Protocol of the Session on September 28, 2005

Das Wort erhält der Abgeordnete Müller.

Sehr geehrter Herr Präsident, meine Damen und Herren! Vor genau 100 Jahren wurde genau an dieser Stelle über das Wahlrecht debattiert. Die Sozialdemokratie war auf dem Vormarsch.

(Michael Neumann SPD: Hört, hört!)

Als Gegenmaßnahme verschärfte die konservative Mehrheit der Bürgerschaft das Wahlrecht. Dieser kalte Putsch ist als Wahlrechtsraub in die Geschichte der Hamburger Bücher eingegangen,

(Dr. Andrea Hilgers SPD: Das hatten wir schon!)

ein Wahlrechtsraub, weil die Wahlmöglichkeiten der Hamburger beschränkt wurden.

Heute debattieren wir erneut Pläne zur Beschränkung des Wahlrechts,

(Wolfgang Beuß CDU: Glaubt er das selber?)

denn die CDU ist auf Beutezug. Sie plant einen neuen Wahlrechtsraub.

(Frank-Thorsten Schira CDU: Sie sind noch nach altem Recht in die Bürgerschaft gekommen!)

Das Opfer dieses Überfalls werden alle Hamburger sein. Uns soll ein in Deutschland einmaliger Schatz geraubt werden. Niemals zuvor in der deutschen Geschichte hat sich ein Volk ein eigenes Wahlrecht gegeben. Niemals

wurde dieses so wichtige Recht durch einen Volksentscheid beschlossen.

Nun wollen Sie von der CDU dieses Wahlrecht bis auf eine dünne Fassade aushöhlen. Der zentrale Inhalt, die individuelle Wahl der Einzelbewerber, soll uns Hamburgern genommen werden. Sie von der Union mögen es ja clever finden, so zu tun, als würden die Menschen ihr Recht behalten. Herr Reinert, Sie haben gesagt, es würde sich nur um geringe Änderungen handeln. Das ist nicht clever, das ist töricht, denn mit dieser Äußerung zeigen Sie, dass Sie die Wähler nicht für voll nehmen.

(Beifall bei der GAL und vereinzelt bei der SPD)

Sie fördern damit Politikverdrossenheit. Ich empfehle Ihnen, die Menschen nicht für dumm zu verkaufen. Sagen Sie ihnen die Wahrheit. Die Wahrheit ist, dass die Änderungen nicht gering sind, sondern einschneidend. Sie wollen verhindern, dass es Abweichungen von der Parteiliste gibt, Sie wollen den Wählern die Möglichkeit rauben, andere Bewerber nach vorne zu bringen. Sie wollen, dass jedes Votum für eine Partei umgewertet wird in ein Votum einer Parteiliste. Das ist Unfug, eine Parteistimme verzichtet ja gerade auf die Auswahlmöglichkeit.

(Wolfgang Beuß CDU: Das ist doch ein Blödsinn, den er da erzählt!)

Einem solchen Wähler ist es gleich, ob Kandidat A oder B ins Parlament zieht. Einer solchen Stimme die Aussage zuzuschreiben, dass diese Wähler eine Stimme für jeden einzelnen der Listenplätze abgeben wollten, ist Manipulation.

(Beifall bei der GAL und bei Hans-Christoff Dees SPD)

Meine Damen und Herren! Im Gegensatz zu vielen von Ihnen war ich nie in einem Studentenparlament. Aber das ist ungefähr das Niveau, das Ihre Junge Union dort praktiziert, aber doch nicht das einer ausgewachsenen Regierungspartei in einem Landesparlament.

(Beifall bei der GAL)

Wir sollten doch wissen, wer uns hier legitimiert. Die alles entscheidende Frage ist doch, wer uns das Recht gibt, hier zu stehen und Entscheidungen zu treffen.

Liegt dieses Recht beim Volk oder liegt dieses Recht bei den Parteien? Entscheiden darüber die Wählerinnen oder entscheidet darüber eine Handvoll Funktionäre?

In der Verfassung steht nicht, alle Staatsgewalt geht von den Parteien aus, sondern dort steht:

"Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus."

Und das Volk hat dieses neue Wahlrecht entschieden. Die Ursache dafür war doch nicht Zufriedenheit mit Politik und Politikern in Hamburg, sondern eine breite Unzufriedenheit. Deshalb ist ein solches Wahlrecht kein ideologisches Konstrukt, sondern ein Akt politischer Klugheit.

Herr von Beust, der Sie nicht einmal hier sind: Sie wollen der Bürgermeister aller Hamburger sein? Wenn dieser Anspruch auch nur einen winzigen Rest Glaubwürdigkeit hat, dann stoppen Sie diese Pläne,

(Beifall bei der GAL)

denn sonst sind Sie nicht der Bürgermeister aller Hamburger, dann sind Sie nur der Bürgermeister einiger Parteifunktionäre.

(Beifall bei der GAL und vereinzelt bei der SPD)

Der Wahlrechtraub von 1906, den ich eingangs erwähnte, hat übrigens auch nur für begrenzte Zeit geholfen, meine Damen und Herren von der Union. Die Freiheit findet immer ihren Weg und hat 1919 den Hamburgern und damals auch erstmalig den Hamburgerinnen das Wahlrecht gebracht. Sie von der CDU sollten endlich aus der Geschichte lernen und den Volkswillen respektieren. – Danke.

(Beifall bei der GAL und der SPD – Wolfgang Beuß CDU: Sind Sie theatralisch!)

Das Wort bekommt der Abgeordnete Neumann.

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen, meine Herren! Nachdem ich jetzt so häufig angesprochen wurde und der Kollege Schira mir hoffentlich auch seine Aufmerksamkeit schenkt, wenn er mich schon bittet, an das Rednerpult zu treten, kann ich nun doch nicht widerstehen. Die Frage, wie viele Hinweise wir Landespolitiker für die Bundespolitik geben, die Entscheidung wird dann doch im Bundestag gefällt. Dies gilt ähnlich für uns in der Bürgerschaft. Da mögen manche Bundespolitiker manchem Bundestagsabgeordneten Hinweise und Tipps geben, die Entscheidung, wie Sozialdemokraten sich in der Bürgerschaft entscheiden, trifft diese Fraktion und niemand anders.

(Beifall bei der SPD)

Ich möchte das aufnehmen, wovon Sie, Herr Schira, gesprochen haben. Sie sprachen von der Verantwortung der 121 Abgeordneten zu handeln. Wir haben mit der Initiative gemeinsam im Verfassungsausschuss ein klares Verfahren vereinbart – wir wissen, dass das Gesetz aufgrund der Unterschriftensammlungen eine lange Laufzeit hat und mittlerweile schon fast fünf Jahre alt ist –, all diese Dinge zu diskutieren, beispielsweise die Frage, die Sie, Herr Reinert, als verfassungswidrig oder verfassungsfragwürdig bezeichnet haben. Nur, Sie haben sich von diesem vereinbarten Verfahren verabschiedet. Sie haben gesagt, wir wollen es nicht im Konsens machen. Sie wollen mit Ihrer Entscheidung, mit Ihrer Mehrheit, sagen, was Sie glauben, das ist richtig, was andere glauben, das ist falsch. Da liegt unser Problem.

(Beifall bei der SPD)

Wir waren uns immer einig – das wird auch wieder ein Thema sein –, dass beispielsweise Spielregeln im Parlament im breiten Konsens geregelt werden müssen. Das kann man nicht immer, weil man nicht immer alle unter einen Hut bekommen kann oder auch nicht alle immer unter einen Hut wollen. Das ist auch in Ordnung. Aber dass Sie das jetzt mit einer Mehrheit von drei Stimmen durchpeitschen wollen, das verlässt diesen gemeinsamen Konsens und ist ihm auch nicht zuträglich. Das öffnet dann auch den Mehrheitsspielen Tür und Tor. Warten wir ab, denn es gibt die Vier-Augen-Gespräche in anderer Richtung, Herr Reinert. Mir sagen auch einige Kollegen Ihrer Fraktion, dass sie sich sehr unwohl dabei fühlen, was Ihre fraktionsführende Parteiführung heute und gestern beschlossen hat.

Sie sagen, das sei nur eine maßvolle Korrektur des Wahlrechts. Ich will mich jetzt gar nicht auf die Definition des Wortes "maßvoll" einlassen, ich will nur deutlich sagen, dass das Volk entschieden hat. Sie wissen selbst, dass ich mit der Entscheidung des Volkes auch nicht zufrieden gewesen bin und im Wahlkampf für eine andere Position gestritten habe. Aber Sie müssen akzeptieren – so wie wir Sozialdemokraten auch schwerlich akzeptieren müssen, dass Herr von Beust nun einmal vom Volk gewählt worden ist, obwohl wir es für falsch halten –, dass das Volk ein anderes Wahlrecht beschlossen hat und nicht das, was Sie wollen.

(Beifall bei der SPD und vereinzelt bei der GAL)

Ich möchte zum Abschluss keine unnötige Schärfe hineinbringen,

(Inge Ehlers CDU: Wollen wir jetzt mal nach Berlin gucken!)

aber Herr Reinert, Sie haben bereits mehrfach in der Öffentlichkeit gesagt, dass dieses Wahlrecht verändert werden müsse, um das Parlament handlungsfähig und arbeitsfähig zu halten; es könne nicht sein, dass das Volk einfach "von hinten auf der Liste welche nach vorne" wähle. Da frage ich mich, wie Sie Ihre Listen zusammenstellen. Was halten Sie eigentlich von den Kandidaten, die Ihre Partei aufstellt,

(Beifall bei der SPD und der GAL)

wenn Sie öffentlich erklären, dass Sie den Kandidaten ab Platz 70, ab Platz 80, ab Platz 90 nicht zutrauen, im Parlament zu sitzen und ordentliche Arbeit zu machen? Ich gehe davon aus, dass Sie aus den Erfahrungen dieser Legislaturperiode gelernt haben und beim nächsten Mal bessere Kandidaten aufstellen. – Vielen Dank.

(Anhaltender Beifall bei der SPD und der GAL)

Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Jäger.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Opposition entfacht einen Sturm im Wasserglas, der wie fast immer bei Ihnen mit der Realität nicht das Geringste zu tun hat.

(Beifall bei der CDU)

Was die CDU will, ist eine maßvolle Korrektur,