Protocol of the Session on October 11, 2016

Sie sollten schon allein deswegen, dass Sie nicht ständig neue Mitarbeiter suchen müssen, Rahmenbedingungen schaffen, die so sind, dass Menschen in diesen Berufen arbeiten wollen. Das Sozial- und Gesundheitswesen handelt nicht mit Waren, die auf einem Markt verhökert werden. Es geht um Menschen und um deren elementarste Bedürfnisse, und die sollten uns – und auch Ihnen, Herr Minister – mehr wert sein.

(Beifall bei der LINKEN)

Vielen Dank, Frau Schott. – Als Nächster hat der Abg. René Rock für die Freien Demokraten das Wort. Bitte sehr.

Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren! Frau Schott, ich habe häufig das Privileg, nach Ihnen reden zu dürfen. Das kostet mich stets ein bisschen Redezeit, weil Sie mich immer wieder dazu bringen, den einen oder anderen Satz zu sagen, den ich eigentlich gar nicht sagen wollte. Es geht aber einfach nicht anders.

Wir haben 17 Wirtschaftszweige, die vom Fachkräftemangel betroffen sind, und Sie haben sich in Ihrer Rede an einem einzigen Zweig festgebissen. Damit haben Sie das Thema ein bisschen verfehlt. Es war zwar nicht alles falsch, was Sie gesagt haben, aber Sie sollten schon versuchen, bei Ihrer Rede die Gesamtheit im Blick zu behalten.

Bezüglich der Einleitung zu Ihrem Redebeitrag kann ich nur sagen: Ich frage mich, in welchem Land Sie leben. Das kann nicht dasselbe Land sein, in dem ich lebe.

(Beifall bei der FDP)

Ein Land, in dem die Leute morgens aufstehen und hart arbeiten, finde ich gut. Das machen die meisten Leute, und keiner schämt sich dafür. Das ist nun einmal so. Diese Leute erwirtschaften ein Bruttoinlandsprodukt, das es ermöglicht, dass wir unseren Staat aufrechterhalten und uns ein Maß an sozialer Gerechtigkeit leisten können, das vorbildlich ist.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU)

Das lasse ich mir von Ihnen nicht schlechtreden. Ich erinnere Sie daran: Die wenigen Länder, in denen es noch Sozialismus gibt – schauen Sie beispielsweise nach Venezuela –, sind gescheiterte Staaten, in denen nichts mehr geht, wo es den Menschen so schlecht geht, wie wir uns das überhaupt nicht vorstellen können. Darum bitte ich Sie,

Frau Schott: Mäßigen Sie sich bei den Eingangsstatements Ihrer Reden, und erkennen Sie endlich an, dass wir in einem gerechten Staat leben, in einem gerechten Land, an dem Politiker und die Gesellschaft 70 Jahre lang gearbeitet haben. Bei uns ist wirklich nicht alles falsch und schlecht.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zurufe von der LINKEN)

Das musste ich hier einmal loswerden; denn Sie haben Ihre Rede mit Einlassungen begonnen, dass es einem an diesem Pult ein bisschen schwindlig werden kann.

Jetzt muss ich mich der Landesregierung, speziell Herrn Minister Grüttner, zuwenden. Lieber Herr Grüttner, Sie haben in Ihrer Rede Maßnahme an Maßnahme an Maßnahme gereiht – wie in einer Excel-Tabelle.

Mir ist noch nicht ganz klar, wie wir mit dem schwierigen Problem Fachkräftemangel – das Sie hier zu Recht aufgezeigt haben –, der vor allem eine Folge der demografischen Entwicklung ist, umgehen sollen. Das haben Sie hier nicht wirklich aufgezeigt, sondern Sie haben uns nur, bis hinunter zur Arbeitsgenehmigung und zum Bewerbungsschreiben, über einzelne Programme aufgeklärt, die es im Lande Hessen gibt und die es zum Teil auch schon vor dieser Regierung gab. Aber Sie haben bei dieser Frage einen roten Faden vermissen lassen. Das wundert mich auch nicht.

(Beifall bei der FDP)

Sie haben sich anscheinend Ihren Koalitionsvertrag genommen, ihn am Montagabend durchgeblättert und sich gefragt: Was soll das Thema der Regierungserklärung sein? Dann haben Sie den Finger auf eine Stelle gelegt, und es kam „Fachkräftemangel“ heraus. Dann wurden Sie beauftragt: Machen Sie eine Excel-Tabelle, die alles enthält, was wir in den letzten 20 Jahren gemacht haben, und tragen Sie das dann hier vor. – Herr Grüttner, tut mir leid, aber das ist eindeutig unter Ihrem Niveau.

(Beifall bei der FDP)

Ich sage Ihnen jetzt auch, warum Sie und nicht Herr AlWazir das vorgetragen haben. Sie können das Wort „Fachkräftemangel“ auf Seite 46 des Koalitionsvertrags finden. Es taucht aber im Abschnitt „Wirtschaft“ auf. In der Koalition haben Sie das Thema Fachkräftemangel in dem Bereich Wirtschaft verortet. Aber darüber konnte Herr AlWazir natürlich nicht reden.

(Zurufe von der CDU und dem BÜNDNIS/90 DIE GRÜNEN: Doch, hat er doch!)

Warum konnte Herr Al-Wazir darüber nicht reden? Wir haben eigentlich keinen Wirtschaftsminister; er nennt sich nur so. Warum konnte er an dieser Stelle nicht reden? Ganz einfach: Er hat am 20.11.2015 in der „FAZ“ gesagt, die Fachkräftesicherung sei keine staatliche Aufgabe. Zu Deutsch: Ich bin nicht zuständig, und ich muss mich auch nicht darum kümmern. – Dann kann er hier natürlich auch nicht zu diesem Thema reden.

(Beifall bei der FDP – Zuruf des Ministers Tarek Al- Wazir)

Herr Minister, so ist das nun einmal, wenn man, wie die FDP-Fraktion, eine gute Wiedervorlage hat.

Ich will jetzt trotzdem zu diesem aus meiner Sicht wirklich wichtigen Thema kommen. Es ist nämlich ein existenzielles Thema, und das nicht erst seit der heutigen Debatte im

Hessischen Landtag. Warum nicht? Wir diskutieren in der Politik seit 20 Jahren intensiv über das Thema demografischer Wandel. Es sind viele kluge Reden zu diesem Thema gehalten worden, wahrscheinlich auch dazu, welche Auswirkungen der demografische Wandel auf den Arbeitsmarkt hat. Ich glaube, das ist nichts Neues.

Wir wissen natürlich auch, dass man das nicht mit einem kleinen Ausbildungsprogramm in Hessen beheben kann. Ich würde dem Kollegen Bocklet – er ist nicht mehr da – an der Stelle Recht geben.

(Minister Tarek Al-Wazir: Doch, da ist er! Neben der Kollegin Wiesmann!)

Okay, Sie haben die Fraktion gewechselt.

(Minister Tarek Al-Wazir: Nein! – Heiterkeit bei der SPD und der FDP)

Das ist doch für die GRÜNEN – oder für die CDU – jetzt normal. – Herr Bocklet, auf jeden Fall haben Sie an dieser Stelle recht. Ich möchte es noch einmal genau sagen, weil Sie an dieser Stelle recht haben: Es geht hier um viel Bundespolitik. Es ist zu viel Bundespolitik, um sich überhaupt mit diesem Thema auseinandersetzen zu können.

Aber – jetzt komme ich wieder auf diese Landesregierung zurück – es gab in der hessischen Landespolitik Zeiten, da wusste man in Berlin noch, wo Hessen liegt. Da wussten wir, wer Ministerpräsident ist, und da wussten wir, dass der Ministerpräsident, wenn er nach Berlin fährt, etwas dabeihat und auch einmal auf den Tisch haut und sagt: In Deutschland gibt es ein Problem, und dafür müssen wir eine Lösung finden. – Herr Bocklet, die hessische Landespolitik hatte in Berlin eine Stimme, und man konnte dort diese Themen, die zu Recht lokalisiert worden sind, aufs Tablett heben.

Das eine oder andere Problem wurde sogar gelöst – unter rot-grüner Mitwirkung, wie ich zugeben muss. Die HartzGesetze sind schließlich nicht unbedingt von CDU und FDP auf den Weg gebracht worden. Im Bundesrat haben sie es zwar mitgetragen, aber im Bundestag ist das unter Ihrer Verantwortung erfolgt. Es war Ihre gute Tat, zu der Sie sich heute leider nicht mehr bekennen.

(Beifall bei der FDP)

Jetzt kommen wir zu den Maßnahmen, die wichtig wären. Wir führen nämlich keine Debatte mehr darüber – ich glaube, das ist jedem klar –, dass sich die Folgen der demografischen Entwicklung irgendwann einstellen. Sie sind da. Die demografische Entwicklung trifft den Arbeitsmarkt bereits. 2020 werden 155.000 Arbeitskräfte den Arbeitsmarkt verlassen.

(Zurufe von der Regierungsbank – Glockenzeichen des Präsidenten)

Habe ich etwas Falsches gesagt? – Okay, das war nicht wegen mir.

(Heiterkeit – Günter Rudolph (SPD): Nein, die Regierung hat gestört!)

Das ist manchmal so. – Von diesen 155.000 Kräften, die den Arbeitsmarkt verlassen, sind ein Drittel Akademiker und zwei Drittel Menschen, die in der Regel im dualen System zu Facharbeitern ausgebildet wurden. 17 von 25 Wirtschaftszweigen sind davon signifikant betroffen. Das Wachstum, das wir brauchen, damit die künftigen Lasten dieser Gesellschaft getragen werden können – dazu gehö

ren z. B. die Rentenlasten, die auf uns zukommen, und die Weiterfinanzierung unseres Sozialsystems –, können wir nur sicherstellen, wenn wir auch weiterhin ausreichend Fachkräfte zur Verfügung haben.

Da ist das erste große Thema – keiner meiner Vorredner hat es ausgelassen – natürlich die Frage, wie die Frauen stärker in das Arbeitsleben integriert werden können. Die oberste Frage dabei – das ist natürlich ganz klar – ist die Vereinbarkeit von Familie und Beruf.

Ich muss sagen, da könnte die Hessische Landesregierung aktiver sein, nicht nur, indem sie fragt: „Wie können wir das System ausbauen?“ – z. B. mit neuen Maßnahmen an Schulen, okay –, sondern auch, indem sie fragt: „Wie können wir die Kommunen in die Lage versetzen, ihre Angebote besser auszuweiten?“ Wir merken einfach – ich glaube, das ist fraktionsübergreifend –, dass die Kommunen alles finanziell Mögliche versuchen, um der Bevölkerung ein ausreichendes Angebot zur Verfügung zu stellen. Sie können das Angebot aber nicht in dem Maße finanzieren, wie sie es gern würden. Jetzt kann man sich streiten: Sind die 400 Millionen € genug, oder ist das nicht genug? Sollen es 450 Millionen € sein?

Wenn wir uns in der kommunalen Landschaft umhören, in der sich die Träger der Maßnahmen finden, die die Vereinbarkeit von Familie und Beruf fördern sollen, hören wir unisono – der eine oder andere hier wird Stadtverordneter sein; ich glaube, man kann es nachvollziehen –, dass sie mit dieser finanziellen Aufgabe momentan am Anschlag sind und sich nicht in der Lage sehen, weitere signifikante Angebotsverbesserungen hinzubekommen.

(Minister Stefan Grüttner: Vorsichtig, vorsichtig!)

Darum sollte man sich auch überlegen, wie man die Kommunen in die Lage versetzen kann, mehr zu tun. Gesamtwirtschaftlich ist es nämlich so – das habe ich an der Stelle schon mehrfach gesagt; ich werde es aber so lange sagen, bis es vielleicht einmal einer aus einer anderen Fraktion wiederholt –: Nicht die Familien sind diejenigen, die die Kommunen und den Staat finanziell an den Rand ihrer Leistungsfähigkeit bringen.

Die Familien, in denen neben dem Mann auch die Frau arbeitet – oder eben der Mann, das Modell gibt es ebenfalls; jedenfalls die Familien, in denen beide arbeiten –, sind diejenigen, die den Staat finanzieren. Ein weiteres Mitglied der Familie, das arbeitet, zahlt nämlich Steuern und Sozialabgaben, die sonst nicht gezahlt werden würden, und es gibt keinen großen Bruch in ihrer oder seiner Erwerbsbiografie, der vielleicht dazu führen würde, dass sie oder er mit der Arbeit nicht mehr so viel Wertschöpfung erzeugen kann.

Diesen Familien, die leistungsbereit sind und das alles schultern – die das Rückgrat der Gesellschaft sind –, jetzt vorzuhalten: „Da deine Frau jetzt auch noch arbeiten geht, bist du derjenige, der den Staat überfordert“, ist eine total falsche Botschaft und ein Stück weit auch eine Unverschämtheit diesen Menschen gegenüber, die sich so für unseren Staat einsetzen.

(Beifall bei der FDP)

Darum bitte ich Sie, davon auszugehen – auch wenn Sie in den Debatten vor Ort sind –: Es ist einfach eine Tatsache, dass die Familien, in denen beide arbeiten, diejenigen sind, die etwas für diese Gesellschaft tun. Sie sind diejenigen, die diese Gesellschaft ausbeutet. Sie haben, wenn sie zwei

oder drei Kinder haben, genug Probleme, denen eine gute Ausbildung zu finanzieren. Darum ist es eine absolut wichtige Aufgabe, dass die Kommunen, die diese Leistungen erbringen, in die Lage versetzt werden, diese Angebote zur Verfügung zu stellen.

Ich will es noch einmal für die sagen, die vielleicht nicht immer zuhören: Wenn die Frau – oder der Mann – zusätzlich arbeiten gehen kann, zahlt sie Einkommensteuer und Sozialbeiträge. Das sind Einnahmen, die es sonst nicht gäbe. Das deutsche System der Steuerverteilung ist aber nun einmal so, dass von dem Aufkommen aus der Einkommensteuer nur 10 % bei der Kommune verbleiben, während 90 % zum Land und zum Bund gehen. Den großen Profit der Maßnahme vor Ort haben also Land und Bund, aber die Leistung zu erbringen hat die Kommune, die nur 10 % des Vorteils hat.

Darum hat man vor Ort oft das Gefühl, dass das ein Zuschussgeschäft ist. Gesamtstaatlich gesehen ist es das aber auf keinen Fall, und darum ist es von der Argumentation her einfach nicht in Ordnung, wenn man den Familien vorhält: Ihr seid daran schuld, dass der Haushalt nicht ausgeglichen ist. Wir müssen jetzt die Kindergartengebühren verdoppeln oder verdreifachen, und das ist eine Leistung, die nur euch zugutekommt. – Diese Diskussion dürfen wir nicht aus den Augen verlieren, wenn wir wollen, dass mehr Menschen dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen und ihre Arbeitsleistung erbringen können.