen. Ich finde, ein Freischwimmer ist gut. In einer Rede so zu schwimmen, macht es sehr schwer, auf wirkliche harte Kerne einzugehen. Da ist mir bei Herrn Freistedts Rede von der Aussage her schon wohler, der sagt, dass er die Langformen im Prinzip einer neuen Reform opfern möchte und das auch positiv begründen möchte.

(Vizepräsident Wolfhard Ploog übernimmt den Vorsitz.)

Ich will Sie erinnern, Herr Freistedt. Unter Ihrer Regierungszeit – absolute Mehrheit – ist die Reformschule Winterhude ausdrücklich zur Langform gemacht worden. Sie haben die Zeichen der Zeit damals erkannt und gesagt, Langformen seien ein pädagogisch wertvolles Instrument zur Kontinuität. Wollen Sie sich die Entscheidung in der Vergangenheit als Fehler anrechnen lassen? Ich glaube, Langformen sind etwas sehr Wichtiges und etwas sehr Notwendiges.

(Beifall bei der SPD)

Und es ist auch keine Frage des pädagogischen Stillstands, wenn man eine vorhandene Form inhaltlich pädagogisch weiterentwickelt, Herr Freistedt. Da machen Sie es sich zu leicht.

Diese Debatte ist keine Randdebatte der Schuloffensive des Senats, sondern tatsächlich berührt sie einen Kernpunkt. Die Regierung nimmt es in Kauf – ich will sogar sagen, sie macht es kalten Blutes –, eine bestehende und erfolgreich arbeitende Schulstruktur aus ideologischen Gründen abzuschaffen. Das ist vorwerfbar und ärgerlich. Dem kleinen grünen Koalitionspartner muss es in der Tat – das einmal zur Geschichte dieses Beschlusses – sehr schwer gefallen sein, von der "Neunmalklugphase" ihrer Wahlaussagen auf den harten Boden der Koalitionsrealität zu kommen. Es bleibt eben nur "sechsmalklug" übrig und das ist nicht viel. Frau Goetsch schluckt mit ihrer Partei das, was sie noch in der Enquete-Kommission aufs Schärfste abgelehnt hatte, die Versäulung des Schulsystems.

(Beifall bei der SPD)

Das soll der Preis dafür sein, dass die CDU einer Verlängerung gemeinsamen Lernens über die bisherige Grundschulzeit hinaus zustimmt. Warum tut sie das, wird man sich fragen dürfen. Warum werden so gute Argumente der sogenannten Langformschulen so kategorisch beiseite gewischt? Warum werden sowohl begründete Schreiben von Elternräten – Schulen sind zuhauf genannt worden, sind hier im Hause auch bekannt –, die ihre

Langform erhalten wissen wollen, zurückgewiesen? Dahinter steht Angst vor Ausnahmen, die das ehrgeizige Vorhaben der grünen Senatorin insgesamt ins Wanken bringen könnten. Zu einer Drohgebärde hatte sich immerhin am Abschluss der Koalitionsverhandlungen der Parteivorsitzende der CDU, Herr Freytag, aufgeplustert. Unmittelbar nach den Koalitionsverhandlungen sagte er in "WELT ONLINE" am 29. April – ich zitiere –:

"Die meisten Vorschläge kamen im Bereich der Bildung. Da haben wir sehr deutlich Hand angelegt, zum Beispiel mit der Langform des Gymnasiums, die wir den Grünen abgerungen haben."

Markige Worte. Wenn man jetzt von den Grünen erwartet, dass sie sagen, wie wollen wir unsere Primarschule retten, dann nur, indem man Tabula rasa macht und sagt, aus Prinzip und ideologischen Gründen keine Ausnahme zulassen, weil man ein Ventil öffnen könnte, aber wider allen pädagogischen Verstand.

Wenn man die Gymnasien betrachtet, dann sind Gymnasien eine Schulform, die nicht alle Schüler behalten können und dürfen. Eine Stadtteilschule mit vorgelagerter Primarschule – oder bisher Grundschule als Langform – hat selbstverständlich die Möglichkeit, alle Schüler, sofern sie wollen, in dieser Schule behalten zu dürfen. Insofern ist es völlig klar, dass eine Langform im Gymnasium in sich inkohärent ist, gehört sich nicht und wird verständlicherweise von den meisten Bildungspolitikern, auch in diesem Hause, abgelehnt.

Aber warum dann die Langformschule der Stadtteilschule nicht erhalten wissen wollen, das erschließt sich mir nicht. Für Schüler: Sie müssen die Schulen wechseln. Für Lehrer: Es ist gut, wenn man nicht immer über lange Entfernungen kooperieren muss. Kooperation ist im Stadtteil etwas sehr Wichtiges. Aber wo es nicht nötig ist zu kooperieren und parallele Strukturen aufrechtzuerhalten, da muss man sie nicht künstlich schaffen. Für Eltern, die mit Recht Sorge davor haben, dass mitten in der Pubertätszeit ein Schulwechsel für ihre Kinder nun nicht zum Segen dient.

Wahr ist – das muss man dazu sagen –, dass es in Hamburg immer eigenständige Grundschulen gegeben hat. Das hat auch seinen Grund gehabt. Kurze Beine, kurze Wege, das ist ein Argument. Wenn man kleine Grundschulen zulassen will und sie nicht zu Großsystemen machen möchte, dann muss man kleine Grundschulen und zukünftig vielleicht auch Primarschulen zulassen. Aber mit dem Verweis darauf, es gebe auch kleine eigenständige Grundschulen oder Primarschulen und jetzt zu sagen, es müssen alle sein, das ist mir Ideologie zu viel.

Herr Gwosdz kommt mit seinem Argument, die regionalen Schulkonferenzen richten es dann schon.

Von wegen. Die regionalen Schulkonferenzen sind auf dem Gebiet natürlich Spielwiese, weil das Ganze vorher entschieden ist. Da können Vorschläge zuhauf kommen und man kann gute Argumente bringen zur Erhaltung von Langformschulen, trotzdem wird das im 16. Stock der Schulbehörde mit einem Federstrich weggestrichen, weil das nicht in die Koalitionsdisziplin passt. Insofern kann man nicht dafür stimmen.

Schulen – wird gesagt – sollten eine bestimmte Größe haben. Dann wird gesagt, wenn sie eine bestimmte Zügigkeit haben, dann seien sie groß genug. Primar- und Stadtteilschulen sollten möglichst drei- oder vierzügig sein. Ich würde der Zügigkeit lieber Mindestgröße vorziehen. Wenn eine Mindestgröße von vielleicht 600 oder 800 Schülern gut ist, dann ist sie in der Langform allemal besser zu erreichen als in einer segmentierten Primar- oder Stadtteilschule. Wir Sozialdemokraten sagen klipp und klar: Schulen, die von allen Kindern besucht werden müssen oder können, sollten sehr wohl Langformschule sein, das heißt Stadtteilschulen können Langformschulen sein. Ich persönlich gehe einen Schritt weiter und sage, dass das auch ein Ziel der Entwicklung sein könnte. Schulen, auf die man nur mit einer besonderen Berechtigung gehen darf, also Gymnasien, können auf keinen Fall eine vorgeschaltete Primarschule haben und das auch als klare Ansage in Richtung CDU, so etwas wie das, was Sie den Grünen abgerungen haben wollen, wollen wir nicht: Wir wollen keine Vorschulen an Gymnasien.

(Beifall bei der SPD)

Herr Rabe hat schon eine kleine Anmerkung gemacht hinsichtlich der vielen Gespräche, die in der Lobby geführt werden und auch wenn man sich gegenseitig in den Reihen besucht. Es gibt in Ihren Reihen eine Vielzahl von Kollegen, die sagen, eigentlich finden wir die Sache mit den Langformschulen auch ein Problem, aber wir haben einen Koalitionsvertrag. Herr Rabe sagte das schon. Geben Sie sich einen Ruck. Ich glaube, die Schulen werden es Ihnen sehr danken.

(Beifall bei der SPD)

Das Wort bekommt Herr Müller.

Herr Präsident, sehr verehrte Damen und Herren! Herr Lein und Herr Rabe, Sie versuchen hier den Eindruck zu erwecken, dass wir in der Lobby Gespräche führen, die unsere Koalition selbst infrage stellen würde.

(Michael Neumann SPD: Sie nicht! Das ha- ben Sie nur gemacht, als Sie noch bei Schill waren!)

Hören Sie doch auf mit diesen Erfindungen. Was soll denn das, die Koalition steht fest zusammen.

(Beifall bei der CDU und bei Horst Becker GAL)

Aus meiner Sicht ist es merkwürdig, welche Schlüsse die Linkspartei und die SPD daraus ziehen, dass bei den angesprochenen Schulen unterschiedliche Schulorganisationsstrukturen eingeführt werden. Aus meiner Sicht unterstellen Sie dadurch den Schulen, dass sie zukünftig keine Abstimmung und keine Kommunikation führen können. Es wird überhaupt nicht infrage gestellt – Herr Gwosdz hat es bereits erwähnt –, dass in den von Ihnen im Antrag aufgeführten Schulen von Lehrern, Eltern und Schülern eine gute Arbeit als sinnvoll und pädagogisch wertvoll anerkannt wird. Das bestreitet niemand. Aber das gilt im gleichen Maße auch für viele andere Schulen, die im Zuge dieser Reform ihre Struktur werden ändern müssen. Deshalb ist es auch überhaupt nicht nachvollziehbar, warum ausgerechnet für diese Schulen ein Sonderstatus innerhalb der Reform gefunden werden muss, es sei denn, dass genau diese Schulen ihrer ideologischen Vorstellung am nächsten kommen. Die Schulen, die sich ein besonderes Profil erarbeitet haben, werden auch in Zukunft nicht daran gehindert, dieses Profil weiter zu verfolgen und auszubauen. Niemand in diesem Haus behauptet, dass die Schulreform nicht eine große Umstellung und Aufgabe für alle Beteiligten ist, aber über die Notwendigkeit einer Reform sind sich alle in diesem Haus einig. Was Sie jetzt machen, ist doch ausschließlich eine Verunsicherungspolitik. Was Sie überhaupt nicht dabei beachten, ist doch die Tatsache, dass diese Reform auch sehr große Chancen für alle bietet, insbesondere auch für die Schulen, die durch Ihre Bildungspolitik stigmatisiert worden sind.

(Beifall bei der CDU und vereinzelt bei der GAL)

Noch nie gab es bei einer Reform einen derartig großen Beteiligungsspielraum der Betroffenen. Man muss sich dann aber auch irgendwann zu solch einer Reform bekennen, weil man sie will und weil man sie auch braucht. Das ist genau das, was die Sozialdemokraten nicht können. Da können Sie nicht aus Ihrer Haut. Sie stellen immer da einen Gestaltungs- und Regulierungsanspruch, wo es gerade besser ist, diesen Prozess konstruktiv zu begleiten und sich auch ein Stück weiterentwickeln zu lassen. Über die Intention Ihres Antrags lässt sich sehr viel spekulieren. Im Prinzip entdecke ich auch ein bei Ihnen tief sitzendes Misstrauen gegenüber Schulen, Eltern und Schülern.

(Ties Rabe SPD. Wie bei der Elbphilharmo- nie!)

Herr Rabe, je lauter Sie protestieren, umso mehr habe ich den Eindruck, dass ich recht habe. Ihr Antrag ist ein reiner Showantrag, der aus Rosinenpickerei besteht und aus meiner Sicht eklatant gegen bildungspolitische Ziele der Chancengleichheit

(Gerhard Lein)

verstößt. Das ist die andere Intention Ihres Antrags. Ich komme aus Altona und da besteht schon etwas länger eine Koalition aus CDU und GAL und wir sind es in der Tat gewohnt, derartige Anträge von der SPD zu erhalten, die natürlich das Ziel verfolgen, einen Keil zwischen die Koalitionen zu treiben. Das ist durchaus bekannt. Das ist Ihnen in Altona nicht gelungen und am Ende kam eine Koalition auf Landesebene heraus. Meine Empfehlung an Sie: Seien Sie vorsichtig, es ist bald Bundestagswahl.

(Beifall bei der CDU und der GAL – Ties Ra- be SPD: Das Thema war Privatschule!)

Meine Damen und Herren! Wenn keine weiteren Wortmeldungen vorliegen, kommen wir zur Abstimmung.

Zunächst einmal hat die Fraktion DIE LINKE den Antrag auf Überweisung an den Schulausschuss gestellt. Wer diesem Überweisungsantrag zustimmen möchte, den bitte ich um das Handzeichen. – Gegenprobe. – Stimmenthaltungen? – Das ist mehrheitlich abgelehnt.

Wer möchte den SPD-Antrag aus der Drucksache 19/1292 annehmen? – Gegenprobe. – Enthaltungen? – Das ist ebenfalls mehrheitlich abgelehnt.

Wir kommen dann zum Tagesordnungspunkt 57, Antrag der Fraktionen der CDU und GAL: Mehr Männer in Bildungsberufe.

[Antrag der Fraktionen der CDU und GAL: Mehr Männer in Bildungsberufe – Drs 19/1356 –]

Wer wünscht das Wort? – Herr Gwosdz, bitte.

Meine Damen und Herren! Darf ich darum bitten, Nebengespräche in der Lobby zu führen oder auf später zu vertagen. Bitte, Herr Gwosdz.

Sehr geehrter Herr Präsident, meine Damen und Herren! Die Situation von Jungen und jungen Männern im deutschen Bildungssystem ist problematisch. Je geringer die formale Qualifikation, desto größer ist in diesen Gruppen der Anteil von Jungen. Sie bleiben häufiger sitzen und sind häufiger von Sanktionen betroffen. Junge Männer haben doppelt so häufig wie Mädchen überhaupt keinen Schulabschluss. Ein Drittel von ihnen gilt bereits im Alter von zehn Jahren als funktionale Analphabeten. Ein Drittel aller Jungen haben am Ende nur die Hauptschule absolviert.

Gleichzeitig haben Jungen nicht nur ein Qualifikationsproblem. Auch das soziale Verhalten von Jungen ist häufig weitaus auffälliger als bei Mädchen. Sie zeigen dominantes Verhalten, sei es durch Albernheit, sei es durch Aggression, sei es durch übersteigertes Konkurrenzverhalten. Natürlich

nicht alle. Ein Problem für Jungen ist, dass sogenanntes klassisches Jungenverhalten in der Schule kritischer gesehen wird als sogenanntes klassisches Mädchenverhalten, wenn man diese Geschlechterklischees überhaupt bedienen möchte. Dass das so ist, ergeben Untersuchungen anhand von Kopfnoten in den Bundesländern, in denen sie vergeben werden. Verhalten sich Jungen so, wie es von den Lehrkräften erwartet wird, verstoßen sie gegen geschlechtliche Erwartungen. So betont eine Studie des Bundesministeriums für Bildung und Forschung aus diesem Jahr – ich zitiere –:

"In diesem Widerspruch entscheiden sich viele Jungen lieber für eine sichere geschlechtliche Identität als für unsicheren schulischen Erfolg."

Ein weiteres Zitat aus dieser Studie:

"Jungen brauchen pädagogische Unterstützung, um ihre eigene Geschlechtsidentität auszugestalten."

Diese Erkenntnisse, dass Jungen inzwischen Bildungsverlierer sind, sind erst in jüngster Zeit empirisch untermauert. Leider wird diese Erkenntnis auch missbraucht, und zwar zu einer Stellvertreterdebatte gegen Gleichberechtigungsbemühungen der vergangenen Jahre nach dem Motto: Gleichberechtigung geht zulasten der Jungen. Volker Zastrow nannte in der "FAZ" das Einnehmen der Genderperspektive einmal ein – Zitat –:

"Umerziehungsprogramm für Jungen".