Protocol of the Session on September 15, 2016

Ich habe zugehört. Ich habe ziemlich genau zugehört.

Schauen Sie sich z. B. einmal die Verhältnisse in der Stadt Gießen an. Fragen Sie nach, wie dort die sehr differenzierten Staffeltarife in Anspruch genommen werden und was das für Familien sind. Da werden Sie, was das angeht, Ihr blaues Wunder erleben.

Zweitens. Sie sind der Auffassung, dass man das mit Staffelgebühren alles wunderbar regeln kann. Auch ich bin der Auffassung, dass man es besser regeln kann. Ich bin auch der Auffassung, dass die gesetzgeberische Kompetenz des Landes, was die Höhe der Kindertagesstättenbeiträge angeht, nicht ausgereizt ist. Wir haben das vor Kurzem im Zusammenhang mit einer mündlichen Frage miteinander erörtert.

Herr Merz, Ihre zwei Minuten Redezeit sind abgelaufen.

Ja. – Stellen Sie sich hierhin und sagen, ob Sie bereit sind, über eine Regelung des Landes hinsichtlich der Deckelung der Höhe der Kindertagesstättenbeiträge und hinsichtlich einer Richtlinie für eine Gebührenstaffelung zu diskutieren, die dem entspricht, was Sie angeblich wollen.

(Beifall des Abg. Willi van Ooyen (DIE LINKE))

Herr Merz, danke. – Frau Wiesmann, Sie haben zwei Minuten Gelegenheit zur Antwort.

Lieber Herr Merz, wir haben hier über vieles zu entscheiden, über das wir nicht aufgrund unserer unmittelbaren Lebensperspektive entscheiden können. Deshalb nehme ich für mich in Anspruch, hier nach bestem Wissen meinen Beitrag zu leisten. Ich möchte mich nicht weiter zu Ihren Insinuierungen äußern, aufgrund welcher Erfahrungen mein Weltbild zustande kommt.

Ich komme jetzt zu Ihrer Sachfrage. Das habe ich extra in meiner Rede gesagt. Die Frage nach der sozialen Stellung der Familie stellt sich immer. Es stellt sich immer die Frage, ob die Voraussetzungen gut genug sind, damit die Eltern ihren Auftrag und ihre Aufgaben erfüllen können. Das gilt z. B. hinsichtlich ihrer Kinder oder anderer Familienangehöriger.

Darauf gibt es eine Fülle verschiedener möglicher Antworten. Wir können über die verschiedenen Antworten gerne diskutieren. Das ist aber nicht das Thema. Sie haben einen konkreten Vorschlag gemacht. Ich sage: Unserer Ansicht nach trägt Ihr konkreter Vorschlag zur Lösung des Problems nicht viel bei. – Das habe ich versucht Ihnen auseinanderzusetzen.

Ich habe mich sehr präzise auf Ihren Gesetzentwurf und das, was Sie vorschlagen, bezogen. Sie haben dagegen ganz weite Perspektiven aufgemacht. Sie haben gesagt: Eigentlich geht es uns nicht um dieses eine Kindergartenjahr. Wir wollen eine komplette Freistellung. – Dann machen Sie das doch mit der Linkspartei. Dann gibt es da wenigstens klare Verhältnisse.

(Janine Wissler (DIE LINKE): Das sagen wir die ganze Zeit!)

Das kann ich auch verstehen.

Als Letztes möchte ich sagen, dass Sie immer nach dem Land rufen, um eine allgemeine Regelung für ein Thema zu verlangen, das aufgrund unterschiedlicher Zuständigkeiten heterogen geregelt wird. Dem können wir uns nicht anschließen.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Kommunen vor Ort wissen am besten, wie sie ihrem Auftrag, Kinderbetreuung bereitzustellen – es gibt Rechtsansprüche darauf –, gerecht werden. Die einen können sich das so vorstellen und andere anders. Wir gehen regelmäßig zur Wahl, und auch Sie müssen doch Ihre Politik vor Ort in Gießen immer wieder zur Wahl stellen. Wenn Sie es gut machen, werden Sie wiedergewählt, wenn nicht, kommen andere zum Zuge.

(Judith Lannert (CDU): Ganz genau!)

Ich halte das für vollkommen normal. Dieses Stück Wettbewerb tut uns auch in unserem Lande sehr gut.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Danke, Frau Wiesmann. – Für die FDP-Fraktion erteile ich Herrn Rock das Wort.

Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren! Wir diskutieren heute den Gesetzentwurf der SPD, um das zweite Kindergartenjahr im begrenzten Umfang beitragsfrei zu stellen. Diese Umsetzungsdiskussion konnte ich nicht zwingend nachvollziehen, weil die SPD sich, wenn ich das richtig erkannt habe, mehr oder minder an dem Vorgehen einer ehemaligen CDU-Mehrheit orientiert. Wenn man das einmal selbst gemacht und abgefeiert hat, kann man technisch nichts dagegen haben. Ich weiß nicht, ob die SPD da

mals sehr kritisch war, als das so gemacht wurde. Ich kann mich daran nicht erinnern. Herr Merz weiß sicherlich noch besser, ob er das damals gelobt hat oder nicht.

(Gerhard Merz (SPD): Ja, ja!)

Mir geht es aber mehr um die grundsätzlichen Fragen, die angesprochen worden sind. Ich stelle eine Aussage vornan, die Sie immer von mir hören werden: Mich ärgert es ungemein, dass die Betreuung und Bildung von Kindern als Belastung empfunden wird und dass das in den Kommunen auch immer wieder so diskutiert wird.

(Beifall bei der FDP – Präsident Norbert Kartmann übernimmt den Vorsitz.)

„Die Kommunen werden durch Kinder und Familien mit Kindern belastet, die Familien mit Kindern sind eine Belastung für die Kommunen“ – ich kann das nicht mehr hören. Dadurch, dass Kinder betreut werden, können die Eltern arbeiten gehen. Wer profitiert davon? Das ist niemand anders als der Staat. Wenn es keine Betreuung gibt, kann einer der Ehepartner, der vielleicht 30.000 € brutto verdient und in die Sozialversicherung einbezahlt, einfach nicht arbeiten – er bleibt zu Hause.

(Beifall bei der FDP)

Es ist nicht der Staat, der bitterlich dafür bluten muss, weil sich eine Familie selbst verwirklichen will – oder vielleicht muss. Vielmehr ist es eine Leistung, die derjenige, der arbeitet, über seine Steuern und Sozialabgaben erbringt. Diese Einnahmen hätte der Staat sonst gar nicht.

(Beifall bei der FDP)

Das Problem ist, dass die Kommune nur 10 % der Einkommensteuer behalten darf und der Rest der Einkommensteuer zwischen Land und Bund aufgeteilt wird.

(Beifall bei der FDP)

Derjenige, der davon profitiert, dass jemand arbeiten geht, ist nämlich nicht die Kommune – jedenfalls nicht maßgeblich –, sondern das sind die, die das Geld dafür einstecken, dass diese Leistung von der Familie erbracht wird. Meistens ist es die Frau, die zusätzlich arbeiten geht und sich am Rest des Tages noch um das Kind kümmert. Die Leistungen dieser Familien, die neben der Arbeit versuchen, ihre Kinder gut zu erziehen, sollte man ihnen nicht vorwerfen, indem man sagt: „Der Staat ist hier ganz großzügig und macht euch das alles möglich“. Nein, diese Familien bezahlen das auch über ihre Einkommensteuer und ihre Sozialabgaben. Das müssen wir uns bei dieser Debatte einmal deutlich vor Augen führen, weil das Verhalten gegenüber diesen Familien nicht anständig ist. Sie leisten unglaublich viel für unsere Gesellschaft, ziehen Kinder groß und beteiligen sich an der Wertschöpfung.

(Beifall bei der FDP)

Darum möchte ich gern einen anderen Tenor in die Debatte bringen und stelle das immer voran.

Ich möchte auch deutlich machen: Für die FDP ist dieser Bereich sehr wichtig. Der erste Investitionspunkt wäre für uns die Qualität der frühkindlichen Bildungseinrichtungen. Dort muss Chancengerechtigkeit gefördert werden. Wir müssen da mehr Geld hineingeben. Frau Wiesmann, ich habe gehört, dass Sie gesagt haben, konservative Regierungen hätten immer viel für die Qualität getan. Ich habe einmal im Koalitionsvertrag dieser Landesregierung geblättert. Ich habe kein großes Investitionsprojekt von mehreren

Millionen Euro gefunden, mit dem man etwas für die Qualität tun will.

(Minister Stefan Grüttner: 460 Millionen €!)

Nicht zusätzlich. Wir haben die Evaluierung des KiföG. Frau Kollegin Wiesmann, ich bin einmal gespannt, ob Sie noch etwas nachlegen. Da können Sie einmal zeigen, ob Sie das wollen oder nicht. Wir werden diese Debatte wieder führen.

Die oberste Priorität muss natürlich sein, dass die Familien einen Platz bekommen. Dieses Land hat da zusammen mit den Kommunen unglaublich viel geleistet. Es ist wirklich unglaublich, was im U-3-Bereich an Infrastruktur aufgebaut worden ist.

(Beifall bei der FDP)

Es ist unglaublich, was im Vergleich zu der Zeit von vor 10, 15 Jahren aufgebaut worden ist. Natürlich braucht man den Platz. Wenn man den Platz hat, will man auch eine tolle Qualität. Man hat ein, zwei oder drei Kinder, man fokussiert sich darauf, und dann will man auch eine gute Qualität.

Das ist für uns ein wichtiger Schwerpunkt; denn hier geht es um Chancengerechtigkeit. Wir haben die Qualifizierte Schulvorbereitung (QSV) evaluiert. Es geht da um den Übergang vom Kindergarten in die Grundschule. Was wir an Investitionen dort hineingegeben haben, ist nicht wenig Geld, aber auch nicht enorm viel. Bei der Auswertung hat man gesehen, dass gerade durch gute Qualität für schwächere Kindern Vorteile entstanden sind. So etwas muss hessenweit ausgedehnt werden. Das sind Fragen, denen wir uns stellen müssen. Da müssen wir etwas tun.

Warum hat sich meine Fraktion jetzt doch dafür entschieden, den SPD-Gesetzentwurf zu unterstützen? Weil es natürlich auch immer um den Punkt geht: Kinder müssen in eine Kindertagesstätte gehen. Da mag man Statistiken kennen oder auch nicht. Frau Wiesmann, wenn Sie sagen, die Statistik sei nicht aussagekräftig genug – die Sozialstatistik sagt, einer der größten Armutsgründe seien Kinder. Wenn Sie sich die Statistik anschauen, die nicht nur auf Kindertagesstätten abgestimmt ist, stellen Sie fest: Einer der Hauptgründe für Armut in Deutschland sind Kinder. Das Problem ist sicher nicht die Ein-Kind-Familie. Aber wenn eine Familie mehrere Kinder hat – oftmals ist es so, dass man erst eines hat und dann gleich zwei oder drei; vielleicht ist das auch meine selektive Wahrnehmung –, dann muss man nicht nur dreimal den Kindergarten oder U-3-, Kindergarten- und Grundschulgebühren zahlen. Da wirkt dann auch nicht zwingend irgendein Geschwisterbonus. Man braucht dann zusätzlich ein größeres Auto, eine größere Wohnung, und man fährt vielleicht nur noch in Campingurlaub, weil man sich einen anderen Urlaub nicht mehr leisten kann. Wer sich bereit erklärt, viele Kinder in die Welt zu setzen – diese Menschen haben meinen größten Respekt –, den sollten wir unterstützen, wenn es die Möglichkeit gibt.

Der Gesetzentwurf der SPD riecht nicht ganz so nach Freibier wie das, was wir bei den LINKEN gelesen haben. Er orientiert sich vielmehr an dem, was hier im Hessischen Landtag schon einmal auf den Weg gebracht worden ist. Es ist ein richtiger Schritt in die richtige Richtung. Wir haben uns dazu entschieden, das mitzutragen, auch wenn es nicht unerheblich viel Geld kostet.

(Beifall bei der FDP und des Abg. Gerhard Merz (SPD))

Noch einmal zu der Frage der frühkindlichen Bildung: Viele Kindertagesstätten in unseren Kommunen sind gut aufgestellt. Es gibt dort motivierte Eltern und Erzieher.

Aber es gibt auch Kindertagesstätten an sozialen Brennpunkten. Ich war in einer Kindertagesstätte im Zentrum von Offenbach an der Hauptstraße – Minister Grüttner kennt die Stadt Offenbach. Dort gibt es einen Migrantenanteil in Höhe von 100 %. Ich bin morgens dorthin gekommen und mittags gegangen. Es kam mir eine Frau entgegen, die ihre zwei Kinder dorthin gebracht hat. Ich habe dann gedacht: Wenn ich in meinem Kindergarten erst um 9:05 Uhr ankomme, muss ich erst einmal klingeln und bekomme dann einen Tadel, wenn ich mein Kind zu spät abgebe. – Daraufhin sagte mir die Leiterin, das könne man in ihrer Kindertagesstätte nicht durchsetzen; die Kinder würden dann gebracht, wenn es passt. Als ich daraufhin fragte, wie sie denn ihre Konzepte darauf abgestimmt habe, wurde mir geantwortet: „Wir müssen uns danach richten, wie die Kinder gebracht werden – wir können daran nichts ändern.“

Ich muss deutlich machen – das weiß auch jeder, der sich damit beschäftigt –: Wir haben einzelne Schritte gemacht, gerade mit der Integrationspauschale. Aber das ist längst nicht genug, um der Chancengerechtigkeit Rechnung zu tragen. Darum kann man an der Stelle nicht intensiv genug Politik machen. Hier ist eine Leerstelle im Koalitionsvertrag – so empfinde ich es jedenfalls, wenn ich ihn lese. Darum ist es richtig, dass wir als Opposition die Landesregierung immer wieder durch Gesetzentwürfe oder Anträge darauf aufmerksam machen, dass wir hier Handlungsbedarf sehen.

(Beifall bei der FDP)

Ich weiß, dass es einen Verteilungswettkampf zwischen den verschiedenen Ministerien und den verschiedenen Aufgaben gibt. Mir ist auch klar, dass das Sozialministerium enorm viele zusätzliche Aufgaben hat. Wenn ich mir den Haushalt des Sozialministeriums anschaue: Vor vier oder fünf Jahren waren das noch 500 Millionen €, würde ich schätzen. Mir ist klar, dass es nicht einfach ist, Mittel für all das bereitzustellen, was da jetzt passiert. Aber Sie sind im Land Hessen in einer guten finanziellen Situation, wie sie sich andere Regierungen gewünscht hätten. Dann sollten Sie die Chancengerechtigkeit bei der Frage der frühkindlichen Bildung nicht vergessen. Denken Sie an die Familien und die Kinder in unserem Land. Dafür kann man nicht genug tun. – Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der SPD)